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Die besten Gäste kommen spät
„Ein Mann nimmt sich was er will“, hatte Mutter Dobra zu sagen gepflegt. „Erst nimmt er dich. Und dann nimmst du ihn aus.“
Janissa lächelte schief und pinselte weißen Puder auf ihre faltigen Wangen.
Inzwischen verweste Mutter Dobra in einem Massengrab vor den Toren der Stadt, doch an der Wahrheit ihres Spruches hatte sich nur wenig geändert. Seit jeher kamen die Männer in die Rote Henne und tauschten ihre hart verdienten Rovel gegen ein paar flüchtige Augenblicke in den Armen einer Frau. Jetzt, am Ende eines langen, schwülen Sommers, war der Andrang besonders groß.
Jeden Abend saß Janissa unten bei den anderen Mädchen und wartete auf Freier. Aber alte Huren waren keine Goldesel. Wenn doch mal ein Kerl bei ihr stehen blieb, dann meist nur, weil er zu besoffen war, um ihre Makel zu erkennen.
Trotzdem tat Janissa immer noch, was sie 30 Jahre lang getan hatte: Sie bemalte das Gesicht, bis der Spiegel ihr wieder schmeichelte, quetschte ihren in die Jahre gekommenen Körper in einen Mieder und wuchtete sich eine üppige Perücke auf den Kopf. Nun sah sie zwar immer noch alt aus, konnte aber vielleicht den ein oder anderen Säufer in ihr Bett locken.
Ein letztes Mal überprüfte sie den Sitz von Kleid und Haar, dann verließ sie die Kammer und betrat eine andere Welt.
Die Salons der Roten Henne wurden vom Schein hunderter Kerzen in ein sanftes Licht getaucht. Dünner Rauch stieg aus goldenen Schalen und betörte die Sinne mit einem Duft von Jasmin und Moschus. Die Einrichtung war geradezu opulent, mit stoffbespannten Wänden und Vorhängen aus Seide. Auf dem Marmorboden waren samtene Kissen drapiert, daneben standen elegant geformte Beistelltische voller Früchte.
Janissa legte ihren Kopf in den Nacken und blickte zur Decke. Zwischen schweren Lüstern ragten die Streben des Dachgebälks hervor und verrieten dem aufmerksamen Beobachter etwas über die bescheidenen Anfänge des Hauses. Obszöne Fratzen waren in das Holz geschnitzt, verschlungene Paare, riesige Phalli und üppige Vulven. Bilder aus einer Zeit, in der die Rote Henne noch eine Absteige für rovanische Siedler gewesen war, die zum Torfstechen nach Skedin kamen. Männer, die nach getaner Arbeit in den Sümpfen nach Entspannung suchten.
Auch Janissa war als junges Ding an diesen Ort gekommen, viele Jahre bevor aus der Grenzsiedlung eine stolze Stadt erwuchs. Als sie in jenen Tagen am Tor der Roten Henne stand, ein abgemagertes, usudarisches Waisenkind mit nichts bei sich, als das, was sie am Körper trug, hatte Mutter Dobra sie sofort unter ihre Fittiche genommen. Dobra erkannte das Potential, das in ihr schlummerte und lehrte sie, wie man Männer glücklich machte. Und wie man ihnen die Rovel aus der Tasche zog.
Überhaupt hatte Dobra ein Händchen darin, ihr Personal zu vermarkten. Ein guter Name, das war das wichtigste. So wurde aus Janissa „Djahenna“ – die Herrin der Steppe. Und als diese füllte sie zuverlässig Dobras Börse.
Nun, zwei Jahrzehnte später, war ihre Herrschaft über die Steppe nur noch eine blasse Erinnerung. Insgeheim war es Janissas Hoffnung gewesen, eines Tages selbst die Mutter der Henne zu werden, doch die Götter waren wohl anderer Meinung.
