Mitglied
- Beitritt
- 23.08.2013
- Beiträge
- 176
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 35
Die Apriltraurigkeit
April ist schon ein komischer Monat. Und das hat mit diesem blöden Spruch – April, April und so weiter – nichts zu tun. Es ist nur so: immer wenn das anfängt; Knospen, T-Shirts, Eisdielen, und dann diese Ahnung in der Luft, dass es irgendwohin gehen muss ... ich weiß nicht, mich macht das alles ein bisschen traurig. Also ich denke schon, dass mit mir deswegen etwas nicht stimmt, aber ich bin jetzt nicht depri oder so.
Hier bei Tante, in Lichterfelde, da schleicht sich diese Traurigkeit nicht so heran wie zuhause, sondern reißt gleich alle Türen auf, springt aus dem Wetterflimmern am Horizont heraus – ist ganz schwer zu beschreiben. Das fühlt sich gleichzeitig so bitter und fies an, aber auch irgendwie süß. Als hätte man knapp einen wichtigen Zug verpasst, den man, Hand aufs Herz, eigentlich gar nicht nehmen wollte.
Jedenfalls komme ich im April nicht so gerne zu Tante, nur dieses Mal ging´s nicht anders, unter keinen Umständen, da spielte meine bescheuerte Apriltraurigkeit keine Rolle mehr.
Tantes Wohnung ist sehr sehr schön. Ganz modern alles, mit diesen weißen Plastikstühlen, die ein Vermögen kosten, Glas, viel Licht, wenig Möbel – nicht so ein Oma-Paradies, wie man jetzt denken könnte, mit riesigen Bauernschränken und verblichenen Lampenschirmen, wie´s bei Opa war, ne ne, so ist es hier gar nicht.
Tante ist gut in ihren Sechzigern, aber immer noch hipstermäßig unterwegs. Gewesen jedenfalls, ja, vor dieser Sache. Immer sagte sie, man muss mit der Zeit gehen, Anna, man altert nur, wenn man in der Vergangenheit lebt. Und ich finde, das stimmt auch, im Kern ist es wahrscheinlich absolut richtig, nur als Tante dann diesen Betonaffen kaufte, zum Stützen von dem schiefen Regal aus dem Internet, da dachte ich mir doch kurz, dieser Affe ist eher der Zeit voraus oder vielleicht neben der Zeit – aber ich hab von solchen Dingen auch nicht wahnsinnig die Ahnung.
Lichterfelde. Wie schön das klingt. Warum sich nicht alle Stadtteile und Städte so schöne Namen gegeben haben, das habe ich nie verstanden. Ich meine, bei der Gründung war man doch frei, da konnten die Bürger oder wer auch immer da verantwortlich war, doch ruhig auf den Tisch hauen und sagen, wir heißen jetzt Morgenhügel oder Sonnenauen oder wasweißich wie, das wäre doch nicht verboten gewesen. Und stattdessen ... . Bei uns, zum Beispiel, da gibt es einen Stadtteil, der heißt einfach „Kalk“ – malerisch ist was anderes. Und ein bisschen weiter außerhalb, da steht eine richtig hässliche Hochhaussiedlung, und die heißt, das ist kein Scherz: „Mülldorf“ – ist klar ...
Aus Tantes Fenstern kann man über hunderte Dächer sehen, aus manchen Schornsteinen qualmt es sogar – Kamine sind natürlich obergemütlich – und weit weg, am Horizont, staut sich manchmal gelber Dunst. Als wäre dort das Tor zu einem Wolkenkönigreich oder einer Irrlichtfabrik. Ich kann mich für Stunden auf die Fensterbank fläzen, mir das anschauen. Richtig heimelig, mit Kuschelsocken, Milchkaffee und alles. Tante hat natürlich eine von diesen ganz modernen Kaffee-Maschinen, wo George Clooney Werbung für macht. Den finden wir beide ziemlich gut, den Mr. Clooney. Jetzt nicht die Filme unbedingt, aber das ist schon ein schöner Mann, keine Frage. Und der Milchkaffe schmeckt auch ziemlich toll, da braucht sich Mr. Clooney nicht genieren.
