(überarbeitete und ergänzte Erzählung--> Version 2)
Desillusionierend
„Sie riecht nach Vanille und auch ein bisschen nach feuchter Erde, hat den Glanz der Sonne in ihren Augen und den Wind im blonden Haar. Ihr Lachen ist wie Licht in einer gefrorenen Welt und wird überall reflektiert. Wie ein Sonnenaufgang in einer Schneelandschaft kommt mir ihr Erscheinen vor, wie ein wärmendes Getränk ihre Aura, an der ich mich niemals satt trinken kann. Wie Prometheus komme ich mir vor.“
„Roger, Roger: du betrügst dich doch nur selbst. Träume sind Folterwerkzeuge und du bist ein Träumer. Sozusagen dein eigener Folterknecht. Schau dich nur an: du transpirierst, wenn sie in deine Nähe kommt, dein Herz rast, getrieben von der medulla oblongata im primitivsten Teil deines Gehirns. Du wirst nervös, deine Augen springen aufgeregt in der Gegend rum, ein Versteck für deinen schweißnassen Körper suchend, anstatt ihr in die Augen zu sehen. Hast du ihren Blick schon einmal genau betrachtet? Nicht von weitem, ich meine aus der Nähe, wenn sie plötzlich vor dir stehst: Hast du dann ihren Ausdruck – oder um bei der Wahrheit zu bleiben: ihre Ausdruckslosigkeit – gesehen?
Sie beachtet dich nicht. Du bist Luft für sie. Sieh es ein: Du weißt, dass ihr niemals wirklich zusammen sein werdet. Deshalb schaffst du dir eine imaginäre Welt. `Vanilleduft, Schneelandschaft` - pah! Vorstellungen deiner Fantasie, in dein Bewusstsein gelassen, um statt der schmerzlichen Wahrheit die Illusion einer heilen Welt aufrecht zu erhalten! Ersatzbefriedigung, um nicht erkennen zu müssen, dass das Gefühl der Liebe niemals real durch deine Adern fluten wird. Ein schwacher Versuch, findest du nicht auch? Aber es ist dem Menschen so eigen, so vertraut, dass er oft nicht erkennt, wie die wahren Dinge laufen. Hör mich an: ich lebe ohne Illusion, ohne diese gespielte Selbstverliebtheit: und ich lebe gut. Ich sage die Wahrheit, lüge nicht und betrüge nicht. Ich führe dich nicht hinters Licht, hinein in den Schein dieser Blendwelt, wie es ein Teil von dir immer versucht! Ich zeige dir auf, wie die Dinge wirklich sind – nenn mich deinen Retter, der dir die vorher unsichtbaren Folterwerkzeuge sichtbar macht, die dich martern, obwohl du es noch nicht glauben willst. Wenn es einen Gott gibt – und wenn du mich fragst, gibt es einen – wenn also ja, dann ist er jedenfalls nicht der der Fantasie! Ganz im Gegenteil: man müsste die Fantasie verteufeln mit ihrem Lug und Trug! Was übrig bleibt: das bin ich.“
„Geh weg! Wer du auch bist – ich will dich nicht mehr hören! Verschwinde aus meinem Kopf!“
Die Menschen in der U-Bahn schauten den Mann an, der plötzlich zu schreien begonnen hatte.
„Schau sie dir an: du stehst am Anfang eines neuen Lebens, des wahren Lebens – und die Menschen beachten dich von der einen auf die andere Sekunde. Du bist nicht mehr der Anonyme mit der Nummer x, du bist in ihrem Bewusstsein, gerade jetzt, in diesem Moment. Du bist in ihren Gedanken. Sie fragen sich, was mit dir los ist, halten dich für strapaziert oder verrückt, stempeln dich als komischen Kauz ab, machen sich prompt ein Bild von dir. Da sind wir wieder bei der Fantasie mit ihren Bildern. Das wirst du dir merken müssen: auch wenn du wissend bist, sind es die anderen noch längst nicht. Versuche erst gar nicht, wieder der zu werden, der du einst warst: ein geblendeter Folterknecht. Nimm dein neues Leben an: wisse, statt zu glauben; erkenne statt zu verkennen; lebe, statt gelebt zu werden. Du bist nun dein Meister, musst nicht mehr auf Illusionen hören, die dir dein Leben vorgaukelt. Genieße es!“
Roger rannte, als die Bahn hielt, durch die Tür in die Station. Was geschah nur?
