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Die Äußerung des Innersten

Seniors
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18.04.2002
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Die Äußerung des Innersten

„Tach Lena, wie lieb, dass du mich abholst! Pünktlich wie immer.“

„Na klar, Paula. Es wird früh dunkel. Wenn wir bis zum Friedhof laufen wollen müssen wir los. Ich hab auch Lust auf eine Tasse Kaffee.“

Die etwa siebzig Jahre alte Frau hakt sich bei ihrer Gefährtin ein. Diese ist älter, wirkt jedoch viel resoluter, als ihre dünne Freundin. Offensichtlich genießen die beiden die gemeinsame Unternehmung.

„Das war ein schöner Nachmittag mit dir! Tschüss, Lena, geh du mal zur Bahn.“

„Tschüss, Paula!“

Der Hausflur riecht streng nach Katze. Zielstrebig geht die Witwe hoch in den zweiten Stock. Dort ist ihre Wohnung, die im ersten steht schon lange leer, das Haus, überhaupt das ganze Viertel ist ziemlich heruntergekommen – die Möbelfabrik wurde vor einigen Jahren aufgegeben, auch der Supermarkt. Viel Vertrautes ist verschwunden, das Neue nicht unbedingt ein Gewinn. Das Treppensteigen fällt Paula ziemlich schwer, sie ist müde …

… erst pennt die Oma wie tot, dann überrascht sie mich doch noch auf dem Balkon. Dabei bin ich sowieso am Abhauen.

Ein Windstoß – die Balkontür fällt hinter ihr ins Schloss. Einbruchsicher. Pech.

So ein bockiges, dämliches Weib, schreit rum. Widerlich, diese Kittelschürze und der elende Zwiebeldunst in ihrer Nähe. Ich zerre sie an ihren Haaren, sie soll sich hinsetzen.

Sie zittert, schwitzt, in Endlosschleife Gedankenblitze … ‚nein, nicht … nein, nicht … nein‘, beklemmendes Entsetzen zernagt ihre Brust, ein aussichtsloses Kreischen schleudert sie ihrem Peiniger entgegen.

Natürlich schlage ich zu, muss ihr das Maul stopfen.

Es ist nutzlos: Der Mann realisiert, dass unten im bizarren Schattengespinst der verrosteten Laterne Leute stehen geblieben sind. Weiße Flecken, das Abbild sensationsgieriger Gesichter.

Sie wimmert vor sich hin. Ich triumphiere über dieses zerstörte Wesen in meiner Gewalt, stehe aber vor verschlossener Tür. Scheiße, in was hat die mich reingezogen? Wie komme ich da weg mit dem Geld?

Eine kräftige, raue Stimme: „Du, Bubi – was machst du da?“ „Wirst du mit der Oma nicht fertig?“

„Ihr Pisser – verzieht euch …“

„Sonst was?“ „Ja, was?“

Es wird unangenehm heiß unter seiner Maske. Sie ist verrutscht, er schnauft atembehindert. Gehetztes Denken, panikgetriebenes Überlegen, Ausweglosigkeit.

„Verzieht euch, sonst werfe ich die blöde Kuh runter!“

„Ach ja?“ „Jetzt gleich?“

„Ich machs, ihr Idioten, haut ab!“

„Angeber!“ „Feigling, Feigling – Großmaul!“ „Was bildet sich der Blödmann in seinem lächerlichen Ninja-Outfit bloß ein?“ „Hey, Penner, haste die Hosen voll?“

Eine feige Provokation: gewissenloses Wohlbefinden.

„Ihr Arschlöcher, kommt doch rauf! Dann schmeiß ich euch samt der Alten auf die Straße!“

Für einen Moment scheint die Umgebung verzerrt um die Frau zu tanzen: von Angst gepeitschte Sinneseindrücke, verwaschene Formen und Farben. Ihr Magen krampft etwas Klebriges in ihre Speiseröhre; ein Pfeifton durchdringt ihren Schädel, das linke Ohr hämmert Schmerzen in ihr Bewusstsein. Ein Röcheln, das armselige Bruchstück eines Hilferufs, der Beginn wütender Verzweiflung.

Jetzt schlägt sie wild um sich, stößt mich ans Geländer. Das lasse ich mir nicht bieten! Sie ringt mit mir, ich prügle ihr den letzten Rest Widerstand aus dem Körper. Ihre Hand kratzt über mein Gesicht. Meine Maske fällt – sie erkennt mich. Da staunst du Oma: Ich bins – der sonst so ‚nette junge Mann von der Tankstelle‘. Nix wie weg, die Fassade hoch, brauche weder eine Zeugin, noch das hämische Geschrei von den Idioten da unten. Ich zerre an dieser unförmigen Gestalt, schon wieder Zwiebelgestank …

„… hallo Schwächling! Versager!“ „Loser, die Bullen kommen!“

Ein dumpfer, eigentlich harmloser Ton; unnatürlich greifbares Erstaunen, vereinzelte Schreie. Verlegenheit, keine Scham – eher rechtfertigender Trotz im Gemurmel.