Das Beste an Lichterfelde befindet sich aber genau gegenüber von Tantes Haus. Zuerst kommt da eine Straße, zweispurig, aber nicht wild befahren, dann Brachland, von Gräben durchzogen, so als hätte jemand dem Boden die Adern rausgerissen, wo Gestrüpp überall aus der Erde sprießt und dahinter eine riesige, gelbe Mauer, ein halbes Fußball-Feld groß, mindestens, das ist die Rückwand des Eckhauses an der Kreuzung Brüsseler/Haagener. Und auf der gesamten Fassade befindet sich nichts, wirklich gar nichts, wenn man die paar Graffitis unten nicht zählt, Robocop is back in town, außer einem Fenster, ziemlich mittig ist das, mit Rahmen, verglast, da baumelt sogar eine Gardine dahinter. Also ein ganz gewöhnliches Fenster eigentlich, nur dass es eben ganz allein aus dieser riesigen, gelben, blinden Mauer in die Welt blickt. Und dieses Fenster kann ich mir viel länger anschauen als diese Mirage mit der Irrlichtfabrik hinter den Schornsteindächern, einfach weil das ganz real ist, weil das Menschen tatsächlich so gedacht und gebaut haben und weil mich das daran erinnert, wie großartig Menschen sein können, wenn man sie nur lässt.
Ich spinne mir da natürlich total das wirre Zeug zusammen, wer da alles wohnen könnte und wie es dahinter aussieht. Manchmal stelle ich mir das gruselig vor, manchmal magisch, aber immer so geheimnisvoll, dass es mir einfach die Brust zerreißt, so sehr will ich erfahren, wer, wie und wieso da jemand hinter diesem einzigen Fenster in der riesigen, gelben Mauer lebt.
Vielleicht ist das nur eine alberne Mädchenträumerei, sehr wahrscheinlich sogar ist es das, aber ich glaube schon, dass die Wohnung hinter dem Fenster einem jungen Mann gehört. Vielleicht nicht wahnsinnig jung, könnte schon so Anfang dreißig sein, aber diesen Mann würde ich gerne kennenlernen, sehr gerne sogar, ja.
Ich hab da so ein kleines Geheimnis. Die Außerirdischen, an die glaube ich. Ich mag da auch nicht viel drumrum reden, von wegen wie unwahrscheinlich das doch sei, dass wir alleine in dem Universum sind, bla.., jedenfalls gibt es so eine Art Internetradio – musst du schon gut suchen – dort kann man im Weltall lauschen. Früher habe ich viele Nächte davor verbracht, immer rumgespielt an den ganzen Reglern, da konnte man auch mit anderen Suchenden chatten. Manche waren richtig fiebrig, vielleicht auch ein bisschen verrückt, vor allem die Russen. Ist ein paar Jahre her. Aber jedes Mal wenn ich auf dieses Fenster blicke, überkommt mich das Gefühl, dass der Typ dahinter auch dieses Radio hört. Irgendwie bin ich mir da total sicher.
Und dann stelle ich mir vor, wir könnten das zusammen tun. Wir würden am Fenster sitzen, um uns herum ist alles schummerig, unten hoppeln die Kaninchen im Gestrüpp, und wir zwei fangen die Wellen.
First contact. Anna Hille und ihr supergut aussehender Navigator sind die ersten Botschafter der Erde. Die erste intergalaktische Autobahn führt direkt nach Lichterfelde, vor Tantes Fenster. Sie ist natürlich komplett geräuschlos und fast unsichtbar. Weil Anna Hille so eine Spitzenbotschafterin ist.
Aber Tante, keine Sorge, ich bleibe hier. Da kann mich das ganze Universum auf Knien anflehen, ne ne, meine hoch verantwortungsvollen und extrem spannenden Botschafterpflichten kann ich auch von Lichterfelde aus erfüllen, da muss sich der intergalaktische Premier-Präsidenten-Rat nach uns richten.
Das Glöckchen bimmelt und ich befinde mich wieder in Tantes Wohnung. Der Milchkaffee ist kalt geworden, heute hängen die Wolken sehr tief.
