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- 19.02.2006
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Der zweite Turm
Der Turm stand in Flammen.
Was Holger anfangs wie ein Inferno vorgekommen war, schrumpfte im Außenspiegel des Trucks auf Streichholzgröße.
Holger blickte zu Michail, dem Professor. Er bot einen erbärmlichen Anblick, doch Holger ahnte, dass er selbst nicht viel besser aussah. Michails Gesicht war überzogen mit einem Schweißfilm, in dem Sand, Blut und Dreck klebten; die Kleidung zerrissen, dunkle Flecken unter den Achseln. Wie durch ein Wunder klemmte noch immer die Brille auf der Nase des Professors. Das Drahtgestell geflickt, das linke Glas von einem Sprung durchzogen. Hinter den Gläsern Augen, in denen Pläne funkelten.
Pläne, Holger loszuwerden.
Der Professor hielt die Karte so, dass sie die Wunde in seinem Bein verdeckte. Oder hatte Holger sich die Verletzung nur eingebildet? Der Cocktail aus Schmerztabletten, Erschöpfung und Hitze vernebelte seine Sinne.
Nein, das war genauso wenig Einbildung gewesen wie die Zähne, die sich in Holgers Handrücken gebohrt hatten. Der Biss schmerzte, aber Holger hatte schon Schlimmeres ertragen. Dann setzte das Pochen ein. Mit jedem Herzschlag arbeitete es sich weiter den Arm hinauf. Holger spürte, wie sich das Virus den Weg zu seinem Herzen fraß.
»Fahr nicht so schnell!«, sagte Michail.
Der Wüstenboden war tückisch. Unter losem Sand verbargen sich Senken, die selbst die mächtige Dreißig-Tonnen-Maschine auf die Seite werfen konnten. Holger nahm den Fuß vom Gas, fuhr in weniger halsbrecherischem Tempo weiter.
Es schwappte in den Kanistern hinter ihren Sitzen. Wasser und Benzin, vertäut und gestapelt bis unter das verbeulte Dach des Trucks.
Vor ihnen wuchs der Südturm in die Höhe. Das Monument, von dem sie sich Zuflucht erhofften. Erhofft hatten. Bevor alles schiefgegangen war.
Wenn die Bewohner des Turms schlau waren, würden sie weder Michail noch ihn einlassen. Holgers Bissspur war zu offensichtlich. Und die Wunde des Professors nicht minder. Im besten Fall sperrte man sie in eine Zelle. Wahrscheinlicher war, dass man sie einfach abknallte. Oder man wartete, bis die Zeit sie erledigte.
Was Holger zum eigentlichen Problem zurückbrachte. Das Serum. Wo verwahrte Michail die letzte Spritze? Zunächst erwog er eine Vollbremsung. Der Professor war nicht angeschnallt. Aber würde die Spritze das Manöver in einem Stück überstehen?
Erstaunlich viel Bewegung unter der Karte. Ein beinahe komischer Anblick, wie Michail versuchte, unauffällig in seinem Rucksack zu wühlen. Der Professor mochte ein Genie auf dem Feld der Wissenschaft sein, aber er war ein miserabler Schauspieler. Holger riss das Steuer nach links. Michail wurde von seinem Sitz katapultiert, gegen Holger gepresst; die Karte flatterte durch das Cockpit.