Er blieb stehen und sah die Bahn abfahren. Er lauschte. Die Stimme schwieg. Er fasste sich ins Haar. Heute war ein anstrengender Tag gewesen. Das Werbeprojekt ging in die heiße Phase und die Grafiken wurden in letzter Minute ausgetauscht, mussten bearbeitet und angepasst werden. Zehn Stunden PC-Arbeit waren in der letzten Woche die Regel gewesen. Heute kam er auf 12 ½.
Er mochte seine Arbeit. Sie war kreativ und er konnte eigene Ideen umsetzten. Und vor allem: er arbeitete mit der schönsten Frau zusammen, die es nur geben konnte. Ihr Name allein, Julia, klang schon wie eine Verlockung und ihre Art verkörperte alles, was er sich je erträumt hatte.
Er musste an die Stimme denken.
„Da. Siehst du es: das Graffiti? Natürlich siehst du es.“
Roger blickte auf ein Take an der Stationswand. Es zeigte einen weißen Strand und eine lagunengrüne Meeresbucht. Schön wirkte es, strahlte Harmonie und Frieden aus. Gerade wollte er in diesem Anblick entspannen und weiter gehen, da war sie wieder, jetzt deutlicher zu hören:
„Illusion. Du siehst, was ich meine? Du schweifst schon wieder ab in eine nicht existente Welt. Du bist hier, im U-Bahnschacht, in eben jener grauen, versifften, schäbigen Station, in die du fluchtartig gerannt bist. Riechst du nicht den Urin an den Wänden? Schau dir die Penner an, die mit ihren verlausten Bärten dort auf dem Boden sitzen, in der einen Hand eine Flasche Schnaps, in der anderen den Rest ihres Lebens: nichts! Das ist die Welt, Roger, sie es ein: es gibt keine Südseestimmung hier unten, keine Illusion von einer heilen Welt, in die du immer wieder fliehen willst! Die gibt es nur in deinem Kopf, nicht in der Wirklichkeit!“
„Was glaubst du, wer du bist?! Lass mich los! Ich will dich nicht. Das sind meine Gedanken, und Gedanken sind frei! Ohne Gedanken und Fantasie kann ein Mensch nicht leben! Du willst Gott sein? Niemals! Höchstens ein schlechter Witz, ein Stresssyndrom! Nichts weiter!“
„Doch, kann er: frag einmal die Penner…“
Roger lief die Treppe hinauf ins Freie. „Nur aus diesem Schacht raus!“, dachte er laut.
Erst jetzt bemerkte er, dass er nahe der Innenstadt ausgestiegen war. Bis nach Hause war es ein etwa halbstündiger Gang. Also ging er los.
„Ich befreie dich, Roger, von alledem, was dir die Sicht auf die Welt verklärt. Ich kläre auf, mache deutlich, nehme Scheuklappen ab. Ich bin das Licht hinter Schleierwolken, die Aus-Taste deines Fernsehapparates, der Sauerstoff der Luft. Bin das H2O des Wassers, das Zuckermolekül der Süße. Ich bin der Samen des Baumes, der Kern der Frucht. Ich bin die Synapse deines Gedankens, bin das Adrenalin deiner Wut, das Wort und der Ursprung. Du kannst nicht vor mir fliehen, denn ich bin die Flucht aus der Fantasie. Du kannst dich nicht verstecken, denn ich bin das Versteck vor der Unwahrheit. Wenn du schreist, bin ich der Schall. Und wenn du mich heute hasst, werde ich morgen zu der Liebe deines Lebens.“
Roger hielt sich die Ohren zu. Er wollte das alles nicht mehr hören. Diese Stimme war wie das Jucken des Gaumens, das man nicht loswird; wie Sodbrennen, das langsam die Speiseröhre hinauf schleicht; wie eine Schnittwunde, in der Salz und Zitronensäure liegen.
Es half nichts.
„In den Schaufenstern strahlen die Blendlichter dessen, was ihr Zivilisation nennt. Errungenschaften der Technik: immer schnellere Computer für eure Arbeit; flache Fernseher, auf denen die Bilder der Welt ins Wohnzimmer flimmern; Playstations und Spiele dafür wie Sand am Meer, fiktive Welten, in denen ihr eure Träume als Rennfahrer oder Superheld, als Pilot eines Kampfjets oder James Bond auslebt. In denen ihr euch Bestätigung holt, dass ihr etwas wert seid, ohne viel mehr zu tun, als mit den Fingern irgendwelche Knöpfe zu drücken. Ihr arbeitet Tag für Tag, um mit dem verdienten Geld euch eben diese Minuten zu holen, in denen ihr Sieger seid, in denen ihr scheinbar selbst über euer Schicksal entscheiden könnt. In denen ihr euch glücklich wähnt.
