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Derealisation
Ich kralle mich an die harte Holzplatte des Tisches, streiche über die glatte Oberfläche, bewege meinen gesamten Körper, nur um zu spüren, dass ich lebe, dass das Blut immer noch in mir zirkuliert. Die Angst, loszulassen, ist vollkommen irrational, doch ich fürchte mich davor, dass ich von diesem Bett abhebe, wenn ich mich nicht an der Realität festhalte. Ich fürchte mich davor, in den Spiegel zu sehen, wo mir ein Mädchen mit so roten und geweiteten Augen entgegenblickt, dass man meinen könnte, ich hätte mehr genommen als nur eine beschissene kleine Line.
Die Decke bis zum Kinn hochgezogen, ich friere und spüre meine Fingerspitzen nicht mehr, dabei ist es erst Anfang Herbst und die Heizung voll aufgedreht, doch die Luft fühlt sich eiskalt an und füllt meine Lungen nicht – ich bemühe mich, mit der Nase zu atmen, denn wenn ich den Mund aufmache, werden meine Atemzüge immer schneller und ich pumpe den Sauerstoff so hastig durch meinen Körper, dass ich umzukippen drohe.
Es ist, als wäre vor meinen Augen ein durchsichtiger Vorhang – oder als wäre die Welt um mich herum durchsichtig, so schrecklich fragil, so als könnte ich sie zur Seite schieben und stünde vor dem Nichts, das ich so verabscheue. Doch diese Realität ist so scharf, dieser so alltägliche Raum bedrängt mich, all das Sein um mich herum überschäumt mich mit Eindrücken, die ich nicht mehr verarbeiten kann.
Ich muss husten und spüre den Geschmack von Schleim in meinem Mund, schlucke ihn wieder runter, doch ein schrecklich unangenehmes Gefühl in meinem angeschwollenen Hals bleibt zurück.
Die Sonne da draußen verhöhnt mich, lacht mich aus, mich und meine unlogische Wahrnehmung, mich und mein schmerzendes Herz, das sich anfühlt wie ein angebranntes, fast schwarzes Stück Fleisch. Ich streiche über meine eigene Haut, umarme mich, weil es sonst niemanden gibt, der mich umarmen könnte, weil ich alleine bin und Angst habe, die Augen zu schließen.
Jemand sollte eine Spritze nehmen und mein Blut abfüllen und es dann entweder als Droge oder als Folterinstrument verkaufen – wenn es zwischen Beidem überhaupt einen Unterschied gibt, vor allem für jemanden, der sich die kompletten Arme aufgeschnitten hat, in der Hoffnung, durch Schmerz wieder dem Gefühl der absoluten Schwere- und Realitätslosigkeit zu entrinnen.
Ich lasse mich nach hinten fallen, hinein in die weichen Kissen, die mich schweben und denken lassen, dass ich keinen Schatten besitze, dass ich Luft bin – die Luft, die in mir pulsiert.
Es gibt keine Angst, die zu überwinden ich nicht imstande bin. Wenn man eine Seele mit sich herumträgt, die sich wie ein alter Kaugummi anfühlt, verschwimmen alle Grenzen.
Also presse ich meine brennenden Augenlider auf die wunde Haut unter meinen Augen und werde selbst zu dem schreienden Schatten, der sich langsam verdaut in der strahlenden Schattenwelt. Die Grenze überschritten, ein Fall durch die Sterne, der Vorhang aufgerissen, für immer? Die Zeit kotzt sich aus in meinem Kopf, ihre Innereien quellen aus meinen aufgerissenen Lippen. Vergewaltigt durch die eigenen Gedanken, die sich um den geschmacklosen Alltag drehen, drehen sich um... Sie umschmeicheln mich, umarmen mich, saugen mein Blut aus, bis ich ebenso leer bin wie ihr sinnloses Drängen. Ich schlage auf dem Boden meines Geistes auf, der Abgrund verschluckt mich und zermalmt meine Knochen. Der Tod fletscht die Zähne und streicht über meine weichen Brüste, weckt die Sehnsucht nach dem Ende der endlosen Vergänglichkeit. Der Orgasmus der Wiederholung, der Sprung der Zwischenwelt, der Geruch der Hoffnungslosigkeit, auf der Klippe aufgehängt, erhängt, erdrosselt durch den unaufhörlichen Strom der Nichtigkeiten.