Holger nahm Michail mit dem rechten Arm in den Schwitzkasten. Wollte es tun, doch der Gurt wurde ihm zum Verhängnis. Das Band straffte sich, blockierte, bevor er Michails Hals umschlingen konnte. Ein wildes Gerangel entstand. In einem Reflex latschte Holger auf die Bremse, der Truck schlingerte, Reifen quietschten, Sand peitschte gegen die Karosserie. Das Lenkrad drehte sich wie von Geisterhand, Holger hatte es losgelassen, um sich gegen den Professor zu wehren. Beide begriffen im selben Moment, vier Hände packten das Lenkrad, versuchten, den Truck unter Kontrolle zu bringen. Sie hatten dasselbe Ziel, doch sie waren zu sehr in ihrem Kampf verfangen, arbeiteten gegeneinander, machten es schlimmer. Vom Südturm musste es aussehen, als steuere ein Betrunkener einen Truck mit geplatztem Reifen. Holger keilte mit dem Ellenbogen aus, erwischte den Professor am Hals. Die Hände verschwanden in einem Knäuel aus Würgen und Keuchen. Der Truck kam zum Stehen. Holger fingerte nach der Schließe des Sicherheitsgurtes. Michail tastete im Fußbereich herum. Suchte nicht das Serum, erkannte Holger, sondern den Revolver, der ihm aus dem Gürtel gepoltert war. Endlich das befreiende Klicken des Gurtes. Als Michail hochkam, warf sich Holger mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn. Die lädierte Tür hielt dem Ansturm nicht stand. Zu zweit purzelten sie aus dem Fahrerhaus. Ein Schuss löste sich. Holger schrie auf. Er spürte nicht, wo es ihn erwischte. Der Schmerz in seinem Knie übertraf alles. Als drehe ihm jemand den Unterschenkel aus dem Gelenk.
Durch die Schwärze Lores Stimme: »Du musst wieder aufstehen.«
Holger kniff die Augen zusammen, wollte in der Dunkelheit versinken, wollte bei Lore sein.
Sie brachte ihre Lippen ganz nah an sein Ohr. Ihr Atem kitzelte über seinen Nacken. »Noch nicht, Liebster.«
»Bitte ...«
»Ich beschütze dich. Ich habe dich immer beschützt.«
Holger dachte an sein Leben als Soldat. Dachte an die Autobombe, an die Minen, daran, dass um ihn herum in einem fort Menschen starben, im Kugelhagel, durch Schrapnellsplitter, durch Feuer und einstürzende Bauten.
Er dachte daran, dass Lore stets gesagt hatte, er könne nicht sterben. Weil sie für ihn betete. Ihr Vertrauen strahlte eine Wärme aus, die jeden Zweifel zum Schmelzen brachte.
Alles änderte sich, als der Wahnsinn bei ihnen vor der Tür ausbrach. Lore kannte den Krieg aus seinen Erzählungen, aber nichts war so, wie er es geschildert hatte. Keine feindlichen Soldaten, die nach ihrem Leben trachteten. Über Nacht verwandelten sich Nachbarn in tobende Bestien, die nach dem Blut ihrer Familien und Freunde gierten.
»Du bringst uns hier raus! Du schaffst das!«
Anfangs war da noch die gewohnte Zuversicht in ihrer Stimme. Doch je enger sich die Schlinge zuzog, als sie alles hinter sich lassen mussten, Nacht für Nacht um ihr Überleben kämpften, schlich sich ein Ton in Lores Stimme, der Holger alarmierte.
»Du schaffst das!« Zuletzt flehte sie – und das zu hören, erschütterte Holger mehr als alles andere.
Er schaffte es. Lore nicht.
Als er Lore erlöste, wollte er auch seinem Leben ein Ende setzen. Er rammte sich den Gewehrlauf in den Rachen, saß da, den Finger um den Abzug gekrallt. Doch er konnte nicht abdrücken. Ungefragt brannte diese Kraft in ihm, die ihn bisher immer geschützt hatte. Ihn und immer nur ihn.
Diesmal schien ihn diese seltsame Kraft verlassen zu haben. Holger sackte über dem Körper des Professors zusammen, nahm dessen ranzigen Körpergeruch wahr, wusste, dass er ihn überwältigen musste, war aber außer Stande, sich zu regen. Sollte Michail überleben. Im Gehirn des Wissenschaftlers schlummerte die Befreiung für die Menschheit. Holger opferte sich, um der Welt eine Chance zu geben. Man konnte schlechter abtreten. Er schloss die Augen und erwartete den letzten Schuss.