Er blickt über das Geländer nach unten: Vor ihm uneinsehbare Tiefe – es ist sein selbst gewählter, innerer Abgrund. Es gibt keine Ausreden. –

„Ihre Verteidigung behauptet, dass sie erst aufgrund der Rufe von der Straße dazu verleitet wurden, Frau Ottmann vom Balkon zu stoßen. Man führt ihre besondere Vulnerabilität infolge Ihrer problematischen psychischen Konstitution an. Aber es ist doch so – Sie haben die Leute erst durch Ihre Äußerung, ich zitiere: ‚Verzieht euch, sonst werfe ich die blöde Kuh runter‘ auf die Idee des Stoßens gebracht. Herr Magwarth, was sagen Sie dazu? Sie haben den Tod der Rentnerin billigend in Kauf genommen!“

Der Mann steht auf, provozierend langsam, streckt sich. Er hebt die rechte Faust, dreht sich nach links zur Wand – sein Mittelfinger schnellt empor.

 

Tach Lena, wie lieb, dass du mich abholst! Pünktlich wie immer.“ „Na klar, Paula. Es wird früh dunkel. Wenn wir bis zum Friedhof laufen wollen müssen wir los. Ich hab auch Lust auf eine Tasse Kaffee.“

„Das war ein schöner Nachmittag mit dir! Tschüss, Lena, geh du mal zur Bahn.“ „Tschüss, Paula!“

Sorry, so sehr mir dein Text auch gefallen hat, aber diese Eröffnung ist ein Ärgernis. Diese Dialogszenen wirken wie aus einem Konversationslehrbuch. Diese formelhaften Wendungen lassen keinerlei lebendige Atmosphäre entstehen. Das Ganze wirkt einfach nur leblos.

Dabei hätte gerade der Kontrast zwischen einer authentischen Alltagsszene und der darauffolgenden Gewalttat die Wirkung des Textes noch erheblich verstärken können.

Ab der Gewaltszene gewinnt die Erzählung erheblich an Kraft. Der geschickte Perspektivwechsel, die eindringliche Darstellung der Eskalation sowie die beklemmende Rolle der anonymen Zuschauermasse erzeugen eine durchaus verstörende Intensität. Auch die psychologische Verfasstheit des Täters wurde für mich in ihrer Komplexität greifbar.

Auch die Gerichtsszene hat mir gefallen, weil dieses "Wer ist zuerst auf die Idee gekommen", für mich nur umso mehr die kollektive Mitverantwortung unterstrichen hat.

Sehr gerne gelesen

Gruß, Morgoth

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Woltochinon -- hier nun mein Gegenbesuch in der Challenge.

Einen beinharten Text hast du verfasst; ich muss dazu sagen, dass sich in meinem Berufsleben tatsächlich mal so was abgespielt hat, da wollten zwei Jugendliche, eine war Klientin von mir (und ihre Freund), "eine Alte abzocken", wobei die Situation schnell eskalierte und sie die Frau aus Panik erstach. Daran erinnerte mich das und daher finde ich deine Beschreibung uneingeschränkt realistisch .. so muss man sich das vorstellen.

Die Geschichte packt richtig zu. Ich bin sehr nah dran am Geschehen. Ich empfinde deinen Stil als sehr passend und gleichzeitig kunstvoll. Die Kommentare aus dem Off wirken anfangs seltsam vage, was rätselhaft wirkt. Sehr gelungen sind in meinen Augen die fragmentarischen Teile aus dem Innenleben der Beteiligten, ohne Distanz, ohne korrekte Form, deshalb passt das ebenso zum Inhalt wie die Fetzen, die mir als Lesendem um die Ohren fliegen.

Es gibt nur wenige Stellen, wo ich nachfragen will und / oder Anmerkungen habe ...


Die Äußerung des Innersten
Beim ersten Lesen hakte ich mich fest; das ist nicht zu verstehen; macht aber nichts, denn es passt, wenn man die Geschichte dann durch hat, haargenau.

ter, als i
Komma weg?