Noch brauche ich dir nicht zu sagen, dass Millionen Menschen dafür unter tierischen Bedingungen schuften müssen, für Hungerlöhne, die gerade ausreichen, um das Kleinkind nicht verhungern zu lassen. Du würdest meinen, dass du gerade deswegen die ganze Elektronik kaufen würdest, eben damit diese Menschen wenigstens das allernötigste Geld haben. Dass sie ohne deine Hilfe elendig verrecken würden. Doch gerade wegen Menschen wie dir werden die Fabriken in China und anderswo auf der Welt hochgezogen: und zwar auf Land, welches die Menschen vorher bewirtschaftet haben. Sie lebten zufrieden mit dem, was sie hatten. Jetzt müssen sie auch wegen dir arbeiten wie Sklaven für den Traum einer globalen Welt! Solche Überlegungen bleiben, wenn der Schleier der Fantasie und der Trug der schönen Bilder schwinden!“
„Warum ich? Was bin ich, dass du gerade mir das alles erzählst? Ich habe nicht darum gebeten! Ich habe ein normales Leben führen können! Doch jetzt, wo du da bist, stürzt mein Haus in sich zusammen. Was bleibt, ist nackter Beton, bedeckt mit den Trümmern meiner selbst! Ist es das: willst du mich zerstören?“
Die Stimme schwieg.
Roger wusste nicht, wie er sich wehren sollte. Als er an einer Plakatwand vorbeikam, auf der ein wunderschönes Mädchen abgebildet war, bekam er zu hören, dass auch die Werbung eine einzige Illusion sei, die die Menschen unbewusst lenke. Es gebe so viele Produkte mit verschiedenen Images, weil es ebenso viele Menschen mit unterschiedlichen Geschmäckern gebe. Doch sie alle – außer denen, die diese Stimme kennen – waren von ihr beeinflusst. „Werbung schafft Trends. Und du bist ein Teil dieser Maschinerie, Roger. Menschen sind Massentiere, auch du gehörst dazu. Lässt dich beeinflussen von bunten Bildern, schönen Menschen auf Plakaten, Idealen, die von der Großzahl der Menschen nie erreicht werden können. Doch eben so viele orientieren sich an ihnen. Leben dafür, immer perfekter zu werden, immer mehr zu einem Traum statt zu einem denkenden Menschen. In ihren Fantasien spuken die Geister des Perfektionismus. Doch die Welt ist nicht perfekt, Roger: SIE IST ES NICHT! In belebten Fußgängerzonen sitzen Penner auf der Straße, neben Krankenhäusern liegen Friedhöfe. Computer haben Fehler, Fernsehbilder schlechten Empfang. Kinder lachen nicht mehr, Erwachsene wollen keine Kinder mehr. Dafür mehr konsumieren: mehr Geld für mehr Produkte. Äpfel sind makellos wegen ihres Chemiepanzers, Tomaten strahlen nachts. Der Mensch spielt Gott: verändert Gene, erst pflanzliche, dann tierische – bald schon wird jemand diese Reihe fortsetzen. Milliardensummen fließen in Waffensysteme. Doch Granaten schmecken nicht sonderlich gut und sind schwer verdaulich für die Menschen der Länder, in denen sie wie explosive Äpfel auf den Boden schlagen. Alles Ausgeburten der Fantasie! Alles ausgemalt und romantisiert: wir müssen so handeln – Fortschritt – im Namen der Menschheit! Pah! Glaubst du daran, Roger: an Fortschritt im Namen der Menschheit?“
Endlich! Roger atmete auf. Da vorne war die Marillenstraße, dort hinten seine Wohnung.
Er sprintete die Treppen hinauf, schloss die Tür auf und stürmte hinein.
Alles schien hier so, wie er es verlassen hatte. Sogar eine Socke lag verkehrt herum in der Küche.
Er öffnete den Kühlschrank und griff zur Wodka- Flasche. Nach diesem Tag brauchte er jetzt einen gehörigen Schluck.
Nach einer Stunde war er volltrunken. Er taumelte zum Bett und ließ sich fallen. Schweigen hüllte ihn ein wie eine warme Decke.
Das stete Geflüster nahm er in seinem Zustand nicht mehr wahr.
Am nächsten Morgen wachte Roger mit brummendem Kopf auf.
Er ging ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Er sah aufgequollene Augen und zerzaustes Haar.
Er wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht.
„Ein neuer Tag beginnt, Roger. Der Schmerz wird bald weggespült sein.“
Da war sie wieder, diese Stimme, die er nur für einen Traum gehalten hatte! Einen Alptraum, aus dem er erwacht zu sein glaubte.
