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Die Abenteuer des Harry Harrison: Die Geburt eines Gauners (1)
Als ich das Gebäude der Tankstelle betrat, kratzte sich der Kassierer gelangweilt den Kopf.
‚Ho-ha’, dachte ich und sah mich unauffällig um. In der Zeitschriften-Ecke fielen mir sofort die zwei minderbemittelten Typen auf, die in bunten Heften mit kaum bekleideten Mädchen blätterten. Kein Problem.
Die Schlafgas verschießende Knarre rutschte wie von selbst in meine rechte Hand. Ich machte einen Umweg in die erwähnte Ecke, hielt dem größeren der beiden den Ballermann unter die Nase und drückte ab. Er verdrehte hübsch die Augen und sackte zusammen. Wie lustig!
Natürlich machte das den Anderen stutzig und er sah mich böse mit viel zu buschigen Augenbrauen an. „Hast du das hier schon gesehen?“, fragte ich ihn und zeigte ihm meine Knarre aus nächster Nähe, bevor ich sie abfeuerte. Er japste und legte sich neben seinen Kumpel schlafen.
Der Kassierer war jetzt doch auf mich aufmerksam geworden und musterte mich misstrauisch. Wie viele Menschen mit zusammen gewachsenen Augenbrauen gab es hier eigentlich...?
„He, was machst du da?“, blaffte er mich düster an.
‚Ha’, dachte ich grinsend. ‚der Langweiler hält mich tatsächlich für einen pubertierenden Jugendlichen. Wie hübsch!’
„Ha...haben Sie auch Zei...Zei...Zeitschriften mit di...dicken Frauen?“, fragte ich ihn ängstlich stotternd und kam langsam näher. Der Kassierer grinste jetzt unverschämt breit. Er musterte mich von oben bis unten. Wobei seine Wangen wie zwei fettige Schwarten glänzten.
„Bist du denn schon volljährig?“, fragte er mich, ohne seine Musterung zu beenden.
„Natürlich!“, pfiff ich ihn an und drückte ihm meine Knarre an den runzeligen Hals. „Dürfte ich sonst Schusswaffen bei mir tragen?“
Erschrocken versuchte er zurück zu weichen. Ich folgte ihm und stieß ihn gegen die Kasse.
„Mach den Beutel mit Scheinen und Münzen voll, Augenschnauzbart! Oder ich lass deine Halswirbel unter der Kasse tanzen...“, rief ich ihm zu und erwiderte sein fieses Grinsen von vorhin.
Der Kassierer tastete nach einem versteckten Alarmknopf, das konnte ich sofort sehen. Ich ließ ihn machen – etwas Aufregung tat mir sicher ganz gut! Kurz darauf heulte die Sirene los. Vermutlich hatte der feiste Kassierer jetzt damit gerechnet, dass ich in Panik verfalle und aus dem Laden stürme.
„Komm schon, mach den Sack endlich voll, Schmierbacke!“, schrie ich den Kerl an, der so perplex war, dass ich den restlichen Inhalt der Kasse selber in den Beutel schütten musste. Ich verstaute ihn in meiner Jackentasche und schaute den Kassierer böse an.
„Das ist dafür, das du mich an die Bullen verraten hast!“, lachte ich meckernd und feuerte die Knarre ab. Seine buschigen Augen verdrehten sich aufs Allerfeinste und er sackte wie ein Stein in sich zusammen. Das Schlafgas meiner Waffe würde ihn die nächste Stunde schlummern lassen und danach noch eine Weile mit stechenden Kopfschmerzen belohnen. Geschah ihm nur recht!
Von weitem hörte ich eine Polizeisirene schnell näher kommen. Jetzt wurde es Zeit für mich. Ich stopfte mir noch zwei Schokoriegel in die Tasche und einen Jum-Gum und eilte aus dem Tankstellengebäude. Und sah die beiden Polizeischweber, die gerade neben der vorderen Deuterium-Zapfsäule hielten. Und sie hatten mich sofort entdeckt. Das sah nicht gut aus!
Ich rannte hinter das Gebäude, geradewegs in eine Werkstatt hinein. Vielleicht hätte ich mir die Gegebenheit doch vor meinem Raub ansehen sollen? Dazu war es jetzt natürlich zu spät. Wohin jetzt? Denk nach, Harry Harrison - du oberschlauer Gauner und Trickdieb!
Hinter mir rauschten die beiden Polizisten heran und zogen ihre gefährlich aussehenden Waffen, von denen ich sicher war, das sie nicht so harmlos waren, wie meine Knarre.
„Bleib stehen, Freundchen! Zwing uns nicht zu schießen...“, dröhnte der eine von ihnen. Jetzt wurde es langsam lustig.
„Lasst mich leben, ich hab drei Mütter und fünf Großväter zu versorgen!“, rief ich erschrocken und zündete zwei Rauchgranaten, von denen ich immer einige an meinem Gürtel trage. Dazu noch eine von den Granaten, die große Übelkeit hervorrufen - das sollte ausreichen.
Während ich in die altertümliche Schlossergrube sprang, steckte ich mir Filter in die Nasenlöcher und setzte die Nebelbrille auf.