Leoni sagt, sie kann das Bimmeln ihrer Mam nicht mehr ertragen, das packe sie einfach nicht. Sie habe dann immer das Gefühl, mit dem Absatz in den Gleisen zu stecken und die Bahn rase auf sie zu und die Lokomotive dröhne und die Bremsen quietschen fies und sie sei ganz allein auf dieser Welt.
Ich glaube ja, Leoni übertreibt. Auf jeden Fall ist sie einen Tacken zu theatralisch. Aber ein paar andere, die mittwochs auch in unsere Gruppe kommen, sagen, sie kennen dieses Gefühl, Leoni treffe den Nagel auf den Kopf.
Ich weiß nicht, mir macht das Glöckchen nichts. Ich finde, es bimmelt relativ sanft, unaufdringlich, und im Grunde ... was soll Tante auch groß machen, anders geht nicht, sie kann gerade so diesen roten Knopf drücken. Sie macht es eh ganz selten, mich rufen, ich schaue ja regelmäßig nach dem Rechten, stecke meinen Kopf in die Tür, schleiche auf Zehenspitzen um das Bett herum, wahrscheinlich hört Tante das meiste gar nicht mehr – sie ist ganz woanders grade.
Das Parkett ist ziemlich glatt. Gewienert, gebohnert, ich weiß gar nicht genau, was man damit gemacht hat, aber Tante ließ es immer machen, mindestens einmal im Jahr, da war sie fest, und ich nehme Anlauf – das Wohnzimmer ist riesig wie ein kleiner Tanzsaal – gehe leicht in die Hocke und rutsche auf meinen Kuschelsocken und rutsche und rutsche und bleibe kurz vor den Flügeltüren stehen, mache noch ein paar Schritte durch den Flur und betrete Tantes Zimmer.
Es riecht hier natürlich nicht gut. Das ist einfach so, da kann man nichts dran ändern. So viel kann man gar nicht lüften und es stört mich auch nicht weiter. Aber zum Glück weiß Tante nicht, wie ihr Zerfall einem in die Nase beißt. Meine immerjunge Hipstertante würde sich schämen.
Hier drin ist es schummerig. Nur in der Ecke leuchtet die kleine Leselampe mit einer von diesen alten Glühbirnen drin, die so ein angenehmes Licht machen. Tante hatte einen ganz Schrank davon gehortet, bevor es diese europäische Änderung gab – mir können diese Bürokraten nichts, sagte sie. Man müsse ja nicht immer mit der Zeit gehen.
Im Radio spielen sie etwas Klassisches, ein Streichorchester. Tante mag sowas. Noch vor ein paar Wochen wippte sie leicht mit dem Fuß, wenn sich irgendwo zwischen den Frequenzen Tschaikowski verirrte oder Pachabel, aber das ist jetzt auch vorbei.
Ich lupfe die Decke, schaue nach, aber die Windel ist in Ordnung. Da passiert eh nicht viel im Moment, durch diesen Schlauch kriegt Tante nur das Nötigste. Als ich noch klein war, sagte Tante am Tisch immer: Anna, man muss das Essen zum Mund führen und nicht den Mund zum Essen - und als sie ihr diesen Schlauch legten und Tante mal kurz zu Bewusstsein kam, sagte sie das wieder. Und weil sie nicht lachen konnte, habe ich einfach mal für uns beide gelacht, obwohl sich in meinem Hals ein ganz schöner Brocken bildete. Und jetzt geht mir dieser Spruch gar nicht mehr aus dem Kopf.
Ich setze mich auf die Bettkante, nehme ihre Hand, sie drückt ganz leicht, ich drücke zurück – wir verstehen uns gut. Hast du Schmerzen, frage ich, aber das muss ich gar nicht fragen, ist nur so, Kommunikation, verbal, irgendwie fühle ich mich besser, wenn ich laut mit Tante spreche, und sie hört mich ja manchmal.
Die Ärztin meinte, wenn Tante wach ist, dann hat sie Schmerzen. Das sei eigentlich nicht zu ertragen, was einer in Tantes Stadium für Schmerzen habe, könne sich ein gesunder Mensch nicht vorstellen – da helfe nur Morphium.
