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Dharrog
Die Stadt brannte. Aus den zerstörten Häusern quollen dunkle Rauchschwaden, stiegen auf, und verloren sich im Schwarz der Gewitterwolken. Blitze zuckten vor einem Himmel, der die gleiche unheilvolle Farbe hatte wie die gewaltigen Feuer zwischen den Trümmerhaufen und Ruinen. Mit einem lauten Donnergrollen brach das Unwetter herein und alsbald fegten Sturm und Regen durch die Straßen der Stadt.
Die Menschen liefen, laut schreiend und völlig außer sich, durch die Straßen und in ihren verzerrten Gesichtern spiegelten sich Verzweiflung und Angst.
Aus dem Westen ertönten Alarmsirenen, als das Unwetter seinen Höhepunkt erreichte. Die Erde bebte und auf den Hügeln hinter der Stadt tauchten plötzlich fünf riesige schwarze Kegel auf: zerstörerische Wirbelstürme, die sich unaufhaltsam näherten.
Die Zeit des Dharrog war gekommen.
Cagol stand an den Fenstern des großen Turmes und beobachtete die schreckliche Szenerie unter ihm. So hatte er es immer getan, wenn der Dharrog begann. Wie oft mochte das schon gewesen sein? Hunderte Mal? Tausende?
Er wusste es nicht, aber es war ja auch nicht von Bedeutung.
Dies war der Lauf der Dinge: alles, was geschieht, ist schon unzählige Male vorher geschehen und wird auch in der Zukunft immer wiederkehren. Die Zeit verläuft im Kreis und alles wiederholt sich in einem zyklischen Auf und Nieder von Wachstum und Zerstörung – bis in alle Ewigkeit.
Cagol wandte sich ab und blickte auf die massive, steinerne Uhr, die in der Mitte des runden Kontrollraums auf dem Boden lag. Dies war die Weltenuhr: der große Zeiger erreichte gerade das rot eingefärbte Sechstel des Ziffernblattes und hatte so die Zeit des Dharrog eingeläutet.
Demütig blickte Cagol auf den Boden und begann ein Gebet zu murmeln:
„Gepriesen sei das Empirium in seiner Weisheit und Größe.
Gepriesen sei das Empirium, denn es verkündet die zwei ewigen Gesetze des Universums.
‚Alles wird sich wiederholen’ – so ist das erste Gesetz.
‚Alles wird zerfallen’ – so ist das zweite Gesetz.
Ich unterwerfe mich den Mächten des Universums.
Ich werde immer ein treuer Diener sein!“
Im stillen dankte er dem Empirium für die Aufgabe, die ihm zugesprochen wurde. So hatte er es immer getan – und so würde er es auch immer tun, in jedem Zyklus von Neuem.
Umgeben von Zerstörung und Chaos kauerte Jesko schutzsuchend hinter der Ruine eines großen Hauses. Mit den Händen umklammerte er ein kleines, zerfleddertes Buch und presste es erleichtert gegen seine Brust.
Er hatte es entdeckt, als die Bücher der Bibliothek vor der Feuersbrunst in Sicherheit gebracht wurden. Niemandem war aufgefallen, dass er es an sich genommen hatte, denn dieses Buch war uninteressant und unwichtig. In der Phase der Arbeit waren nur Bücher über Mathematik, Technik und Ökonomie von Bedeutung. Doch dieses Bündel abgegriffener Seiten war ein Stück Kultur und uralte Philosophie aus längst vergessenen Tagen. Jesko hatte erkannt, dass es eine Wahrheit enthielt, die unglaublich wichtig war für das Schicksal seiner Welt. Er musste die Botschaft dieses Buches nur unter die Leute bringen, musste so schnell wie möglich in seinen Heimatbunker gelangen und mit den anderen über seinen Plan sprechen.
Plötzlich stand jemand vor ihm. Jesko erstarrte. „Hey, was machst du hier? Die Finger des Dharrog senken sich nieder! Geh in deinen Bunker!“ Der Mann trug ein schweres Maschinengewehr unter dem Arm, doch Jesko beruhigte sich. Sein Gegenüber war nur ein Mitglied der Bürgerwehr. „Viele Plünderer sind unterwegs, und die sind unberechenbar und gefährlich! Ich habe schon einige erschossen“ sagte er mit einem nervösen Grinsen. „Pass auf, dass dich niemand erschießt!“ Jesko erschrak erneut. Er stand auf und lief davon, erst langsam, dann immer schneller. Hinter ihm hörte er, dass der Mann mehrmals in die Luft schoss und dabei laut lachte.
Der Lärm des vorbeiziehenden Sturmes mischte sich mit den Angstschreien aus den Straßen und tönte hinauf zu Cagols Steuerzentrale. Die fünf Wirbelstürme –die Finger des Dharrog, wie sie genannt wurden- waren vorübergezogen und hatten die Stadt wie jedes Mal in Schutt und Asche gelegt. Der Turm jedoch war wie immer unbeschädigt geblieben.