Schüsse peitschen – diese wahnsinnigen Gesetzeshüter feuerten tatsächlich wahllos in die Werkstatt, um mich zu erwischen! Dann kamen sie selbst herein und tapsten durch die vernebelte Bude. Hustend und keuchend vor Übelkeit fanden sie sich plötzlich am Boden wieder und entleerten lautstark ihre Mägen.
Ich zündete noch eine Rauchgranate, kletterte aus der Grube und schlich zum Ausgang. Als ich fröhlich heraustrat, rannte ich geradewegs in die Arme zweier weiterer Polizisten!
„Er ist da drin und schießt um sich!“, keuchte ich und warf mich schluchzend auf den Boden. Ihre Waffen ziehend jagten sie hinein in die Werkstatt.
Jetzt aber ab, bevor noch mehr von den tumben Gestalten hier auftauchten! Ich trat auf die Strasse und wäre um ein Haar von einem Schweber angefahren worden. Der dicke Fahrer bremste im letzten Moment und wollte mich gerade anbrüllen, als ich ihm die Knarre in den Nacken drückte und mich hinter ihn auf das Fahrzeug setzte.
„Fahr los, wenn du leben willst!“, sagte ich dunkel und so böse wie mir möglich war. Er verstand mich umgehend und gab Gas. Um ein Haar wäre ich rücklings vom Schweber gekippt, dann hatte ich mich gefangen. Sehen konnte ich allerdings überhaupt nichts, der breite Rücken meines unfreiwilligen Fahrers nahm mir jede Sicht. Dafür konnte ich hinter mir erkennen, dass zwei der Polizisten gerade ihre Schweber bestiegen um mir zu folgen. Sie hatten mich entdeckt!
Verdammt, ich musste den Dicken loswerden. Unser Fahrzeug war eindeutig zu lahm und meine freie Sicht war eindeutig zu eingeschränkt.
„Nach links!“, dirigierte ich ihn und er gehorchte umgehend. Gut so!
„Weiter – weiter, links. In den Park!“ Langsam machte mir die Flucht Spaß.
„Knisch dref na nech hein.“, brubbelte er vor mir, ohne das ich ihn verstehen konnte. Was war los?
„Doch, rein da. Flieg direkt über den Teich!“ Ich verstärkte den Druck meiner Knarre in seinem Nacken. Auch die beiden Polizisten bogen in den Park ab.
Als unser Fahrzeug über den Teich glitt, gab ich meinem Fahrer einen gehörigen Schubs, der in hinunter katapultierte. Platschend versank er im Teich. Nass und prustend kam er aber wieder hoch und schwamm ans Ufer. Gut so, jetzt war ich schneller und sah wieder etwas. Ich übernahm die Steuerung.
„Grüß mir die Karpfen!“, rief ich ihm noch hinterher und wäre fast um ein Haar gegen einen Baum geflogen. Der Teich war zuende, dahinter lag lockerer Mischwald. Als ich mich kurz umdrehte, sah ich erschrocken die beiden Polizisten, von denen einer seine Waffe gezogen hatte und auf mich zielte. Haken, links – rechts, und ab in den Wald! Ha, hier war mein Fahrzeug im Vorteil. Die Polizeischweber waren deutlich klobiger und blieben rasch hinter mir zurück. Allerdings musste ich wegen der Bäume doch höllisch aufpassen!
Mehrere Minuten preschte ich zwischen den Bäumen hindurch. Hinter mir konnte ich niemanden mehr entdecken. Hatte ich das schiesswütige Pack abgehängt?
Schlagartig war der Wald zuende. Ich flog jetzt geradewegs auf die Steilküste zu. Hervorragend! Der Ort, den ich auch als Ende meiner Flucht auserkoren hatte. Von meinen Verfolgern war noch nichts zu sehen.
Fröhlich pfeifend fuhr ich weiter die Strasse entlang – ich, Harry Harrison, der Wohltäter! Ja, sie lesen richtig, ich fühle mich wahrhaft als Wohltäter. Warum? Na, ich gebe der Polizei etwas zu tun. Die Öffentlichkeit bekommt was zu diskutieren, die Nachrichtensender neue Dinge zu berichten. Und was kostet all diese Unterhaltung, diese soziale Wohltat? Nichts! Und die Tankstellen, Geschäfte und Banken? Was nehme ich ihnen? Nichts! Nur Geld, ausnahmslos versichert! Wenn ich ein Geschäft beraube, bekommt es das Geld von der Versicherung ersetzt, die im Jahresabschluss vielleicht die Dividende um einen kaum spürbaren Betrag senken muss. Jeder Anteilseigner erhält einen tausendstel Credit weniger Rendite. Das ist kein Opfer, wahrlich nicht! Ja, ich war wirklich ein Wohltäter....
Hinter der nächsten Kurve registrierte ich eine Gruppe langsam fahrender Leichtschweber. Wahrscheinlich irgend eine Ausflugstruppe. Ob ich mich wohl unter sie mischen konnte? Natürlich konnte ich nicht wiederstehen...