Das Fläschchen am Nachttisch ist noch halb voll. Wenn die Ärztin kommt, schreibt sie immer die Milliliter auf – das ist eine ganz heikle Sache, meinte sie mal. Aber Tante und ich haben da was vereinbart. Vor einem Monat etwa, als sie noch ein bisschen reden konnte. Und nein, es ging nicht um Sterbehilfe, das wollte Tante nicht von mir verlangen, obwohl ich´s gemacht hätte, vielleicht. Es ist aber wohl so, dass wenn man die Dosis immer leicht erhöht, einem jedes Mal ein bisschen mehr in die Venen schießt, als für die Linderung nötig, es auch schneller vorbei geht, das Ganze.
Unsere Ärztin, die Palliativmedizinerin – sie weiß Bescheid. Da haben wir nie drüber gesprochen, aber sie weiß Bescheid. In der Gruppe, mittwochs, da sagen auch alle, die Ärzte wissen Bescheid, in solchen Fällen gäbe es wohl immer eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Arzt und den Angehörigen. Da werde auch nicht so genau aufgeschrieben, wie viel in einem solchen Fläschchen noch drin ist am Ende.
Nachdem das mit dem Morphium erledigt ist, bleibe ich noch ein wenig auf dem Bett sitzen und halte Tantes Hand. Ihr Gesicht ist ganz bleich, zerknautscht, ein bisschen wie ein Welpe sieht sie aus, wie ein kranker Welpe.
Meine kleine, süße Tante, du bist so geschrumpelt, du würdest lachen. Wenn du dich sehen könntest, Tante, aber das mit dem Spiegel und Schminken machen wir ja nicht mehr. Wo Enzo nicht mehr kommen darf. Das finde ich wirklich albern von dir.
Aber ich verrate dir was, Tante, Enzo kommt trotzdem noch, fast jeden Tag. Er beteuert natürlich, er würde nur dem armen Mädchen was zu essen bringen – das arme Mädchen soll übrigens ich sein – schleicht aber um deine Tür herum wie ein trauriger Märzkater. Ich muss dir gestehen, ich hab ihn einmal schauen lassen, aber nur ganz kurz, wirklich. Tut mir leid.
Aus seiner Trattoria bringt mir Enzo total die teuren Sachen mit, da lässt er sich nichts sagen. Täglich wechselnde Speisekarte. Mhmmmm... Oberlecker! Gestern Nacht zum Beispiel, gab´s Pasta mit schwarzen Trüffeln, richtig fein. Enzo schämte sich ganz aufrichtig, dass er nur eine Plastikschachtel dafür hatte, der ist so süß.
Wir saßen bis drei Uhr in der Küche, tranken Wein und haben uns super unterhalten. Ich glaube, so lange haben wir noch nie miteinander gesprochen. Was er mir alles über dich erzählt hat, Tante – dein Lover ist ein ziemliches Plappermaul, so viel ist klar. Wie ihr früher nach Hoppegarten gefahren seid, jedes Wochenende, wenn´s Rennen gab – das findet Enzo noch immer sehr romantisch. Der Damaskus hatte es dir also richtig angetan, Tante, eine Hengste wie die Nachte schwarze – ich musste so lachen. Manchmal glaube ich, dass Enzo immer seinen Akzent auspackt, wenn er einen aufheitern will, das ist wirklich sehr sehr nett von ihm. Aber fünfzig Tausend Mark auf der Rennbahn zu lassen, Tante, das ist schon ein bisschen viel, findest du nicht?
Er fragte auch, wie das bei mir mit Schule aussieht. Enzo kennt aber schon den Unterschied zwischen Schule und Uni, oder? Vielleicht verwirrt ihn das ein bisschen, weil es bei mir Fachhochschule heißt, ist auch egal eigentlich.