Die Schwärze sammelt sich um mich herum, ein Konzentrat der Ungewissheit. Die Dunkelheit umschäumt mich, umschwärmt mich, treibt mich immer weiter auf das Nichts zu und ich treibe auf dem Wasser meines Wahnsinns, vertrieben von dem Lachen der Liminalität. Aufgelöst, aufgelöst in der Nässe der triefenden Wahrnehmung, an deren Wänden langsame Worte hinuntertropfen. Sie sind nicht mehr als ein Echo der hinter mir gelassenen Realität, die sich allmählich umkehrt. Ich bin unter die Haut der Welt gekrabbelt, verkrieche mich zwischen ihren nackten Knochen, presse meine Lippen auf das pochende Fleisch, das Herz wie eine tickende Uhr. Es braucht eine neue Batterie, ich brauche eine neue Seele. Gott hat den Bauch meiner Ewigkeit aufgeschnitten und mich durch ihren Nabel herausgesogen, ein blutverschmiertes nacktes Baby, ein nackter Schrei in der eiskalten fremden Welt. Und wie ein Baby ist sie für mich jeden Tag ein ganz gewöhnliches Wunder und ich verdränge sie nicht, ich sauge mich in sie zurück und pralle wieder von ihr ab, ein Hin und Her in dem Kreislauf der Glückstränen.
Ich fliege durch das schwarze Blut, das aus mir hinaustritt, trete selbst aus mir hinaus, schwebe in dem absoluten Nichts. Das Bett, in dem ich gelegen habe, fällt in sich zusammen und zieht die Welt mit sich, verfängt sich in Partikeln.
Ich nicht mehr ich, kann mich nicht finden, suche nach dem Ende, der Grenze, doch es ist eine Spalte, in der ich mich selbst verfangen habe. Ich ein Es. Nichts mehr als allumfassender Rauch, dessen Schwaden zwischen den Herzen aufsteigen, versunken in der Geschwindigkeit, gefroren zu meinem eigenen Atem. Gleite durch die Herbstblätter, die Bäume sterben in mir und warten sehnsüchtig auf den Frühling. Ich sterbe. Langsam, unwirklich. Leise.
Versinke. Verbrenne. Verliere mich in mir.
Weit, weit weg von mir ein Geräusch, das ich nicht definieren kann, wie durch die Wände eines Traums, eine aufgeschlagene Tür und eine Stimme ohne Worte, Worte ohne Sinn.
Langsam, ungläubig, reiße die Augen auf, falle in mich zusammen.
„Schon wach?“ Ein Lächeln. Ein Mensch. Oder doch keiner? Mich geboren. „Was möchtest du zum Frühstück?“
Ich, hinter der Glaswand, taub und stumm und doch: „Mir eigentlich egal.“
„Wie wars denn gestern noch?“ fragt sie, ein wenig besorgt, immer noch das selbe blinde Lächeln.
„Super, hatten richtig viel Spaß!“. Ich lächle zurück. Gebe mich auf. „Am Ende wurde es aber etwas langweilig, deshalb bin ich früher gegangen.“ Begrabe mich. Vergrabe mich tief in mir selbst. „Ich steh auch gleich auf!“
Meine Hände, schweißnass unter der Decke, meine Seele prallt immer wieder an meiner Haut ab bei dem Versuch, aus mir zu fliehen.
Fünf Nachrichten auf Facebook, zwei verpasste Anrufe auf dem Handy und zum Frühstück gibt es Rührei, Obstsalat und leichten Kaffee.