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Die Alabaster-Lüge
Als meine Eltern mich fragten, ob ich ein Geschwister haben möchte,
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sagte ich, nur, wenn es sein muss. Aber wenn schon, dann einen großen Bruder. Meine Eltern haben gelacht und gesagt, ich meinte natürlich kleine Schwester. In Wirklichkeit meinte ich: Ich will überhaupt nichts. Man sollte meinen, meine Eltern hatten mit einem Sohn genug. Wir kommen zu dritt sehr gut zurecht.
Meine Eltern waren nicht von dieser kleinen Schwester abzubringen und fingen an, alles zu tun, damit Mama schwanger wurde. Papa räumte den Gerümpelraum aus und strich die Wände gelb.
"Sonnengelb", sagte Mama und lächelte. "Für das Baby."
"Wohin stellen wir jetzt das Gerümpel?", fragte ich.
Es stellte sich heraus, dass wir unser Gerümpel nicht behalten konnten. Dabei mochten wir unser Gerümpel. Ich musste altes Spielzeug weggeben und Papa die kaputten Möbel auf den Müll werfen. Papa hat alte Möbel gesammelt, um sie zu reparieren, "wenn er mal Zeit hat". Zeit hatte er nie, aber das Sammeln war wohl auch ganz schön. Mama trennte sich von ihren Papier-Büchern. "Sowas wird nicht mehr hergestellt", sagte sie mit Tränen in den Augen, "naja, wir machen Platz für das Baby."
Ich hätte lieber den Gerümpelraum behalten.
Mama wollte dieses Baby. In den Nachrichten las sie jeden Morgen die Todesanzeigen, um einen Namen zu bestellen.
"Nur schreckliche Namen werden frei", jammerte sie. "Wer will seine Tochter denn Lucia oder Lena nennen? Oder Laura? Wie das klingt ..."
"Das sind die Namen von hundertjährigen Frauen. Was erwartest du in den Todesanzeigen?", fragte Papa.
Zum Glück wurde ein kleines Mädchen von einer Steinlawine verschüttet. Mama rief die Kolonialverwaltung an und bestellte ihren Namen. "Truthhild", verkündete Mama stolz. "Unsere Truthi."
Dann baute sie ein Kinderbett für "unsere Truthi". Papa lackierte es gelb und ich trat rein zufällig dagegen, als der Lack noch feucht war. Papa wurde wütend und schrie mich an, da musste ich dann mal zurückschreien. "Die Kolonie ist viel zu groß, und ihr wollt ein Kind kriegen!"
"Das hast du falsch verstanden. Hier bekommt niemand einfach ein Kind. Wir warten, bis ein Name frei wird und reservieren den. Dadurch bleibt die Kolonie immer gleich groß."
Eigentlich wollte ich ganz viel dazu sagen. Die Sauerstofftanks werden schneller geleert, als wir sie auffüllen können, deswegen können wir die Größe nicht halten. Wir müssen schrumpfen, oder die Kolonie bricht zusammen. Sowas wollte ich sagen, so wie die Gómez in Sachkunde immer.
Stattdessen zuckte ich die Schultern. Es hat keinen Sinn, Mama und Papa sowas zu erklären.
Mama wurde krank und kränker, je länger sie und Papa versuchten, Truthhild zu bekommen. Der Arzt gab ihr dauernd irgendwelche Tropfen. Sie war ständig zur Behandlung und Papa musste sie hinbringen. Ich war alleine zu Hause und langweilte mich. Mama und Papa hatten mehr Spaß gemacht, bevor diese Sache mit "Truthi" anfing. Ich wollte Truthi beenden, also wurde ich selber krank. Das versetzte Mama und Papa in helle Aufregung, ich war nämlich noch nie krank gewesen. Erst blieb Mama bei mir, dann musste sie ins Krankenhaus und Papa blieb mit mir zu Hause. Am zweiten Tag kam der Kolonialwart und wollte wissen, was los war. Mama würde auf der Arbeit fehlen und Papa jetzt auch, Papa wüsste doch, wie die Kolonie jeden brauchte, und Papa wäre doch sowieso schon so langsam, wenn er jetzt noch Pause machte, wie wollte er das jemals aufholen?