Er versteht natürlich, dass es grad schwierig ist, wo ich ja hier sein muss, aber er meinte auch, dieses eine kleine Jahr kann ich locker aufholen. Er behauptet, ich sei total das schlaue Mädchen und so schön, so schön, einfach bellissima. Mit dem Jahr, das ich aufzuholen habe, hat meine Schönheit nicht direkt was zu tun, war aber trotzdem angenehm zu hören. Das kann er wirklich gut mit den Komplimenten, dein Enzo, ich hab´s ihm am Ende fast geglaubt.
Weißt du, Tante, irgendwie ist Enzo voll das Klischee, aber ein richtig angenehmes. So entspannt unironisch, sein Witzrepertoire hat er bestimmt schon seit Jahrzehnten nicht mehr ausgetauscht und man weiß bei ihm, gleich kommt was Nettes, das tut wirklich gut. So einen Opa hätte ich gerne. Tut mir leid, Opa, wenn du das irgendwie hörst.
Draußen dämmert es. Die Wolken sind ganz eng an die Dächer gerückt, die Laternen flackern, unten auf der Straße ist rein gar nichts los. Ich sitze wieder auf meinem Beobachtungsposten. Das Fenster ist gekippt und ich kann durch den Spalt das Knattern der Ampeln hören. Aus der Mauer gegenüber leuchtet es. Hinter der Gardine huscht ein Schatten vorbei. Zuerst nach links, dann nach rechts, schließlich bleibt die Silhouette genau in der Mitte stehen. Sie spaltet das gedämpfte Licht entzwei. Wenn man leicht zurückzoomt und das Sichtfeld mit den Fingerspitzen justiert, sieht das Haus aus wie ein einäugiges Ungeheuer auf der Lauer. Aber man muss sich schon ein bisschen anstrengen, ansonsten sieht es einfach nur aus, wie eine Wand mit Fenster drin.
Chulo bringt mir die Leine. Der Verschluss schleift über das Parkett und dieses Geräusch ist so vertraut und treu, dass meine Nasenspitze anfängt zu zwicken. Vielleicht werden auch meine Augen feucht. Was für ein Quatsch! Ich wische schnell mit dem Ärmel drüber.
Chulo hat zwei lange Ohren und ist der süßeste Hund auf der ganzen Welt. Den habe ich, seit ich elf bin und er darf in meinem Bett schlafen. Chulo ist uns in Spanien zugelaufen und ich habe so lange geweint, bis Mutter mir erlaubte, ihn mitzunehmen.
Wir zwei gehen jetzt auf Kaninchenjagd, Chulo. Wir werden uns das fetteste und faulste Kaninchen aussuchen, so ein fieses Kapitalisten-Kaninchen, umstellen es, hetzen es über das ganze Feld und kurz bevor es auf seinen Baum klettert, schnappst du zu, okay? Heute werden wir es schaffen, Chulo, und dann steht ganz offiziell fest, dass du der allertollste Jäger bist im ganzen Universum. Ich verspreche dir, dass ich deine Ehrung bei dem intergalaktischen Premier-Präsidenten-Rat auf die Tagesordnung bringe. Das boxen wir schon durch, keine Sorge. Für dich werde ich mein ganzes Botschaftergewicht in die Waagschale werfen. Und das Kaninchen schenken wir Tante – die wird sich riesig freuen.
Wir durchstreifen das ganze Brachland, finden aber kein fieses Kapitalisten-Kaninchen. Im Grunde finden wir gar kein Kaninchen. Zwar raschelt es fast in jedem Gebüsch, aber Chulo interessiert sich nicht für die Geräusche. Er bleibt ganz eng bei mir, schleicht um meine Beine, holt zwei-drei Mal den Tennisball, den ich in die Dunkelheit schmettere, kämpft aber nicht darum. Es gibt kein Hin- und Herzerren, wie Chulo es sonst gerne mag, er legt mir den Ball einfach vor die Füße und schnaubt.
So wird es nichts mit der intergalaktischen Ehrung, Chulo, das ist mir eindeutig zu wenig Enthusiasmus. Aber Chulo war sowieso nie hinter Auszeichnungen her.