„Nein! Das kann nicht sein!“
„Wovor fürchtest du dich, Roger? Doch nicht vor mir, nein, das kann nicht sein. Ich will es dir sagen. Du befürchtest, deine Welt bricht zusammen, wie ein wackeliges Konstrukt. Du hast Angst vor der Wahrheit, Roger und davor, dass sich dein Leben neu ordnen könnte. Doch auch die Furcht ist ein Teil der Fantasie. Sie ist unberechtigt, keine reale Bedrohung wie ein Säbelzahntiger es war – jäger- und sammlermäßig betrachtet. Du wirst es überleben, mehr noch: neu geboren werden. Die Schleier der Vergangenheit werden verblassen und verschwinden. Heute meinst du, das ist schlecht. Ja, auch die Bewertung der Dinge sind Teil einer großen Illusion. Menschen glauben, zu wissen, wie etwas ist: gut oder schlecht, freundlich oder böse, angenehm oder unangenehm, göttlich oder teuflisch – und dazwischen die vielen Nuancen wie „eigentlich gut“, „recht bequem“, „ziemlich schlecht“, „toll halt“ und so weiter. Verabschiede dich davon. Es ist nicht real, lediglich eine subjektive Empfindung. Weißt du, ob ein anderer mich auch als „böse, schlecht, teuflisch“ empfinden würde? Meinst du nicht, Menschen sind auch „froh, glücklich, aufgeschlossen“, mich zu hören? Bildest du dir ein, deine Meinung habe etwas Absolutes an sich, sei die einzig wahre? Du glaubst, mich zu kennen, Roger, genauso wie andere Menschen an Jesus Christus glauben. Du erhoffst dir, dass dein Glauben Realität ist, etwas Handfestes wäre? Nein, ist er nicht. Glauben ist die Größte aller Illusionen. Zu glauben, etwas zu wissen, gibt den Menschen Sicherheit. Du glaubst, ich sei böse: das gibt dir die Sicherheit, mich verteufeln zu müssen. Was du nicht weißt: es ist der Irrglaube der Fantasie! Sie will nicht von ihrem goldenen Thron geschubst werden. Sie will regieren, will Macht haben! Sie will dich. Ganz einfach: dich besitzen!“
Roger rannte in die Küche. Irgendetwas musste geschehen. Wurde er verrückt? Er hatte schon gehört, dass Verrückte Stimmen hörten. War er bereits verrückt?
Er musste sich beruhigen, also griff er in den Schrank und holte eine Tüte Choco- Pops raus. Essen war immer gut. Essen entspannte.
Als er die Milch über die braunen Reiskörner goss, knisterte es.
„Gut so, Roger. Der Mensch muss essen. Das muss er immer, will er nicht sterben. Aber schau, was du isst: siehst du den lustigen Affen auf der Verpackung? Ja, genau den. Sieht er nicht fröhlich aus? Klar, denkst du, das stimmt. In Wirklichkeit ist der Affe lediglich Farbe auf einem Pappkarton. Male bestimmte Formen und siehe da: der Mensch bildet sich ein, einen fröhlichen Affen zu sehen. Dein Gehirn erkennt die Form wieder, sieht ein strahlendes Gesicht, einen dynamischen Körper, den schwingenden Schwanz - und schon wird der Affe personifiziert. Würde ich die Farben da in eine andere Form bringen, etwa einen Höhlengnom (oder ein anderes dieser tollen Fabelwesen) daraus machen: du würdest ganz schnell anders denken. Ist das nicht komisch? Auch da habe ich nur Pappe und Farbe benutzt, aber das Ergebnis ist das genaue Gegenteil von deiner vorherigen Empfindung.
Wahrscheinlich hättest du dann dieses Kellogszeug gar nicht erst gekauft. Wer will schon mit einem warzigen Gnom frühstücken? Von der Sache her wäre es aber das Gleiche: frühstücken mit einer Illusion.“
„Ist es eigentlich schön, immer Recht zu haben, hä? Findest das wohl geil, wie?“
„Ich desillusioniere lediglich.“
„Ganz ruhig, Roger. Schokoaffen, Illusionen- nur Wahnvorstellungen Roger, das ist nicht real.“
„Du beginnst zu begreifen.“
„Jetzt reicht’ s!“
Roger sprang auf und zog sich die Schuhe an. Er musste sich ablenken. Joggen, nein, besser spurten, bis die Luft weg blieb, dachte er.