Ich schloss zu der Gruppe auf und überholte die letzten Fahrzeuge. Und landete neben einer älteren Frau mit einem Dackelgesicht. Ziemlich erschrocken glotzte sie mich an.
„Du gehörst sicher nicht zum Häkelclub Südost, oder?“
Häkelclub? Was zum Teufel war das? Hörte sich zumindest gefährlich an.
„Nein, nein“, stotterte ich, „Noch nicht. Ich bin vorerst Anwärter...“
„Das ist gut. Hast du bereits Vorkenntnisse?“ Das Dackelgesicht sah mich erwartungsvoll an.
Hoho - jetzt hieß es aufpassen! Wie konnte ich mich da rausreden, ohne verdächtig zu wirken? Hinter der Kurve erschienen die beiden Polizeischweber und kamen schnell näher. Ich duckte mich und rückte näher an die Alte heran.
„Also nicht? Gut, den Anfangsfaden musst du mit Daumen und Zeigefinger festhalten. Mit dem langen Faden von rechts nach links eine Schlinge legen, sodass der lange Faden oben liegt. Diesen Faden hinter der Schlinge über den Zeigefinger legen, zwischen Ringfinger und kleinem Finger festhalten...“
So ging es noch eine zeitlang weiter, aber ich hörte nicht mehr hin. Während einer der Polizisten an uns vorbei fuhr, drosselte der andere sein Tempo und musterte unsere Gruppe. Hatte er mich schon entdeckt? Ich begann zu schwitzen.
„...Arbeitsfaden um den kleinen Finger und dann über Mittel- und Zeigefinger legen. Die Nadel zwischen Daumen und Zeigefinger wie einen Bleistift halten. Anfangsschlinge zwischen Daumen und Zeigefinger der anderen Hand halten. Hast du das verstanden?“
Das Dackelgesicht sah mich fragend an und schien eine Antwort zu erwarten. Mist, was hatte sie erzählt? Der Polizist sah sich misstrauisch jeden aus der Gruppe an.
„Natürlich. Sie haben es ja so toll erklärt...“, log ich und lockte ein Strahlen auf ihr Gesicht.
„Dieser junge Mann hier, Herr äh, Herr...wie war noch mal der Name?“
„Dackel.... Daniel Dackel.“ Was besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein.
„Hört mal alle her! Herr Dackel hier möchte unserem Häkelclub gerne beitreten und ich halte ihn für sehr talentiert!“
Alle sahen zu mir herüber, auch der Polizist. Und natürlich erkannte er mich wieder und begann zu mir aufzuschließen. Verdammt! Ich gab Gas und überholte die verrückte Gruppe.
„Ich fahr schon voraus und unterschreib die Eintrittserklärung!“, rief ich ihnen noch zu, dann jagte ich los. Der Polizist hatte das auch gesehen und folgte mir. Gefährlich schnell holte sein Schweber auf. Aber ich hatte mein Ziel fast erreicht. Noch um die nächste Ecke biegen... und geradewegs in den Hinterhalt des anderen Polizisten hinein! Er erwartete mich mit der Waffe im Anschlag.
Alles bestens! Rechts stiegen Felsen fast senkrecht in die Höhe, links waren nur noch Leitplanken. Dahinter befand sich die Steilküste, dort ging es mehrere hundert Meter bergab. Hinter und vor mir die Polizei. Aber mein Timing war perfekt.
„Lebend fangt ihr mich nie!“, brüllte ich und riss das Lenkrad meines Schwebers herum. Das Fahrzeug prallte gegen die Leitplanken und ich wurde die Steilküste hinunter geschleudert.
Jetzt denken Sie bitte nicht, ich wäre lebensmüde. Die Aktion hatte ich natürlich vielfach trainiert und geübt, für einen Ernstfall wie jetzt! Während meines kurzen Flugs packte ich mir das im Strauch hängende Seil. Dieses hatte ich dort vorher natürlich deponiert. Am Seil schwang ich kreisförmig nach unten, bis ich im Regenschacht landete, der einige Meter unter der Strasse verlief und hier aus dem Felsen austrat. Das Gitter des Schachts hatte ich ein paar Tage vorher entfernt. Ich nahm die hier abgelegte Puppe – zufällig sah sie mir ähnlich - und schleuderte sie den Abhang hinunter.
Die Polizisten, die zweifelsohne von ihren Maschinen abgestiegen waren, um meinen spektakulären Sturz zu beobachten, würden zufriedenstellend mein Ableben miterleben können. Zumindest scheinbar. Ich hatte – wie vorherzusehen - auf ganzer Linie gesiegt!
Fröhlich pfeifend stapfte ich durch den Regenschacht. Ich war halt doch ein ausgekochtes Schlitzohr und würde es noch weit bringen. In einer Welt, in der überall reife Äpfel hingen, die nur darauf warteten, gepflückt zu werden.
Um ein Haar wäre ich vor Freude gehüpft.
Weitere Infos zu Harry Harrisons Stahlratten-Zyklus sind hier zu finden. Meine "Abenteuer-des-Harry-Harrison-Serie" lehnt sich daran an, zumindest schreibtechnisch.