Papa erklärte es ihm. Als der Kolonialwart hörte, dass ich krank war, sah er mich merkwürdig an. Ich lag auf der Couch im Wohnzimmer eingekuschelt, damit ich fernsehen konnte. Papa ging in die Küche, um für ihn einen Kaffee zu holen, da kam der Kolonialwart zu mir und beugte sich runter. "Ich weiß, dass du nicht krank bist. Was soll das Theater? Morgen machst du auf gesund, ist das klar?", flüsterte er mir ins Ohr.
"Mir tut der Bauch weh", sagte ich ruhig. "Mir wird der Bauch oft wehtun, wenn ich eine Schwester bekommen muss."
Der Kolonialwart nickte. "Du bekommst keine Schwester, mach dir keine Gedanken. Morgen gehst du zur Schule, sonst komme ich her und hole dich ab."
Er folgte Papa in die Küche, wo die beiden eine Weile redeten, ohne dass ich was verstehen konnte. Ich überlegte, wie viel Angst ich vor dem Wart haben sollte. Sein Sohn Pete war ein fieser Arsch, aber der Kolonialwart nur ein Arsch. Trotzdem ging ich am nächsten Morgen vorsichtshalber in die Schule und schickte Papa zur Arbeit. Mama kam am Nachmittag aus dem Krankenhaus zurück. Sie und Papa redeten lange, irgendwann riefen sie mich dazu, um mir zu sagen, dass ich keine Schwester bekommen könnte. Das freute mich. Außerdem taten sie ganz geheimnisvoll und Papa sagte, er hätte mir eine Überraschung von der Erde bestellt, in ein paar Wochen bekäme ich ein tolles Geschenk. Das freute mich erst recht. Ich wollte gerade erzählen, jetzt wo der Gerümpelraum frei war und frei bleiben würde, dass ich mir vorstellen könnte, ein zweites Spielzimmer daraus zu machen.
Und dann kam Mama und sagte, sie und Papa hätten sich angemeldet, um einen älteren Bruder für mich zu adoptieren. Da hörte ich mit Freuen auf.
Der Bruder hieß Alex und zog in meinen gelben Gerümpelraum. Das einzig Coole an ihm war die gezackte Narbe über der Schläfe. Mama und Papa erlaubten ihm, an den Wänden herumzupinseln. Also kaufte er sich Farbe, bemalte drei Wände mit schwarzen Skeletten und die vierte Wand mit etwas, das wie eine Supernova aussah. Mama und Papa sagten, dass sie sich sowas nicht für ihre Wände ausgesucht hätten, aber dass Alex unheimlich gut zeichnen konnte. Sie lobten viel an ihm herum. Ich sollte nett zu ihm sein, weil er schon so viele Familien durch hatte und es ihm bis jetzt nirgendwo gut gegangen war, sagte Mama.
"Ich finde dein Zimmer potthässlich", sagte ich zu ihm, als es sonst keiner hörte. Alex zuckte nur die Schultern, strich sich mit zwei Fingern über die Narbe und drehte sich weg. Er sprach nicht viel, als er zu uns kam. Meistens blieb er in seinem Zimmer. Zugegeben, er störte nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte.
Bis Pete in der Schule mit diesen Witzen anfing. Weil doch jede Familie einen Sohn und eine Tochter hatte, wenn Alex der Sohn wäre, müsste ich das Mädchen sein.
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Ich knallte Pete eine. Bloß dann kamen Theo und Jorge und seine anderen Freunde. Am Ende trat Pete mir in den Magen, in die Rippen und gegen den Kopf, während Theo und Jorge mich festhielten.
Frau Rietmeyer, meine alte Lehrerin aus der Zweiten, ging dazwischen. Da lag ich schon eine Weile auf dem Boden. Sie kreischte rum wegen dem Blut, aber als sie mich erkannte, beruhigte sie sich.
"Tut nicht schlimm weh, oder?", fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. Es tat ein bisschen weh, aber das ging die Rietmeyer nichts an.