Dobras Nachfolgerin, der ehrgeizigen Mutter Mirja, war es derweil gelungen, das anrüchige Etablissement zum größten und beliebtesten Freudenhaus von Skedin zu machen. Seitdem strömten neben den üblichen Torfstechern, Fallenstellern und Kerzendrehern auch wohlhabende Kaufmänner, Schriftgelehrte und Würdenträger in das Bordell und ermöglichten Mirja ein Leben in Luxus und Wohlstand. Zahlreiche neue Mädchen waren in ihren Dienst getreten, darunter exotische Kurtisanen aus Kihito und blonde Schönheiten aus Khaddan, die sich neben den rovanischen Huren wie Halbgöttinnen ausnahmen. Die einheimischen Mädchen hatten es bei dieser Konkurrenz zunehmend schwerer, ihre Reize anzupreisen und dies galt im Besonderen für eine Usudarin, die ihre besten Tage schon lange hinter sich hatte.
„Wie schön, dass du dich zu uns bequemst“, schnauzte Mutter Mirja, als Janissa in das große, verspiegelte Vestibül trat, in dem die Mädchen für gewöhnlich die Freier begrüßten. Sie war zu spät. Erste Gäste lungerten bereits herum, tranken Wein aus gläsernen Bechern und musterten die angebotene Ware mit unverhohlener Geilheit.
„Nicht mein Fehler“, sagte sie kleinlaut und deutete auf ihre Perücke. „Die Haare hatten sich verknotet.“
„Was interessieren mich deine Haare, du hässliche Unke?“ Mirjas Miene wurde hart. „Bei aller Liebe! Noch einmal und du kannst deine Sachen packen und gucken, wo du bleibst."
„Die ist doch reif für die Würmer ...“, flüsterte Qumai, ein bildhübsches Flittchen aus Kihito, das erst vor einigen Monaten nach Skedin gekommen war. Die umstehenden Mädchen kicherten verstohlen.
Janissa überhörte den Spott. Dass einige der neuen Huren sie nicht ausstehen konnten, war ihr egal. Noch mochten diese Dinger jung und hübsch sein, doch die Arbeit im Bordell ließ Schönheit schnell vergehen. In wenigen Jahren würden sie ihr Schicksal teilen.
„Es kommt nicht wieder vor“, sagte sie kleinkaut und stellte sich zu den anderen in die Reihe.
Mirja nickte und baute sich vor den Mädchen auf. Auch sie war nicht mehr die Jüngste, hatte die Begleiterscheinungen ihres Alters aber mit kostbaren Salben und Tinkturen mildern können. Ihr graues Haar war zu einem Kranz gewunden, darunter funkelten zwei wache Augen in einem Gesicht von fast nobler Blässe. Ihre spitzen Lippen waren karmesinrot und erinnerten Janissa an die Schnauze einer Schlange. Doch das Gift, das Mirja verspritzte, war rein verbaler Natur.
„Wie einige von euch vielleicht schon wissen, haben Anice und Ljuba die Schoßfäule und können diese Woche nicht arbeiten. Das heißt, dass ihr alle doppelte Schichten schieben müsst, um die Ausfälle wieder wettzumachen. Ansonsten muss ich euch das Essen kürzen. Verstanden?“
Die Mädchen gaben missmutig ihre Zustimmung und Mirja ließ ihren Blick selbstgefällig durch das Vestibül schweifen. Dann klatschte sie in die Hände.
„Na also! So, und nun genug rumgestanden. Macht euch an die Arbeit und gebt euer Bestes. Zufriedene Kunden sind spendabel. Wer sich drückt, macht Bekanntschaft mit der Haselrute!“
Sofort stoben die Mädchen auseinander und tänzelten mit aufreizenden Bewegungen auf die Freier zu. Es dauerte nicht lange und der Raum war von unterdrücktem Kichern und geflüsterten Schweinereien erfüllt.
Auch Janissa wollte sich an die Arbeit machen, doch Mirjas Hand griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück.