… erst pennt die Oma wie tot
Es ist klar, dass er über den Balkon abhaut. (Unklar bleibt, woher er wusste, dass sie überhaupt schläft und wodurch sie aufwacht. Daher irritierte mich dieser Satz so unvermittelt. Auch hier: Erst, wenn man dann die Konstruktion im Ganzen kennt, erschließt sich die Darstellung. Beim ersten Mal Lesen ist das Gegen die Wand-Laufen.)

und der elende Zwiebeldunst in ihrer Nähe
Eine der wenigen Formulierungen aus deiner Feder, die mir nicht gefällt, 'in ihrer Nähe'. Vielleicht ist es das, was das Wort 'Nähe' impliziert, was mir nicht gefällt. Aber auch die Formulierung an sich (denn wir sind ja in seinem Inneren) .. "Es ist Zwiebeldunst in ihrer Nähe" heißt vermutlich "Sie stinkt nach Zwiebeln"? Das kauf ich dem jetzt nicht ab, dass er hier Zwiebeldunst in der Nähe denkt.

beklemmendes Entsetzen zernagt ihre Brust, ein aussichtsloses Kreischen schleudert sie ihrem Peiniger entgegen.
Ja, das kommt an über das Gefühl. Genial. Das Stakkato hier im Rhythmus zeichnet das Geschehen jenseits des Inhalts der Worte. Aber dennoch steht natürlich auch jedes einzelne Wort für sich, erzeugt Bilder, deshalb: ist mir zernagen zu langsam, so viel Zeit ist da nicht. Das sollte schneller gehen. Vielleicht zerbeißen?

Für einen Moment scheint die Umgebung verzerrt um die Frau zu tanzen: von Angst gepeitschte Sinneseindrücke, verwaschene Formen und Farben. Ihr Magen krampft etwas Klebriges in ihre Speiseröhre; ein Pfeifton durchdringt ihren Schädel, das linke Ohr hämmert Schmerzen in ihr Bewusstsein. Ein Röcheln, das armselige Bruchstück eines Hilferufs, der Beginn wütender Verzweiflung.
Das ist hammerartig stark!

Ich triumphiere über dieses zerstörte Wesen in meiner Gewalt
Noch eine Stelle, wo du dich entfernst, in diesem Absatz bist du sehr dicht an ihm dran, quasi in ihm, daher erscheint mir diese Sicht, das 'zerstörte Wesen in meiner Gewalt' nicht als passend. Wegen des elaborierten Denkduktus. Anders als im Rest des Absatzes.
Schau hierhin:
Jetzt schlägt sie wild um sich, stößt mich ans Geländer. Das lasse ich mir nicht bieten! Sie ringt mit mir, ich prügle ihr den letzten Rest Widerstand aus dem Körper. Ihre Hand kratzt über mein Gesicht. Meine Maske fällt – sie erkennt mich. Da staunst du Oma: Ich bins – der sonst so ‚nette junge Mann von der Tankstelle‘. Nix wie weg, die Fassade hoch, brauche weder eine Zeugin, noch das hämische Geschrei von den Idioten da unten. Ich zerre an dieser unförmigen Gestalt, schon wieder Zwiebelgestank …
Das ist bärenstark, da ist man drin. Einzig eine Stelle, die noch ein klein wenig rausragt: dass die Maske fällt. Solltest du auf die Doppelbedeutung verzichten können, wäre stimmender: -- 'die Maske ist weg, sie erkennt mich' -- oder: 'sie reißt mir die Maske runter, erkennt mich' -- zwischen den Teilen ist ja nicht einmal die Zeit für ein 'und', kein einziges, da ist die gefallene Maske in der 2. Bedeutung, meine ich, nicht drin.

Es wird unangenehm heiß unter seiner Maske. Sie ist verrutscht, er schnauft atembehindert. Gehetztes Denken, panikgetriebenes Überlegen, Ausweglosigkeit.
Was ein Stakkato, Einklang von Rhythmus, Klang, Tempo, gefällt mir ausgezeichnet.

„Sonst was?“ „Ja, was?“
Ja, unter normalen Umständen würde ich auch sagen, die Einstieg ist mau. Hier aber nicht, denn gerade dieser belanglose, banale Anfang stellt die Fallhöhe richtig her. Das ist der Kontrasthintergrund für die schnelle, harte Geschichte.

„Verzieht euch, sonst werfe ich die blöde Kuh runter!“
'blöde Kuh' ragt wieder raus. Ich höre ihn eigentlich nur 'die Alte' rufen oder so ähnlich ...

Ihr Arschlöcher, kommt doch rauf! Dann schmeiß ich euch samt der Alten auf die Straße!“
So wie hier. Ich meine, es wär kein Fehler des Autors, wenn der Typ sie permanent 'die Alte' nennt ... da braucht es keine Variation, nach meinem Geschmack ...

Ein dumpfer, eigentlich harmloser Ton; unnatürlich greifbares Erstaunen, vereinzelte Schreie. Verlegenheit, keine Scham – eher rechtfertigender Trotz im Gemurmel.
Hier ist es etwas anderes, weil wir sind wieder beim Sprecher aus dem Off. Da klingt das passend.

Der Mann steht auf, provozierend langsam, streckt sich. Er hebt die rechte Faust, dreht sich nach links zur Wand – sein Mittelfinger schnellt empor.
Auch das kenne ich; da dringt nichts mehr durch. So ist es fertig.


Ich hoffe, du kannst mit dem ein oder anderen was anfangen. Weiter gutes Gelingen und viel Glück in der Challenge!

Gruß von Flac

 

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