»Holger!«
Er weigerte sich, die Lider zu heben. Er befand sich in einem schwerelosen Zustand, in dem selbst der Schmerz erträglich war. Und irgendwo dort wartete Lore auf ihn.
»Bekomme ... keine Luft ...«
Ohne es zu wollen, wälzte Holger sich zur Seite.
Nicht er war angeschossen worden – es hatte den Professor erwischt.
Da lag sie, die Hoffnung der Menschheit: Ein Haufen Elend, das jammerte wie ein kleines Kind. Holger hatte lange genug gedient, um eine Verletzung einschätzen zu können.
Die Kugel hatte Michail an der Schulter erwischt. Ein Streifschuss. Nichts Ernstes.
Holger schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Sie waren etwa auf der Hälfte des Weges gestrandet. Weit hinter ihnen brannte der Turm noch immer. Und das war ihr Glück. Er zog die Aufmerksamkeit der Mutanten auf sich. Zumindest tagsüber, wo sich die meisten in ihren Höhlen verkrochen. In der Nacht wäre es etwas anderes. Dann wäre die Wüste voll von ihnen. Die Dämmerung kündigte sich bereits an.
Das Pochen meldete sich zurück. Es schien am Ellenbogen angelangt zu sein. Holger seufzte. Er war bereit gewesen, aber sich zu verwandeln, nein, dieses Ende akzeptierte er nicht.
»Du Versager!«, fuhr er den Professor an. »Hättest du mich nicht einfach umbringen können!«
»Habs versucht ...«, krächzte der kleine Mann.
Holger hievte sich auf die Beine. Der Tablettencocktail schien endlich seine Wirkung zu entfalten. Wenn er das Knie nicht über Gebühr belastete, konnte er sich bewegen.
Er humpelte zur Tür des Trucks. Ein Schritt, Bein nachziehen, den nächsten Schritt. Ein Klicken ließ ihn innehalten. Das Geräusch war unverkennbar.
»Tu es«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Eine weitere Chance wirst du nicht bekommen.«
Zu dumm von ihm, nicht nach dem Revolver zu suchen.
»Das Serum«, krächzte der Professor.
»Ja, ich weiß, es reicht nur für einen. Verschon mich mit deinem Gequatsche und drück endlich ab!«
Noch immer kein befreiender Schuss.
»Es gibt eine Chance für uns beide«, sagte Michail.
Entnervt drehte Holger sich um. Die Hand, in der Michail den Revolver hielt, zitterte. Der Lauf zeigte nur sehr vage in Holgers Richtung. Seine Brille hatte er verloren und ohne sie war der Professor anscheinend blind wie ein Maulwurf. Vielleicht hatte es ihn auch übler erwischt, als Holger angenommen hatte.
Holger kniff die Augen zusammen, stöhnte lautlos. In wenigen Augenblicken würde es dem Professor definitiv sehr viel schlechter gehen. Ihre Anwesenheit war nicht unbemerkt geblieben. Etwas schlich sich an den Professor heran. Die Mutanten waren nicht intelligent genug zum Schleichen, deswegen hatte Holger die Kreatur womöglich übersehen. Normalerweise bewegten sie sich unnatürlich schnell. Doch alles, was schnell war, war zum brennenden Turm aufgebrochen, um sich einen Teil der Beute zu sichern. Das Wesen, das sich dem Professor näherte, hatte keine Beine mehr und zog den Oberkörper mit einem Arm durch den Sand. Der andere Arm endete unterhalb des Ellenbogens, wischte wie ein abgebrochener Scheibenwischer über den Boden. Das Gesicht glich einem Steak, das man auf dem Grill vergessen hatte, ein Krater dort, wo die Nase sein sollte. Der Mund ein gezackter Spalt, der sich auf einer Seite bis zum abgebissenen Ohr zog. Gleich würde es den Professor erreicht haben. Der bemerkte es nicht, war viel zu beschäftigt damit, den Revolver gerade zu halten und sich Holger begreiflich zu machen. »In den Vorräten vom Boss habe ich einen Beutel Kochsalzlösung gefunden. Wir können das Serum strecken. Verstehst du? Ich bin mir sicher, dass die Wirkung stark genug ist, um uns beiden zu helfen.«
Gleich würde das Ding den Professor erreicht haben.