Der Dharrog hatte eine schreckliche Wirkung auf die Neorcassaner. Nicht nur die Natur spielte verrückt, auch die Menschen verloren all ihre Hemmungen. Hysterie und Verzweiflung griffen um sich: Die einen versuchten, voll übersteigerter Angst, dem apokalyptischen Albtraum zu entfliehen und sich in ihren Bunkern zu verkriechen. Die anderen jedoch stimmten in die Zerstörungswut ein, plünderten, legten Brände, bekämpften sich und brachten einander um.
War der Dharrog dann vorbei, waren die Menschen wie ausgewechselt und ihre wahre Natur kam zum Vorschein. Sie begannen zu arbeiten, die Folgen der Zerstörung zu beseitigen und die Häuser neu aufzubauen. Die Felder wurden bestellt und die Fabriken wieder zum Laufen gebracht. Mit unglaublicher Energie und niemals enden wollenden Enthusiasmus folgten sie ihrem inneren, übersteigertem Tatendrang.
Arbeiten, das war ein Zwang, ein Urtrieb und der Daseinszweck dieser Menschen. Er war ihnen in die Wiege gelegt und schlummerte in ihren Genen. Man hatte sie einst gezüchtet, als perfekte Diener und willige Arbeitssklaven. Hatte ihnen das Empirium in seiner Güte nun zwar die Freiheit und diesen Planeten geschenkt, waren sie weiterhin Gefangene ihrer eigenen unnatürlichen Natur.
Sie arbeiteten, bauten und produzierten, bis es irgendwann nicht mehr weiter ging. Die Waren fanden keine Abnehmer und die Lager quollen über, während es den Menschen unmöglich war, von sich aus die Herstellung zu reduzieren.
Doch dann kam der Dharrog und zerstörte die Früchte der Arbeit, machte alles dem Erdboden gleich, so dass Neorcassa wieder vor dem Nichts stand und der Zyklus von Neuem beginnen konnte. Cagol hatte die Weisheit in diesem göttlichen Plan erkannt.
„Jetzt reicht es! Hör endlich auf mit diesem Schwachsinn!“ tönte Regor. Wütend war er in den großen Hauptraum des Bunkers gestürmt um Jesko daran zu hindern, von seinem Buch zu erzählen. Seine Hände spielten nervös mit einer Pistole. „Lass diese irrsinnige Propaganda sein, Jesko!“ Er riss ihm das Buch aus den Händen und wandte sich nun an die ganze Runde: „Dieses Buch ist Schund! Hört nicht auf ihn!“
„Regor, bitte!“ Jesko stand auf und die Blicke folgten ihm. „Erkennst du denn nicht die Chance? Dieses Buch erzählt die Geschichte unserer Welt, es hält uns einen Spiegel vor. Es offenbart uns die Wahrheit! Lies es und du wirst die Zusammenhänge verstehen.“ Er blickte in die Gesichter der anderen: „Wir wissen nun über alles bescheid!“ Sie nickten zustimmend. „Unser Leben ist kein Schicksal, wir selbst haben die Macht, etwas zu ändern!“
Jesko langte nach dem Buch in Regors Händen, doch dieser wich ihm aus.
Wütend richtete er seine Waffe auf Jesko. „Ich sehe, der Dharrog zeigt seine Wirkung auch bei dir. Du phantasierst! Du kannst dich nicht mit Dingen anlegen, die du eh nicht ändern kannst! Akzeptiere es und warte ab, bis der Dharrog vorüber ist. Dann wirst du dich beruhigen und alles scheint in einem ganz anderen Licht.“ Sagte Regor, und schließlich, mit fast ein wenig Mitleid in seiner Stimme: „Warte ab, bis alles wieder seinen gewohnten Gang geht!“
Die anderen waren inzwischen aufgestanden. „Gib Jesko das Buch wieder. Wir wollen die Geschichte weiter hören“ sagte einer.
Regor schüttelte ungläubig und resigniert den Kopf. „Das kann doch alles nicht wahr sein...
Na gut: dann rennt eben weiter euren Wahnvorstellungen hinterher!“ Er warf das Buch auf den Boden und lief hinaus.
Die anderen blickten Regor noch hinterher, als ein kleines Mädchen die angespannte Stille unterbrach: „Jesko, erzähl uns doch bitte noch mehr von diesem...“
„Sisyphus, meine Kleine, er heißt Sisyphus!“ Jesko lächelte, setzte sich wieder hin und schlug das Buch an der Stelle auf, an der er unterbrochen wurde.