"Dann steh auf. Wir gehen zu Doktor Perrera. Dass du nicht nochmal eine Prügelei anfängst! Wehe, du! Hast du das verstanden?" Dabei hat die mich so am Arm rumgezerrt, immer hinter sich her, ich wollte schon sagen, ich bin doch keine Puppe.
Bei Perrera muss man immer lange warten, weil er der Beste ist. Als ich dran kam, wurden mir meterweise Bandagen umgewickelt, ich konnte kaum noch rausgucken. "Deine Eltern dürfen auf keinen Fall darunter sehen, in Ordnung? Für die Verbandwechsel kommst du zu mir", sagte Doktor Perrera. Er war längst fertig, als Mama kam, um mich abzuholen. Sie flatterte ins Zimmer und schlug die Hände vor den Mund, als sie die Verbände sah.
"Machen Sie sich keine Sorgen, das sieht schlimmer aus, als es ist", sagte der Doktor. "Nach dem, was mir erzählt wurde, hat sich Ihr Sohn die Prügel selbst zuzuschreiben."
Zum Glück hört Mama nie bei sowas zu. "Madre mía! Schatz, tut das weh?", rief sie.
"Ja", sagte ich. Es kam vielleicht etwas weinerlicher raus als nötig. Ich ließ mich von Mama in den Arm nehmen, gab ja kaum Zeugen. Über ihre Schulter warf ich Doktor Perrera einen wütenden Blick zu. Der verdrehte die Augen und drohte mir mit dem Finger, aber er grinste dabei. Mama streichelte über meinen Kopf und flüsterte mir zu, dass mein Geschenk angekommen wäre. Ich war noch immer sauer wegen Pete, seinen Freunden und der Rietmeyer, aber auf das Geschenk wurde ich neugierig, das ist ja klar. Ich wollte schnell nach Hause.
"Paar Tage, dann ist wieder alles mit ihm in Ordnung", sagte Doktor Perrera und hielt Mama die Tür auf.
"Doktor Perrera ist ein Netter, findest du nicht?", fragte Mama, als wir draußen waren.
Ich überlegte kurz. "Geht so", antwortete ich.
"Was ist überhaupt passiert? Erzähl mal."
Papa war vor uns zu Hause, dabei hätte er eigentlich Überstunden machen müssen, aber er schafft das nicht so. Er riss die Tür auf, lachte und war ganz albern und lustig, sah mich und erschrak zu Tode wegen der Verbände. Genau wie Mama. Das liegt daran, dass sie keine Ahnung haben, wie schnell ich repariert bin. Nachdem ich erklärt hatte, wie wenig einem der Kopf wehtut, wenn man eine Überraschung bekommt, zog Papa mich in die Küche. Freudestrahlend zeigte er auf einen Kasten, der auf dem Tisch stand. Der Kasten war mit einem dunklen Tuch abgedeckt. Aufgeregt riss ich das Tuch ab - was ein Riesendurcheinander aus Federn, Geflatter und Geschrei auslöste. Es waren Vögel. Große, erschrockene Vögel.
"Wo habt ihr die denn her?", fragte Alex, der in der Tür aufgetaucht war. Er sah ziemlich entsetzt aus. Ich war das auch, entsetzt, aber wenn Alex sie nicht mochte, dann gefielen mir die Vögel aus Prinzip.
"Das sind meine", sagte ich laut.
Papa legte einen Arm um Alex' Schultern. "Das ist ein Geschenk dafür, dass Ben so geduldig war, als Mama ins Krankenhaus musste. Weißt du was, du solltest auch ein Geschenk haben, ein Willkommensgeschenk. Wünschst du dir was Bestimmtes?"
Ich fand es unnötig, dass Alex ein Geschenk bekommen sollte, nur weil er da war. Aber meinetwegen. Er schüttelte den Kopf. "Ich wünsche mir, dass die Viecher nachts leise sind."
Papa lachte. "Nachts schlafen die, morgens könnte ein Problem sein. Das sind bestimmt Frühaufsteher. Sieh mal", er hockte sich vor den Käfig, in dem inzwischen Ruhe eingekehrt war, "die zwei sind ein Pärchen. Man darf sie nie einzeln halten, haben die auf der Erde gesagt. Du hast ein Männchen und ein Weibchen, wie sollen sie heißen?"