Ich nehme den Ball, hole aus und werfe ihn hoch in das Auge des Ungeheuers. Es fehlen zwei Meter. Ich versuche es nochmal, diesmal stimmt die Höhe, aber ein tückischer Windstoß treibt den Ball zu weit nach links. Ich werfe noch ein paar Mal, doch es sieht fast so aus, als wären die Luftströme da oben, in zehntausend Meter Höhe, nicht in den Griff zu bekommen.
Irgendwann höre ich Enzo meinen Namen rufen. Er steht am Rand des Brachlands mit einer weißen Tüte in der Hand und winkt. Es ist mir vorher nie aufgefallen, dass Enzo eigentlich ein ganz kleiner und schmächtiger Mann ist. Aus der Nähe wirkt er so firm und kernig und wie ein stillgelegter Damm, der so freundlich ist, ein paar Rinnsale durchzulassen.
Heute hat Enzo Saltimbocca a la romana mitgebracht. Ehrlich gesagt, bin ich kein besonders großer Schnitzel-Fan, doch ich freue mich so überschwänglich, als hätte ich die letzten drei Tage ausschließlich Steine gelutscht. Der Wein ist aber toll, irgendwas aus Apulien, klingt und schmeckt nach amore auf der Dachterasse.
Während des Essens schweigen wir. Das kann man mit Enzo ganz wunderbar tun. Wenn ich ihn ansehe, strahlen seine Augen. Es sieht ein bisschen so aus, als würde sich die Sonne in den Meereswellen spiegeln. Aber manchmal, wenn er glaubt, ich würde an seinem Schnitzel herumsägen, legt sich ein Schleier über sein Gesicht. Vielleicht leidet Enzo ja auch an der Apriltraurigkeit.
Nachdem ich den Tisch abgeräumt habe und wir einander ein paar Minuten einfach so gegenüber sitzen, fragt mich Enzo: „Kennst du die dia de los muertos?“
„Ist in Mexiko, oder?“, sage ich, „so ne Party.“
Enzo lacht und die Meereswellen sind wieder da. „Sowas in der Art. Deine Tante und ich sind da mal gewesen. Irgendwo in der Nähe von Cancun. Ich weiß gar nicht mehr, wie dieses Dörfchen hieß. Ist bestimmt zwanzig Jahre her.“
„Stimmt es, dass die Mexis da nachts auf den Friedhof gehen und die Toten essen?“
„Jetzt red doch kein Quatsch, Anna.“
„Hab ich aber mal so gelesen. In der National Geographic. Ist ein alter Aztekenbrauch.“
Enzo lehnt sich zurück in den Stuhl, lässt den Wein im Glas kreisen und sagt: „Du bist genau wie deine Tante.“ Der Schleier wird ihm zu schwer und er senkt den Kopf.
Dann glaubt er wahrscheinlich, dass ich ihn so nicht sehen darf, räuspert sich und fragt: „Weißt du, worauf ich hinaus will?“
„Ja“, sage ich, „ich weiß. Der Tod ist ein Teil des Lebens und so.“
„Genau“, sagt Enzo, „in den letzten Tagen musste ich ganz häufig an diese Reise denken. Sie hatten alle Straßen mit Blumen überschwemmt, die allerkleinste Gasse leuchtete bunt bis in den Himmel. Chrysanthemen, Ringelblumen und dann noch eine Blume, leider habe ich vergessen, wie die heißt – dabei war das die wichtigste. Irgendwie vergesse ich so viel in letzter Zeit.
Deine Tante war die schönste Frau in der ganzen Stadt, daran erinnere ich mich aber ganz genau. So weiß und stolz, ein bisschen wie eine Elfenkönigin.“
„Tante glaubt ja, sie würde aussehen wie Nicole Kidman. Nur ein bisschen kleiner, pummeliger und ohne rote Haare“, sage ich.