Cagols Blick glitt über die Hügel am anderen Ende der Stadt und die dahinter liegenden weiten Felder und Weiden. Vereinzelt schimmerte Licht durch die dunkle Wolkendecke und ließ die Landschaft in einem unwirklichen Dämmerlicht erscheinen. Die Leute nannten Cagols Kontrollzentrale den „Blinden Turm“, denn die Fenster waren von außen verspiegelt, doch blind war Cagol in seiner Kanzel keineswegs. Er war der Planetare Koordinator, er leitete die Phase der Arbeit und steuerte die Produktion indem er Konstruktionspläne vorgab und die Arbeitskräfte verteilte – somit musste er ganz Neorcassa im Blick behalten. Überall dort, wo gearbeitet wurde, standen kleine Computerterminals, ausgestattet mit einer versteckten Überwachungskamera und einem Bildschirm. Die Neorcassaner konnten sich hier an Cagol wenden und ihre Anweisungen holen, denn selbst waren sie mit der Arbeitsplanung oftmals überfordert.
Cagol sagte den Neorcassanern, was sie tun sollten, und dennoch war er viel mehr ihr Diener – ein Diener des Empiriums . Er war das kleine Zahnrad, das dafür sorgte, dass der große Plan funktionierte. Und somit musste auch Cagol stets funktionieren. sein Leben bestand nur aus seiner Aufgabe, so etwas wie Freiheit hatte er nie erlebt.
...Aber nein, das waren blasphemische Gedanken und Cagol bereute sie sofort. Der Zeiger erreichte die zweite Hälfte des roten Sechstels und Cagol blickte auf die Straßen. Es schien verhältnismäßig ruhig zu sein.
Mit einem schweren Vorschlaghammer schlug der Junge auf das Computerterminal ein. „Wir werden nie wieder auf deine Befehle hören! Es lebe die Freiheit!“ rief er der mannshohen, metallenen Säule entgegen, deren Bildschirm ein letztes Mal aufflackerte und dann erlosch.
Kurze Zeit später versammelten sich alle auf der Straße. Jesko hatte über zwei Dutzend Leute um sich geschart und sie hatten gemeinsam –und relativ planlos- alle Computerterminals in der Stadt zerstört. „Doch jetzt“, sprach Jesko, „werden wir bald volle Klarheit haben. Da ist er, der blinde Turm! ...Wir müssen Sprengstoff besorgen! ...Lasst uns diesen Turm zum Einsturz bringen und herausfinden, was sich in ihm verbirgt! Lasst uns diesen Felsen zerstören, damit wir ihn nie wieder den Abhang hochstemmen müssen!““
Zwar war die Überwachungsanlage nun zerstört, aber Cagol konnte auch aus den Fenstern die Menschenmenge gut beobachten, die sich unterhalb des Turmes versammelte.
Cagol lächelte.
Brachte der Dharrog natürlich Schrecken und Zerstörung mit sich, hatte er doch eine positive Seite: Die Menschen waren von ihrem Zwang zu arbeiten erlöst und alles, was sonst unterdrückt wurde, konnten sie nun ausleben. Der Zwang wich für kurze Zeit einer unbekannten Freiheit: Nicht nur Aggressionen wurden hemmungslos ausgelebt, auch der Verstand, der Geist der Neorcassaner erwachte plötzlich wie aus einem langen Schlummer. Sie begannen nachzudenken und die Welt in Frage zu stellen. Dort unten auf der Straße ging etwas vor, dass die Hoffnung der Menschen geweckt hatte. Sie glaubten fest an ihre Freiheit und an ihre Macht, die Welt zu ändern. Cagol kannte dieses Gefühl nicht, doch er freute sich für die Neorcassaner. Das alles erfüllte ihn mit einer gewissen Genugtuung.
Verwirrt lief Jesko durch die Trümmer. Nach mehreren Versuchen und viel Sprengstoff war die äußere Mauer zwar eingestürzt, doch der Turm stand immer noch.
Die große Staubwolke verwehte langsam und Jesko bemerkte, dass die anderen verschwunden waren. Er blickte zum Himmel: Nur noch ein paar kleine Wolken zogen vorbei und dann schien ihm die Sonne ins Gesicht. Der Dharrog war vorüber. „Hey, Jesko, an die Arbeit! Die Maschinen laufen wieder!“ rief jemand.
Jesko wandte sich um und ging. Das Buch, dass er bis da hin in den Händen gehalten hatte, ließ er in den Staub fallen. Kurze Zeit später erreichten große Lastwagen den Turm. Männer sprangen ab und alsbald steuerten sie mit Baggern durch das Trümmerfeld, begannen aufzuräumen und Stadt und Turm wieder aufzubauen.
Unbemerkt hatte sich Cagol aus dem versteckten Turmausgang geschlichen. Er entdeckte das Buch, hob es auf und steckte es ein. Schnell verschwand er wieder. Er hatte genug Zeit, um es bis zum Beginn des nächsten Dharrog unbemerkt in die Bibliothek zu schmuggeln. Irgendjemand würde es dann wieder finden, da war er sicher. Denn so war es immer gewesen.
„Alles wird sich wiederholen – so ist das erste Gesetz“ murmelte er vor sich hin.