Im Stadtpark kamen ihm verschiedene Menschen entgegen. Er grüßte, sie grüßten zurück. Ein Lächeln kam über sein Gesicht. So wusste er doch, dass er nicht in einer Illusion leben konnte. Wenn andere Menschen ihn als reales Wesen sahen, auf sein Lächeln zurück lächelten, dann war das die Bestätigung.
„So sind die Menschen nun einmal. Ein wenig Ablenkung, und schon meinen sie, alles wäre in Ordnung. Ein schönes Gefühl, Roger, wenn dich fremde Menschen grüßen, oder? Da fühlt man sich doch gleich ein wenig besser. Aber, Roger, du weißt es tief in dir, nicht?“
„Was soll ich wissen!“
„Glaubst du wirklich, diese Menschen lächeln dir zu, weil sie dich mögen, weil sie dir zeigen wollen, dass du in einer realen Welt lebst? Naiv. Meinst du wirklich, auch nur ein Lächeln ist wie eine freundliche Geste gemeint? Es ist eine Fassade, Roger, hinter der sie sich verstecken. Sie wollen nicht, dass andere ihre Probleme sehen, wollen nicht Einblick geben in ihre innere Welt. Deshalb setzten sie das Lächeln wie eine Maske auf. Du kennst das doch von deinen Besprechungen mit Geschäftskollegen. Die Werbebranche, Roger, liefert doch Illusion als Massenware. All die bunten Bilder, all die Produkte mit der Message: „Komm, kauf mich, konsumiere mich, ich bin gut, ich bin wichtig für dein Leben!“ Portioniertes Glück, angepriesen von Modellen, Traumfrauen und Traummännern, die dich glücklich machen wollen, die dich binden wollen an die große Illusion, dich zu einem Teil des Illusionskollektiv machen wollen, als einen geblendeten Jünger des Konsumgottes. Denke nur an die Menschen, die in der Branche arbeiten, die Werbung verkaufen: Hast du sie jemals verstimmt gesehen, wenn sie verkaufen wollen? Hast du lange Gesichter, gepresste Lippen, kleine Augen gesehen? Natürlich nicht. Ein solches Gesicht würde ja nicht der Messsage entsprechen, der Illusion kein strahlendes Antlitz geben. Und in all den Geschäften, die du unweit des Parks findest, spielt sich die gleiche Show ab: lächelnd preisen dir Verkäufer ihre Waren an, wollen dich beraten, dir ihre Produkte auf den Leib schneidern, unter die Nase halten, ins rechte Licht rücken, schmackhaft machen! Alles hört sich so gut an, was sie sagen, weil sie ein Versprechen suggerieren: Wenn du kaufst, bist du wieder in deiner Lieblingswelt: der Illusion!
Für die Illusionen wird gearbeitet, Roger. Menschen verdienen Geld und geben verdientes Geld wieder aus. Wofür? Für Genuss! Für angeblich wichtige Dinge wie lachende Affen auf Pappkartons. Für Autos, die den Lebensstil widerspiegeln sollen. Hast du dich einmal gefragt, was für Menschen einen Sportwagen fahren? Oder für Illusionen: hier eine Playstation, da ein paar Spiele. Und ein neues Handy: man muss ja immer up-to-date und erreichbar sein. All diese Dinge haben ein bestimmtes Image, Roger: wer einen Sportwagen fährt, gilt als sportlich und dynamisch, als frei und, wenn es einer von BMW ist, als ein Fahrer, der Freude daran hat. Das ist die Illusion, die die Werbung den Menschen suggeriert hat. Oder das Handy: selbst 10- jährige Kinder haben schon eines. Ob sie es brauchen, steht außen vor: sie wollen es! Warum? Weil die Werbung ihnen sagt, sie seien nur dann cool und modern. Welcher 10- jährige der heutigen Zeit will denn noch als uncool gelten und von seinen Kameraden auch so behandelt werden? Hast du was, bist du was: das sagt die Werbung. Das ist die Illusion!“
Roger setzte sich auf die Mauer am See. Er schaute auf das Wasser, warf einen Stein hinein und sah, wie sich die Wellen breiteten. Ein Moment der Ruhe stellte sich ein, in dem er nichts dachte, nichts hörte; nur die Wellen sah.
Sein Spiegelbild im Wasser war verzerrt, und hätte er sagen müssen, wem dieses Bild da unten gleiche, hätte er raten müssen und sich wohl nicht mit ihm identifizieren können.
Er joggte wieder los, gedankenverloren.
„Hallo Sie, was machen Sie nur für ein Gesicht? Wenn ihnen das Joggen keinen Spaß macht, warum tun sie es dann?“
Roger fuhr in sich auf. „Wie?“
„Ihr Gesicht. Wie sieben Tage Regenwetter.“
Erst jetzt sah Roger die junge Frau, die neben ihm joggte.