„Du nicht! Für dich habe ich eine ganz besondere Aufgabe. Hier!“
Ihr langer Finger deutete auf einen Eimer am Fuße der Treppe. „Bring diese Schafsblasen runter zum Teich und wasch sie gründlich aus. Wir können uns momentan vor Gästen kaum retten.“
„Ich soll was?“ Janissa stemmte die Arme in die Hüften. „Das ist eine Aufgabe für die Neuen. Ich habe in meinem Leben schon genug Überzieher ausgespült. Sucht Euch gefälligst eine andere für diesen Dre...“
Noch bevor sie den Satz beenden konnte, knallte Mirjas flache Hand in ihr Gesicht. Die Gespräche um sie herum verstummten.
„Ich dulde keine Widerworte von einem Teufelsblut wie dir!“, sagte Mirja mit eisiger Stimme. „Schätz' dich mal glücklich, dass ich dir überhaupt noch Arbeit gebe. Die Neuen machen an einem Abend doppelt soviel Umsatz wie du den ganzen Winter. Ich kann es mir schlicht nicht leisten, einen Goldesel wie Qumai für diese Arbeit abzuziehen. Und jetzt nimm den verdammten Eimer und schwing deinen Hängearsch nach draußen!“
Mirja machte auf dem Absatz kehrt und signalisierte Janissa so, dass das Gespräch für sie beendet war. Kurz darauf war der Raum wieder von gedämpften Stimmen erfüllt.
Janissa befühlte ihre Wange. Dort, wo Mirjas Schlag sie getroffen hatte, war die Haut heiß und taub. Verfluchte Hexe. Tränen hinterließen eine feuchte Spur in ihrem dick aufgetragenen Puder.
„Hast du Mutter nicht gehört, du usudarischer Schmutz?“ Qumai saß auf dem Schoß eines fetten Schweinezüchters und grinste sie mit unverhohlener Schadenfreude an. „Waschen Waschen! Das kannst du noch, ja?“
Janissa erwiderte nichts. Mit letztem Stolz wischte sie die Träne aus ihrem Gesicht, griff nach dem Eimer und verschwand erhobenen Hauptes nach draußen.
Ein kräftiger Wind schlug ihr entgegen, als sie auf die offene Fläche vor der Henne trat. Jannisa fröstelte. Zwar ließen Schnee und Eis noch auf sich warten, doch für ihren Geschmack war es bereits kalt genug.
Aus einem benachbarten Stall nahm sie eine muffige Decke und schlug sie sich um die Schultern. Dann stakste sie missmutig durch den Matsch, bis sie auf die gepflasterte Meile der 99 Götter kam. Hier herrschte wie immer reger Betrieb. Zahlreiche fromme Skediner zogen die Straße auf und ab, entzündeten Votivkerzen vor kleinen Schreinen und hinterließen Obst, Getreide, Schmuck und andere Gaben zu Füßen der Götterbilder. Viele baten um einen milden Winter oder darum, vor einem Angriff der Usudaren verschont zu bleiben.
„Ihr Narren, ich bin doch schon mitten unter euch!“, sagte sie grimmig im Vorübergehen und spuckte auf das Pflaster. Nicht, das irgendeiner dieser verängstigten Frömmler etwas von ihr zu befürchten hatte.
Am Ende der Straße ragten die spitzen Giebel der Oberstadt in den abendlichen Himmel. Die wuchtigen Backsteinhäuser standen Wand an Wand wie betrunkene Riesen, die sich gegenseitig stützen mussten. Hinter ihren Fenstern aus Butzenglas flackerten Kerzen und warfen Kegel warmen Lichts auf die Straße zu Janissas Füßen.
Eilig bog sie in die Gasse zu ihrer Linken und erreichte schließlich ein unscheinbares Tor in der Palisade. Wenige Meter dahinter lag der Tümpel, welchen Mirja so beschönigend als Teich bezeichnet hatte. Ein Wäldchen aus kahlen Birken kauerte sich um das Gewässer.
Seufzend stellte Janissa den Eimer mit den Schafsblasen ab, ging in die Hocke und betrachtete den Pfuhl. Brackiges Wasser schwappte träge gegen die Uferkante.
Sie streckte die Hand aus. Als ihre Finger die Wasseroberfläche berührten, zuckte sie zurück.