„Ja“, sagt Enzo, „ein bisschen kleiner. Zum Glück. Damals wollte ich ihr einen Blumenkranz auf den Kopf legen, sie sagte aber, sie findet das kitschig. Da haben wir uns ordentlich gestritten. Danach hat sie zwei Tage nicht mit mir geredet und ich wünschte mir, dass man mich gleich da auf diesem Friedhof begräbt. Damit sie mal wegen mir traurig ist.“
Wir schweigen eine Weile, Enzo gießt uns mehr Wein ein und ich stelle mir vor, wie er alleine durch diese blumigen Straßen irrt, weil Tante ihn nicht ins Zimmer lässt, und ununterbrochen flüstert: Perdonami, mia principessa, perdonami. Dann drängen noch mehr Albernheiten in meinen Kopf und ich fange an zu kichern. Und Enzo fängt auch an zu kichern, ein bisschen unsicher, aber sicher genug, um den Schleier in den Wellen zu versenken.
„Ich find das gut mit dem Teil des Lebens“, sage ich, „auch wenn das, im Grunde genommen, großer Quatsch ist.
„Ja“, sagt Enzo, „so fühlt es sich irgendwie sicherer an.“
Ich gehe zum Kühlschrank und hole das Tiramisu raus, das ich heute früh gemacht habe. Das sollte eigentlich noch ein paar Stunden ziehen, aber ich muss Enzo unbedingt ein Stück davon anbieten. Jetzt gleich. Ich stelle die Schale auf den Tisch und wir beide fangen an zu löffeln, als wäre es unser Ritual. Konzentriert und entschlossen stopfen wir die Torte in uns hinein bis auf den letzten Rest Mascarpone auf dem Schüsselrand, dann lecken wir die Löffel ab. Ist ganz gut geworden, finde ich.
„Enzo?“
„Mmh?“
„Müssen wir die Tante auch essen, wenn sie tot ist?“
„Ich denke schon.“
„Obwohl wir keine Mexis sind?“
„Mmh.“
Und dann sitzen wir einfach lange lange da und streicheln unsere vollgefressenen Wampen.
Nachdem Enzo gegangen ist, trinke ich den Wein leer und schleiche in Tantes Zimmer. Im Schneidersitz hocke ich auf dem Teppich neben ihrem Bett, lege meine Arme übereinander auf die Matratze und stütze mich auf. Ich spüre, wie Tantes Atem erlischt. Nur noch ein winziges Flackern ist übriggeblieben. Dass es unbedingt im April passieren muss. Chulo tapst hinein und legt mir seinen Kopf in den Schoss.
Auf Tantes Decke krabbelt eine Fliege. Sie kriecht in die Falten im Stoff, klettert an einer anderen Stelle wieder heraus, minutenlang verfolge ich ihre Bewegungen, es sieht so furchtbar ziellos aus. Ich glaube, es ist das erste Insekt, die ich dieses Jahr sehe. Na du hast aber auch nicht mehr lange, flüstere ich. Aber denk dran, der Tod ist ein Teil des Lebens, das gilt für euch Fliegen ganz besonders.
Im Radio spielen sie Elton John. Candle in the wind. Tante, das kannst du nicht machen, das ist so furchtbar schnulzig. Warte bitte noch einen Moment. Und ich glaube, Tante hört mich. Sie würde sich das nie verzeihen, auf dieser Note zu gehen. Und wir warten zusammen. Tante, Chulo, die Fliege und ich.
Als nächstes kommt irgendwas mit Geige.
Ich bleibe noch zehn Minuten neben Tante sitzen, vielleicht zwanzig, vielleicht zwei Stunden. Vielleicht sind meine Augen ein bisschen feucht geworden. Vielleicht habe ich auch richtig hart geweint. Ich weiß, es ist gerade etwas Großes passiert, aber so fühlt es sich gar nicht an. Ich ärgere mich darüber, aber das einzige, woran ich denke, ist, dass ich mittwochs nicht mehr in diese bescheuerte Gruppe gehen werde. Dann stehe ich auf, schalte das Radio aus und lösche das Licht.
Wieder im Wohnzimmer lehne ich mich an die Fensterbank und presse mein Gesicht gegen das kalte Glas. Das Ungeheuer gegenüber schaut mich mit seinem leuchtenden Auge an. Nachts kann man die Außerirdischen am Besten hören.
Ich werfe mir die Jacke über und hebe den Tennisball vom Boden auf. "Komm, Chulo, wir versuchen´s nochmal."