„Störe ich Sie bei irgendetwas? Ich kann auch schleunig weiter joggen.“
„Nein, warten – ich mein, bleiben Sie bei mir. Ich habe grad nur nachgedacht, wissen Sie. Ich bin übrigens Roger, ja, und Sie?“
„Maryan, aber nennen Sie mich Mary.“
„Tja, Mary, laufen Sie öfters hier am See?“
„Ja, jeden Tag. Aber Sie habe ich hier noch nicht gesehen.“
„Ich fange gerade erst an. Habe ja gehört, Joggen soll entspannen.“
„Richtig gehört! Und man kann abschalten vom Alltag.“
„Kann man das, ja?“
„Natürlich! Vielleicht nicht sofort, aber das kommt schon noch! Und es lässt die Pfunde schmelzen. Ich gehe ja leidenschaftlich gern ins Kino. Popcorn und Cola. Ein wenig Zerstreuung vom Studium, Sie versteh’n.“
„Was studieren Sie denn?“
„Germanistik. – Halt! Sagen Sie nichts.“
„Was denn?“
„Nun, viele behaupten, Germanistik sei öde und Zeitvertreib. Sie kennen doch die Sprüche: >Weiß nicht, was Sie sonst machen soll!< oder: >Damit einen Beruf ausüben?< Die wissen halt nichts davon. Es interessiert mich eben. All die Schriftsteller und ihre Werke. Fantastisch, sage ich Ihnen. Was machen Sie denn?“
Roger spürte ein Kribbeln in der Nase, als er antwortete: „Lernen.“
„Was lernen Sie denn?“
„Wie? Warum lernen?“
„Sie sagten eben, sie würden lernen.“
„Sagte ich nicht.“
„Doch, taten Sie.“
Er musste niesen. „Entschuldigen Sie bitte. – Nein, ich arbeite als Grafikdesigner.“
„Das muss ja auch toll sein. Ich liebe kreatives Arbeiten.“
„Es hört sich oft sehr einfach an, aber das stimmt nicht. Man muss viel üben und Erfahrung sammeln. Sonst geht’s nicht.“
„Wer weiß: vielleicht habe ich ja schon einige ihrer Bilder gesehen, ohne es zu wissen: Plakatwerbung – oder im Kino! Ja, das wäre interessant. Haben Sie schon etwas fürs Kino gemacht?“
Wieder dieses Kribbeln.
„Kino ist eine große Illusion, eine Fantasiemaschinerie, betrieben um den Menschen in imaginäre Welten eintauchen zu lassen, in denen er sich mit den Schauspielern identifizieren kann. Es sitzen kleine Terminatoren, Paten, Spidermans, Supermans, Bonds, Stuarts, Shreks und wie sie alle heißen tief im Menschen, der sich sehnt, sie auszuleben. Während sich die Menschen im Kino befinden und ihren Fantasien nachhängen, tobt draußen in der Welt die Realität. Nur zwei Ecken weiter wird ein obdachloser Mann von einer Jugendgang verprügelt, die kein Geld für Kino und Illusion, aber auch Gefühle hat: überbrodelnder, sich schlagartig entladener Hass auf die Gesellschaft, die sich wähnt, gesund zu sein. Auf Menschen, die in ihrer gepanzerten Seifenblase leben und glauben, der Alltag zwischen Arbeit und Fernseher sei das wahre Leben. Der Hass wird blind und trifft dann die Schwächsten der Schwachen! Doch wen interessiert das schon? Sie doch bestimmt nicht. Haben Sie schon einen Gedanken an solche Probleme verschwendet zwischen den wohlklingenden Versen eines Goethes und den bannenden Märchen der Romantik? Doch, bestimmt: wenn wieder einmal irgendein Film aus der Traumfabrik für Sekunden einen Penner zeigt, wird ihr Unterbewusstsein das schon gemerkt haben. Doch, so konditioniert sie alle sind, lassen Sie diesen Gedanken von ihrem Thalamus schnell ausblenden. Heile, feine Welt! Ist ja alles nur Show! Und ich sage es Ihnen: ihr Leben ist Illusion! Danken Sie mir, Mary, dass Sie nun wissen, was Sie sind: eine gepanzerte Seifenblase im Sturm der Realität!“
HATSCHI.
„Was bilden Sie sich eigentlich ein, hä?“
Sie trat ihm vors Schienbein und joggte wütend davon.