Was faselte das Kerlchen da. Serum strecken? Der versuchte doch nur, sein Leben zu retten. Lore flüstert etwas in Holgers Ohr: »Du bist zu etwas Höherem berufen, Holger. Du kannst nicht sterben, bevor du deinen Teil in Gottes Plan erfüllt hast.«
Damals hatte er Lore angefahren, sie angeschrien, ihm nie wieder mit Gott zu kommen. Als Soldat war er in der Welt herumgekommen. Und mit jedem Einsatz schwand sein Glaube an eine höhere Instanz, die irgendwelchen Plänen mit der Menschheit nachging. Im besten Fall waren ihr die Menschen scheißegal. Im wahrscheinlicheren Fall ergötzte sie sich daran, ihre Schöpfung immer wieder neuen Qualen auszusetzen.
Lore und er hatten sich heftig gestritten und in seinem Zorn hatte er sich niemals für seinen Ausbruch entschuldigt. Und dann hatte Gott auch Lore genommen – und ihn, Holger, wieder einmal übrig gelassen.
»Dieser Mann«, sagte Lore und deutete auf den Professor, »er kann die Menschheit retten. Und du bist der einzige, der ihn beschützen kann.«
Lore stand genau hinter ihm, doch er schaffte es nicht, sich zu ihr umzudrehen.
»Ich konnte dich nicht beschützen«, flüsterte er.
»Aber bei ihm wird es dir gelingen.«
Nein, Holger glaubte an keinen göttlichen Plan. Aber er würde alles tun, um Lore zufrieden zu stellen. Selbst, wenn er sie sich nur einbildete.
»Hinter dir!«
Michail drehte sich nicht um, witterte einen Trick. Als der Professor schließlich begriff, war das Ding schon über ihm. Holger setzte sich in Bewegung. Mit zwei humpelnden Schritten erreichte er den Truck, biss die Zähne zusammen, zog sich ins Innere. Kurz war er versucht, nach Michails Rucksack zu greifen, sich das Serum zu injizieren, dann packte er sein Gewehr: Lore.
Sobald seine Finger über das warme Holz des Schafts streichelten, befiel ihn eine wohlvertraute Ruhe.
Er visierte das sich windende Bündel aus Mensch und Kreatur an, wartete auf den richtigen Moment - und schoss.
Der Professor schob das erschlaffte Ding von sich.
»Alles okay ...«, rief Michail. Die Hände des Professors zitterten, als er seine Brille aus dem Sand fischte. Schwerfällig kam er auf den Truck zu. Er hielt sich die angeschossene Schulter. Nicht den Hals, dort, wo der Mutant ihn gebissen hatte.
»Ich sagte, es ist alles okay.«
Holger senkte Lore nicht. Ob sich die Verwandlung beschleunigte, wenn man mehrfach infiziert worden war? Aber er sah keine Bissspuren am Hals, sofern das in der Schmiere, die Michails Haut überzog, überhaupt auszumachen war.