„Scheiße!“ fluchte sie. Das Wasser war eiskalt. „Du dumme, alte Nuss. Das hättest du dir auch denken können.“
Mit zusammengepressten Lippen schaute sie auf den Eimer und seinen Inhalt. Wie viel sinnvoller wäre es doch gewesen, einfach Wasser aus dem Brunnen zu nehmen. Sauberes Wasser noch dazu. Aber dieses Miststück Mirja war wie immer zu geizig gewesen, genügend Brunnensteuer zu bezahlen. Lieber scheuchte sie die Mädchen vor die Tore, um ihre Drecksarbeit an dieser Lache zu verrichten. Janissa bezweifelte, dass die Schafsblasen nach einem Bad im Sumpf viel sauberer waren als davor.
In der Ferne bellte ein Hund und einige Schnepfen erhoben sich aus dem Unterholz und flatterten davon. Janissa reckte den Kopf und horchte. Nebel kroch zwischen den Birken empor. Der Geruch modrigen Laubes lag in der Luft. Noch ein Bellen.
Irgendetwas bewegte sich in einiger Distanz zu ihr durch das Unterholz. Janissas Nase nahm nun einen weiteren Geruch auf. Etwas Strenges. Pferde.
Der morastige Boden unter ihr erzitterte leicht, die Oberfläche des Tümpels kräuselte sich stärker und stärker.
Dann brach etwas Schweres aus dem Dickicht und galoppierte auf sie zu. Hufe schlugen auf den Boden, Matsch spritzte ihr ins Gesicht. Erschrocken wich sie zur Seite, stolperte über einen Stein und landete mit dem Hintern voran im Tümpel. Für einen Moment war sie von völliger Schwärze umgeben. Schlammiges Wasser drang ihr in Mund und Nase. Die Kälte brannte auf der Haut. Panisch fuhr sie mit den Händen in die Dunkelheit und versuchte Halt zu finden. Schließlich bekam sie eine Wurzel in die Finger und konnte ihren Kopf über Wasser ziehen. Sie hustete und spuckte. Dann hielt sie inne. Zahllose Lichter tanzten zwischen den Bäumen auf und ab. Um sie herum war der Wald lebendig geworden.
Sie sah alles was neben ihr geschah, aber es drang so langsam zu ihr durch wie zähfließender Honig. Männer bewegten sich um sie herum, Männer auf Pferden. Es war ein nicht enden wollender Strom.
Mit vor Kälte verkrampften Fingern klammerte sie sich an ihre Wurzel und versuchte, so still wie möglich im Wasser zu liegen. Sie hatte das Gefühl, dass alleine das Klappern ihrer Zähne ausreichen würde, die Reiter auf sie aufmerksam zu machen. Aber nichts dergleichen geschah.
Der Birkenwald war in das flackernde Licht hunderter Fackeln getaucht, so dass sie die Fremden um sich herum recht gut erkennen konnte.
Es waren Krieger von beeindruckender Statur. Sie alle trugen Schuppenpanzer und Helme, aus deren Seiten eiserne Dornen, gezackte Kämme und gebogene Hörner ragten. Um ihre breiten Schultern waren Pelze geschlungen und in den Händen trugen sie Speere, Keulen, Äxte und Bögen. Manche führten Schilde, auf deren Vorderseiten Janissa groteske Fratzen und Symbole erkannte, die alles andere als göttlichen Ursprungs waren. Ein Banner aus Menschenhaut flatterte im Wind. Zwischen den Beinen der Pferde rannten Hunde umher und kläfften wie von der Tollwut befallen. Ihr Bellen, der Hufschlag der Pferde und das monotone Scheppern von Eisen waren die einzige Laute, die weithin zu hören waren.