Roger verstand nicht. Was hatte er bloß falsch gemacht? Vielleicht zu lange in ihren Ausschnitt gestarrt? Wenigstens hatte er während des Gespräches nichts von der Stimme gehört. Das war schon viel wert.
Das Erste, was er tat, als er wieder zu Hause war, war den Kellogskarton in die blaue Tonne zu werfen, obwohl er sich sodann fragte, warum er dies getan hatte.
Er schob den Gedanken jedoch schnell beiseite und beschloss, an dem Projekt weiter zu arbeiten. Das Wochenende war schließlich kein Argument in dieser heißen Phase.
Es galt, dem Tee ein neues, modernes Image zu verpassen. Ihn als ein exotisches Produkt darzustellen, das mit Freude für den europäischen Markt erstellt wurde, lag dem Projekt zugrunde. Nun mussten die entsprechenden Bilder dazu gefunden werden.
Roger schwebten solche von einem sonnigen Tag vor Augen: blauer Himmel, lachende Menschen, die beim Teepflücken fröhlich wirkten. Dass es der Großteil der Menschen natürlich nicht war, musste selbstverständlich ausgeblendet werden. Ebenso der 17 Stunden Tag, die schweißtreibenden Temperaturen – hier würde sich eine frische Brise, die in den Blättern wogte, anbieten. Und das Weiß der Zähne: ein wunderbarer Kontrast zur schwarzen Haut der Arbeiter und den gelblichen Zähnen derer, die oft und gerne Tee tranken. Kurzum: es musste ein positives Bild geschaffen werden, das Freude und Natürlichkeit ausstrahlte.
Seine Nase kribbelte, als er sich an die Arbeit machte.
HATSCHI.
Er guckte auf die Uhr. Es war mittlerweile halb neun. Roger wollte sich etwas Abwechslung gönnen. Ihm fiel ein, dass er schon lange nicht mehr tanzen war. Früher, das heißt: vor Jahren, war er regelmäßig in einen Club gegangen und hatte dort nächtelang getanzt. Doch mit der länger werdenden Arbeit wurden die Zeiten immer kürzer, in denen er an sich denken konnte. Heute aber wollte er es mal wieder tun.
Zwei Stunden später war er im „Fusion“, einem kleinen Club, in dem elektronische Musik aufgelegt wurde. Es hatte sich nicht viel geändert: der Bass, die feiernden Menschen, die kahlen Wände. Alles schien beim Alten.
„Nun bist du wieder jung, Roger. Hier, dieser Raum mit den wummernden Bässen, der feuchten Luft: das war dein zuhause deiner Jugend. Erkennst du die Menschen wieder? Die Gesichter ändern sich zwar, aber trotzdem ist das Ganze gleich geblieben.“
Roger hatte eingesehen, dass er sich gegen die Stimme nicht zur Wehr setzen konnte, weshalb er sie einfach sprechen ließ, während er sich im Club umschaute.
„All die freudestrahlenden Gesichter, die tanzenden Körper, die ganze Atmosphäre: ein großes Ganzes, fast wie eine Familie. Ist es nicht so, Roger? Eine Familie. Was verbinden denn die Familienmitglieder? Du weißt es doch. Denke zurück an deine Jugend.“
„Lass mich da aus dem Spiel!“
„Gerne, Roger, denn das alles ist kein Spiel, sondern Tatsache. Warum treffen sich wohl gerade diese Menschen hier? Schau sie dir an: ihre Pupillen sind vor Fantasie geweitet, ihre Körper schwitzen vor lodernder Leidenschaft, die durch ihre Venen pocht. Nun denke einen Schritt weiter, Roger. Sieh sie dir an: allesamt leben in zwei Welten, wobei die kahlen Wände ihre Realität widerspiegeln und die kleinen Tabletten – sieh: wie der da sie gerade weitergibt – die Pillen also der Schlüssel für das Tor sind, die voller Farbe und Freude und Gemeinschaft ist.“
„Du sprichst von Ecstasy.“
„Ich spreche von Sehnsucht. Sie alle sehnen sich nach der warmen Welt der Fantasie, in der die monotonen Bässe das Sprungbrett zu den Melodien sind, die einen tragen. Schweben auf der Musik, eins werden mit ihr: du kennst die Sprüche. Immer gut gelaunt sein, strahlendes Lächeln, während die Kiefer klappern: die „Gute- Laune- Gesellschaft“ fordert dies geradezu, als würde sie schreien: „Tauche ein in die Welt der Fantasie, denn so lässt du den Alltag hinter dir!“ Verlockender Ruf, dem viele folgen. Doch er ist selbstzerstörerisch. Die Welt der Fantasie fordert ihren Preis, einen hohen Tribut. Ich erspare es dir, weiter zu bezahlen für etwas, das irreal ist, nicht wirklich existent. Danke mir, Roger, denn was gibt es Höheres, als einen Menschen von einer Qual zu befreien, zu erlösen?“
Roger schaute wieder um sich. All die Menschen hier sollten einzig in einer großen Illusion leben? Das konnte nicht sein. Der Mensch, getrieben von einer Sehnsucht, Fantasie zu erleben, sich vom Alltag zu entgrenzen, zu fliehen?
