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Die Abenteuer des beständigen Reisenden
Manchmal besuche ich noch bekannte Orte. Ich besuche dort die Geister, die ihren Weg einst mit mir teilten.
Am selben Tag flog ich nach Mailand, Bergamo. Ich stieg in den Zug. Natürlich wusste ich sofort welchen ich nehmen musste, schließlich bin ich schonmal hier gewesen. Die Stadt zog vorbei, dann Dörfer. Grau, braun, grün und schließlich dunkelblau. Ich sah die Wellen des Lago Maggiore. Dann konnte ich bis in die Schweiz blicken, ich wusste ich musste aussteigen. Der italienische Charme wärmte mich auf. Zerbröselnde Ziegel, abstehende Kabel und doch fühlte man sich wohl. Der Straße am Bahnhof musste man nach links folgen. Nach rechts ging es zur Schule, vielleicht ein Halt für einen anderen Tag. Man musste rasenden Kleinwägen ausweichen, während man unter den Eichen lief. Noch immer hatte sich keiner um die verfallene Villa gekümmert, der russische Millionär schien noch auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Ich musste vor Glück grinsen. Der kleine Hund, der noch nicht in sein Fell gewachsen war, lag wie am ersten Tag in der Sonne. An einem anderen Tag werde ich ihn auf mich aufmerksam machen, vielleicht freut er sich dann wieder über mich. Ich erreichte die Hauptstraße, welche die Kommunen miteinander verband. An der Kreuzung sah ich meine damalige Wohnung. Noch immer waren alle Rollläden runtergelassen, obwohl es mitten am Tag war. Ob die alte Dame von oben noch lebt? Zumindest schien noch wer dort zu wohnen, Glasmüll stand vor der Tür. Ich erinnerte mich an all die Weinflaschen, die ich dort hingestellt hatte. Der kleine grüne Eimer reichte mir nie. Mit schnellen Hopsern sprang ich zur anderen Straßenseite. Ich lief den schmalen Weg zum Wasser hinunter. Als ich das Ufer erreichte, grollte es. Wolken schrien zu mir hinab. Sie ließen sich fallen, als wollten sie mich erdrücken. Ich sah den Schnee auf den Bergen und zog meine Klamotten aus. Dann sprang ich ins Wasser. Isola Bella ragte vor mir aus dem See. Es war so kalt, dass ich nicht richtig Atmen konnte, doch ich schwamm weiter. Der Wind wurde stärker, die Wellen schlugen auf mich ein, bis ich unter die Oberfläche gedrückt wurde. Etwas strahlte von unten, es zog mich an. Ich gab nach und schwamm nach unten. Es wurde heller und heller. Als ich es erreichte, wurde das Licht angenehmer. Dann merkte ich, dass es etwas war, dass ich vor langer Zeit hier vergessen hatte. Es waren Wünsche und Träume. Ich griff danach und mich durchtränkte Trauer und Sehnsucht. Es war noch viel mehr. Hier lag der Hammer, der damals Risse in mich geschlagen hatte, hier lagen die Scherben meines naiven Optimismusses und hier lag, auf dem Grund des Lago Maggiore, meine alte Liebe vergraben.
Ich beschloss nicht mehr aufzutauchen. Den Druck in meiner Brust würde ich aushalten und auf das Atmen verzichten. Das Licht verschwand. Ich akzeptierte die Dunkelheit. Nach wenigen Minuten begann ich reglos zu treiben.
Der Verkäufer war Mitte zwanzig und zu meiner Verwunderung sprach er fließend englisch. Die Idee des angenehm kleinen Ladens war es Wein und den dazu passenden Roman zu verkaufen. Das fand ich ansprechend, auch wenn die Romane auf französisch waren und mir der Verkäufer etwas zu elitär rüberkam. Damals kaufte ich zwei Flaschen.
Der Geruch war vollständig verschwunden, als ich durch die Gassen Montmartre´s lief. Alte Künstler, Literaren und Musiker spannten gemeinsam eine Blase der Atmosphäre auf. Als ich in sie trat wurden die Lichter auf den Straßen heller, das Klirren der Gläser lauter und der Himmel verschwand in einem Tiefschwarz. In der heißen Masse wurde ich ständig überholt, doch niemand rempelte. Als wären sie ein Fluss und ich ein Stein: sie wanden sich elegant um mich herum. Das Essen duftete, der Wein lief. Es wurde gelacht, philosophiert, gesoffen und geträumt. Wer würde sich an einem solchen Ort nicht wohlfühlen? Ich erreichte die endlos langen Treppen und entschied mich bewusst gegen den Aufzug auf Schienen. Mit jeder Stufe wurde mir heißer, schon wieder schlängelten sich Menschen an mir vorbei. Ist ihnen nicht auch so heiß? Ich zog meine Jacke und meinen Pulli aus. Als ich das Ende der Treppe erreichte, hätte ich mich ganz ausziehen können. Mir war elendig heiß, dabei liefen alle in Winterjacken herum. Mir wurde ein Heineken in die Hand gedrückt. Ich legte in die fordernde Hand ein Zweieurostück und lief weiter. Dann setzte ich mich auf die Stufen. Dem Bierverkäufer schienen die zwei Euro nicht zu reichen, doch ich drückte mir Kopfhörer in die Ohren und machte Musik an. Hinter dem Jubeln spielte das Klavier. Paul fing an zu singen, das Gejubel verstummte. Er sang The Long And Winding Road. Ich öffnete mein Bier, vielleicht würde mir das gegen die Hitze helfen. Ich setzte die Flasche erst ab, als sie leer war. Mit dem dumpfen Schlag des Alkohols spürte ich jemanden neben mir. Sie hörte mit, grinste der Aussicht entgegen. Sie fand Paris schön bei Nacht, besonders von hier oben. Ihre Wangen glühten vom Wein. Ich weiß nicht mehr was genau ich sagte, aber sie schien es lustig zu finden und lachte. Ihr Lachen ist schon immer besonders gewesen. Es war gezeichnet durch Schmerz. Selbst in den schönsten Momenten, in den leisesten Nächten, an den lautesten Tagen sickerte er durch. Sie wusste, dass ich ihn verstand, denn auch sie hatte die Einsamkeit zu akzeptieren gelernt. Wir waren zu viert auf unserem schmalen Weg und für einen Moment, mit Paris vor uns und der Basilika im Rücken, schien alles richtig zu sein.
Doch dann wurde aus wohligem Gefühl Nadelstiche, aus ihrer Wärme eine unerträgliche Hitze. Ich konnte nichts mehr dagegen tuen, sie zersetzte mich von innen. Glied um Glied, Organ um Organ, Zelle um Zelle schmolz ich dahin. Mit Musik in den Ohren und Bier im Bauch erlag mein Körper der Hitze, über den Gassen von Montmartre.
Und da war sie wieder, die Einsamkeit. Doch diesmal ertrank ich nicht in ihr und schmolz auch nicht. Sie fühlte sich gut an, als hätte ich zu einem alten Freund wiedergefunden. Ich lief nicht weiter, fand mich damit ab nicht auf dem Weg zu sein. Ich schaute hoch und genoss die Sonne auf meinem Gesicht.
Jeden Tag reise ich an einen anderen Ort. Ich fliege durch Raum und Zeit, sehe Bekanntes, entdeckte Neues. Ich bin das Einzige, das beständig bleibt. Ein Passant sagte mir mal, dass die Trauer kein Feind sei, sondern ein Abenteuer. Dabei gebe ich ihm recht. Jeden Tag erleben wir neue Abenteuer, mein Begleiter und ich.