Als der letzte Reiter den Pfuhl passiert hatte, kroch Janissa langsam an Land. Ihr Körper fühlte sich taub an. Die Decke und das Mieder hatten sich mit Wasser vollgesogen und klebten klamm an ihrer Haut. Die sonst so kunstvoll aufgetürmte Perücke war völlig zu Grunde gerichtet. Mit einer ruppigen Bewegung streifte sie das künstliche Haar von ihrem Kopf und warf es in den Dreck. Darunter kamen graue Strähnen zum Vorschein, die ihr nass und klebrig ins Gesicht hingen. Noch immer war sie ganz verstört von jenem Schauspiel, das sich soeben zugetragen hatte. Aber Zeit zum Überlegen blieb ihr nicht.
Jenseits der Palisade, in Skedin, läuteten die Glocken Sturm.
Die Stadt brannte. Wie in einem Traum stolperte Janissa durch die vom Feuerschein erhellten Straßen. Längst hatte sie vergessen, dass sie fror. Überall um sie herum loderten die Brände, Menschen schrien in Panik und liefen links und rechts an ihr vorbei wie kopflose Hühner. Manchmal hielt jemand vor ihr inne, glotze sie verängstigt an und floh dann in die entgegengesetzte Richtung. Die fremden Krieger waren tief in die Stadt vorgedrungen und zogen nun marodierend umher. Pechfackeln wurden auf Strohdächer und in Fensteröffnungen geschleudert, fliehende Bürger im Galopp niedergeritten oder aus der Ferne mit Bögen zur Strecke gebracht.
Die Stadtwache tat ihr Bestes und stellte sich den Angreifern entgegen, hatte der feindlichen Übermacht aber nur wenig entgegenzusetzen. Wer immer den Reitern vor die Hufe kam, fiel unter den Hieben ihrer Waffen. Körper mit zertrümmerten Schädeln und zerschmetterten Knochen blieben als stumme Zeugen zurück.
Als Janissa die Meile der 99 Götter erreichte, hielt sie den Atem an. Die kunstvoll geschnitzten Statuen waren niedergerissen, die juwelenbesetzten Schreine umgeworfen und geschändet. Stattdessen hatten die Krieger ein eigenes Standbild errichtet – einen mit Blut beschmierten Totem, an dessen Spitze vier Ziegenschädel das Gemetzel nach allen Seiten hin überblickten. Ein fremder Gott aus einer fremden Welt.
Vor dem Idol tanzte eine Gruppe Männer zu den Trommelschlägen einer greisen Frau. Die Alte hatte ihr Gesicht mit Ruß geschwärzt und röchelte, krächzte und schrie aus ganzer Kehle ein scheußliches Lied in die von Flammen erhellte Nacht. Der ekstatische Gesang wurde aus den Reihen der Tänzer mit ebenso wildem Geschrei beantwortet.
Niemand achtete auf Janissa, als diese das Ritual passierte und auf die Rote Henne zuhielt. Schon von Weitem war zu erkennen, dass das Bordell vom Feuer verschont geblieben war. Sie nahm die Stufen zum Eingang und stieß die Tür auf. Für einen Moment musste sie Halt am Türrahmen suchen. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung. Dann schaute sie nach vorn.
Zwanzig verängstigte Augenpaare starrten aus der Eingangshalle zurück.
„Bitte, tu uns nichts!“, säuselte eine Stimme, die Janissa nur allzu gut kannte. „Wir können Euch dienen, wenn Ihr es verlangt. Gut dienen! Ja?“
Janissas Mund formte ein verzweifeltes Grinsen. „Qumai, ich bin es doch nur“, sagte sie schließlich und trat einen Schritt nach vorne, so dass das Licht der Kerzen auf ihr Gesicht fallen konnte.
„Janissa?“
„Wie siehst du denn aus?“
„Wo sind ihre Haare geblieben?“
Janissa blickte in einen der Spiegel an der Wand und erschrak. Ein fremder Mensch schaute ihr entgegen.
Der weiße Puder war verlaufen und entblößte ihre zerfurchte Haut. Die Kleider starrten vor Dreck und hingen in Fetzen. Ein kleiner Ast hatte sich in ihrem Haar verfangen. Sie sah aus wie eine wilde, verwahrloste Kreatur.