Zum ersten Mal machte er sich Gedanken, was Fantasie denn nun wirklich sei. Im Rhythmus der Bässe fühlten sich die Menschen hier geborgen. Ein jeder auf seine Art, mit seinen Bildern vor Augen, mit seinen Gefühlen tanzend. Doch es stimmte: sie waren alle geeint im Rausch, der von Drogen oder der berauschten Masse ausging. Lebte und arbeitete der Mensch im Grunde wirklich nur für seine innere Welt, für das Bedürfnis, einzutauchen in eine bunte, melodische Welt, abseits der Realität? Wenn dem so wäre, dann hieße das ja, dass der Mensch doch fremd gesteuert ist, nur scheinbar frei in seinen Gedanken.
Diese Gedanken beunruhigten Roger.
„Es ist dein Bewusstsein, das sich gegen diese Gedanken wehrt. Der kleine Teil in dir, selbst nicht mehr als eine vom Gehirn erfundene Illusion, die dir weismachen will, du hättest die Kontrolle über dich. Sie dir die Menschen hier an: sie sagen, sie würden bewusst Drogen nehmen, sie hätten eine bewusste Entscheidung getroffen. Falsch! Du aber beginnst zu begreifen, was dahinter steckt.“
„Du klärst mich nun schon eine Zeit auf über die Welt, wer oder was du auch immer bist. Du willst mich überzeugen, dass ein Großteil des Lebens nur Illusion ist. Was aber, wenn die Menschen dazu geboren sind, in einer Illusion zu leben? Vielleicht ist das Leben selbst nichts weiter als eine Illusion und wird nur bemerkt und als solches erkannt, weil uns das Bewusstsein dazu die Fähigkeit gibt. Vielleicht würde ich dich gar nicht bemerken, wenn du nicht in mein Bewusstsein kommen würdest. Du brauchst also das Bewusstsein, um mit mir zu sprechen. Auch du, der du vorgibst, illusionslos zu sein, bedienst dich dieses Hilfsmittels.
Du bist, wenn man so will, als Gegenteil der Illusion in der Illusion selbst gefangen. Mit ihr steht und fällt deine Existenz. Was bist du also? Ich sage es dir: ein Paradoxon.“
Roger war überrascht von der Schlüssigkeit dieses Gedankenganges, und, so gestand er sich ein, auch stolz darauf.
„Das ist es, was ich dir sagen wollte, Roger: die Welt ist nicht der schöne Geruch von Vanille und feuchter Erde, nicht die Südseelandschaft deines Fantasie, wie du es lange Zeit gelebt hast. Sie ist kein Drogenrausch, keine perfekte Harmonie zwischen allen Dingen und Menschen. Sie ist eine Illusion. Aber diese Illusion als solche zu erkennen, ist um vieles mehr wert, als immerzu in ihr ahnungslos zu leben und ihrer chaotischen Gesetzmäßigkeit unterworfen zu sein. Denn so kannst du nun selbst entscheiden, ob du weiter in der Welt deiner Gedanken und Bilder leben oder in der Welt der wirklichen Ereignisse handeln willst. Die Welt ist paradox: sie besteht aus der Illusion und den Gedanken, die sich mit dieser Illusion beschäftigen. Du hast angefangen, zu begreifen. Der Stein ist, wie sagt man so schön, ins Rollen gekommen. Nun liegt es an dir: du hast die Wahl, mit welcher Weltsicht du weiter leben willst. Ein Strauß Blumen, Roger, duftet wunderschön. Und kann Tore öffnen, vielleicht auch die zu Julias Herz. Du bist dir nun ein Stück weit selbst bewusst. Es liegt an dir.“
Das war das Letzte, was er von der Stimme gehört hatte. Genauso schnell, wie sie gekommen war, verschwand sie wieder. Stattdessen dachte Roger nun nach über das, was er gehört hatte. Er vereinfachte es für sich und schrieb auf das am Strauß hängende Kärtchen: Die Welt der Fantasie ist wie Magie: sie kann dir helfen, den Zauber der Liebe zu teilen.