Ich betrachtete die Vögel, die dicht aneinandergedrängt auf einer Stange saßen und zurückguckten. Einer war braungrün, der andere schillernd bunt. Die Gurke und ihr Freund. "Pedro und Lieselotte", sagte ich. "Woher weiß ich, wer wer ist?"
"Der Schönere ist immer das Weibchen", versicherte Papa. Mama knuffte ihn in die Seite und lachte.
Zwei Wochen später legte Pedro ein Ei. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, aber Pedro legte das Ei von ihrer Sitzstange aus. Es fiel runter und war sofort kaputt. Trotzdem wollte Pedro ein Nest bauen, rupfte sich Brustfedern aus, jagte Lieselotte durch den Käfig und benahm sich auch sonst sehr anstrengend. Alex und Papa hatten eine Voliere in mein Zimmer gebaut, in der Pedro aufgeregt hin und herflog und ihr Ei suchte. Ich hatte den Schnodder längst weggewischt. Nach vier Tagen legte Pedro ein neues Ei, am fünften Tag war auch das zermatscht.
"Ich glaube, deine Vögel sind zu doof dafür", meinte Alex.
"Sind sie nicht!" Ich hielt Pedro ein Salatblatt hin, aber die ließ sich nicht ablenken. Ihre Brust war nackt und blutig. Der völlig verschüchterte Lieselotte kauerte in einer Ecke und sagte gar nichts mehr.
"Es liegt bestimmt an der Umgebung. Wir wissen nicht, was Pedro braucht, um ein Nest zu bauen und Junge großzuziehen", tröstete Mama mich.
Alex setzte sich an den Computer und fand es heraus. Einen Brutkasten, Nistmaterial und so weiter. "Ist aber egal, in der Kolonie darf Pedro keine Eier haben", stellte er fest. "Kolonialisten dürfen nicht wahllos neue Lebewesen produzieren, man braucht eine Genehmigung. Und deine Vögel sind hier beide gemeldet als 'Mängelexemplare', guck mal." Alex zeigte auf den Bildschirm. Tatsächlich, da waren Fotografien von Pedro und Lieselotte mit ihren Registrationsnummern und dem Vermerk "Fitnessquotient: 0,85 - zur Zucht nicht zugelassen".
"Was soll ich jetzt machen?", fragte ich.
"Ja was?", fragte Mama. "Wir können doch nicht zu Pedro sagen 'verehrte Dame, seien Sie vernünftig'?"
"Nein, wir sollen ihr ein Gipsei geben. Das Gipsei zerbricht nicht und Pedro ist zufrieden. Die echten Eier nehmen wir weg und vernichten sie", erklärte Alex.
"Ja? Lass mich sehen." Ich drängelte Alex vom Bildschirm weg.
"Geht das auch freundlicher?", fragte Mama. "Dein Bruder hat dir eben geholfen und du schubst hier rum, muss das sein?"
>run acquired behaviour #24;
"Tschuldigung." Ich mag es überhaupt nicht, wenn sie sauer wird. "Das Gipsei lässt sich wiederverwenden beim nächsten Mal", las ich. "Die merken nicht, dass sie immer dasselbe Ei untergeschoben kriegen."
"Ist das nicht komisch für Pedro und Lieselotte, wenn sie brüten und es kommt nichts dabei heraus?", wollte Mama wissen.
"Schätze, für die Gipseier ist es auch nicht toll", sagte Alex und schlug mir auf die Schulter.
>security alert;
Ich sah ihn an. "Hier steht, das Bruterlebnis allein zählt."
Alex hatte Gips, von dem er mir was abgab. Er baute Modelle aus dem Zeug. "Hier, musst du mit Wasser anrühren", meinte er.
Ich rollte eine schiefe Gipskugel in der Größe von Pedros Eiern und legte sie zum Trocknen in die Fensterbank. Vielleicht würde Pedro mit dem Gipsei besser zurechtkommen als mit einem echten.