„Gebt alle Ruhe!“ Mirjas Stimme drang von oberhalb der Treppe in das Vestibül. „Da bist du ja endlich. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht.“
„Habt ihr das?“, fragte Janissa etwas verwundert.
Mirja lächelte schmallippig. „Aber natürlich. Wir dachten schon, du wärst den Usudaren zum Opfer gefallen!“ Die Mutter glitt behände die Treppe hinab und breitete in einer übertriebenen Geste des Willkommens ihre Arme aus. „Ihre teuflischen Horden plündern die Stadt und bald werden sie hier sein! Aber du kannst uns helfen, Janissa. Du kannst für uns sprechen!“
„Eher wird sie uns verraten!“, schrie Qumai mit ihrer entsetzlich hohen Stimme. „Schaut sie euch doch an! Sie ist mehr Tier als Mensch. Usudarisches Blut kann man nicht verleugnen!“
„Wir sollten sie lieber raus jagen“, schlug eine andere Huren vor. „Sie bringt Unglück.“
„Ihr Geist ist verdorben!“
„Teufelsblut!“
Zustimmendes Gemurmel.
Janissa wollte protestieren, doch schwere Schritte von draußen ließen ihr keine Gelegenheit mehr dazu. Mit lautem Knall flog die Tür auf und drei hünenhafte, schwergerüstete Gestalten drängten in den Raum. Usudarische Krieger, mit vernarbten Gesichtern, spitz zugefeilten Zähnen und vor Blut starrenden Waffen.
„Tsch'ad wad, kha na!“ brüllte der Vorderste von ihnen mit heiser Stimme und war sichtlich erfreut, als die Mädchen daraufhin wimmernd hinter Tischen und Stühlen Zuflucht suchten. Nur Janissa rührte sich nicht.
Die Usudaren schauten einander verdutzt an. Dann machte der Größte einen Schritt auf Janissa zu. Ein Gestank von Schweiß und Rauch schlug ihr entgegen. In ihren Ohren rauschte es.
Der Krieger musterte sie von oben bis unten. Dann spürte Janissa, wie er ihr etwas in die Hand drückte. Etwas Hartes, Kaltes. Sie blickte an sich hinunter und sah eine Waffe in ihrer Faust. Ein usudarisches Krummschwert.
„Yesh minko!“, knurrte der Krieger und deutete mit seiner Pranke auf Mirja, die immer noch wie angewurzelt am Fuß der Treppe stand und dem Treiben verständnislos folgte. „Yesh minko, tuluk!“
„Aber mein Mädchen“, stammelte die Mutter nervös, während Janissa das Schwert in ihrer Hand wog. „Nach allem, was ich für dich getan habe? Ich gab dir zu Essen und ein Dach über den Kopf.“
„Auf Drängen Dobras“, sagte Janissa kalt und betrachtete das geronnene Blut an der Klinge. „Du musstest es ihr auf dem Totenbett versprechen, sonst wärst du niemals ihre Nachfolgerin geworden.“
Janissa machte einen Schritt nach vorne und zwang Mirja, sich gegen die Wand zu pressen. Die Augen der Mutter wurden groß, als sie ihr Schicksal erahnte.
„Usudarenschlampe! Qumai hatte Recht. Ich hätte dich rauswerfen sollen, als ich ...“
Die Stimme erstarb, als Mirjas Kopf sauber abgetrennt zu Boden fiel. Ein dicker Schwall Blut ergoss sich über den polierten Marmorboden. Qumai schrie entsetzt auf, dann fielen die anderen Huren mit ein.
„Tuluk! Tuluk!“, grölten die Krieger und schlugen sich ihre Fäuste gegenseitig auf die Brust. Aber Janissa hörte weder die Schreie der Mädchen, noch die Rufe der Krieger. Das Schwert in ihrer Hand fühlte sich vertraut an. Als ob es schon immer dorthin gehörte. Es würde ihr gute Dienste leisten, wenn sie sich nahm, was sie verdiente. Was ihr zustand. Mutter Djahenna, die Herrin der Steppe.