»Das Biest hatte keine Zähne mehr«, sagte der Professor. »Nimm das Scheißgewehr runter.«
Das Pochen war bereits im Oberarm. Also senkte Holger die Waffe. »Wie lange brauchst du, um das Serum anzumischen?«
»Sollte nicht lange dauern.«
»Nein, sollte es nicht. Der Schuss lockt bestimmt noch mehr von ihnen an.«
»Ich muss nur eine Wasserflasche mit ...«
»Machs einfach!«, unterbrach Holger ihn. »Ich behalt die Umgebung im Auge.«
Sein Blick verriet, dass er auch ihn im Auge behalten würde. Und dass er ihn abknallen würde, wenn er sich das Serum allein injizierte. Aber so dumm konnte der Professor nicht sein. Dann würde sich Holger verwandeln. Und selbst wenn sich der Professor Chancen ausrechnete, ihn zu töten, wie sollte er durch die Wüste kommen? Nein, er brauchte Holger. So wie Holger ihn brauchte. Während der Professor ins Cockpit kletterte, mühte sich Holger auf die Motorhaube des Trucks. Von dort aufs Dach. Sein Knie protestierte, aber die Schmerzen waren in Watte gehüllt. Wie viele Tabletten hatte er eingeschmissen? Er knetete heftig seine Nasenwurzel. Nun, da Holger wusste, worauf er achten musste, sah er sie. Manche schleppten sich durch den Sand wie das eben erlegte Exemplar, zogen ihre Eingeweide hinter sich her wie eine Traube Luftschlangen. Manche humpelten mit widernatürlich verdrehten Extremitäten. Es waren allesamt lädierte Exemplare. Doch es waren viele. Und sie näherten sich dem Truck. »Professor, wir bekommen Besuch.«
»Halt sie uns noch für einen Moment vom Leib. Bin gleich so weit.«
Holger legte Lore an, sah sich um. Keine Richtung, aus der sie nicht anrückten. Sie boten leichtes Ziel, aber er hielt sich zurück. Zum einen hatte er nicht genug Schuss für alle, zum anderen lockte jede abgefeuerte Kugel weitere Mutanten an. Nein, er würde erst schießen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Allmählich drangen auch die Geräusche an sein Ohr, Geräusche die in dieser Welt vertrauter waren, als das Grillenzirpen am Abend: Stöhnen und Röcheln, Laute, die daran erinnerten, welcher Qual diese Wesen ausgesetzt waren, dazu verdammt, sich selbst zu zerstören, um an das einzige zu gelangen, was ihnen etwas bedeutete: Nahrung.
Die ersten erreichten den Truck.
»Professor?«
»Ich hab’s gleich, nur noch ... Scheiße!«
Holger hörte, wie etwas zu Boden fiel. Also gut, dann war der Moment wohl gekommen. Holger nahm ein Exemplar ins Visier, dessen Fuß in einem Fangeisen steckte. Mit jedem Schritt rasselte die daran hängende Kette. Holger drückte den Abzug durch und das Rasseln verstummte. Lore spuckte noch einmal ihre erlösende Munition. Und noch einmal. Selbst mit verbundenen Augen hätte Holger nicht danebenschießen können. Und dennoch zog sich der Kreis um den Truck enger. Eine Hand, die an eine Vogelklaue erinnerte, langte nach dem Kotflügel. Lore zuckte. Der zur Klaue gehörende Körper sackte in den Sand.
Die nächste Parodie einer Hand krallte sich in den Kühler. Ein Kopf erschien oberhalb. Der Hals war zu drei Vierteln durchgenagt, sodass der Kopf haltlos von Schulter zu Schulter baumelte. Lore riss den Kopf vom Rumpf.
Vier Schuss blieben ihm noch. Reine Verschwendung auf dieser Distanz. Holger kletterte zurück auf die Motorhaube. Die Mutanten waren schon halb verwest, welcher Voodoo sie auch immer aufrecht hielt, ein gezielter Hieb machte ihnen genauso den Garaus wie ein drittes Auge. Holger musste nicht einmal besonders kräftig ausholen. Der Gewehrkolben ging durch den Schädel wie durch eine Gipswand. Ein schmatzendes Geräusch. Während er noch das Gallert vom Gewehr schüttelte, gierten weitere Hände nach seinen Beinen. Lore wie einen Baseballschläger schwingend, ließ er Schädel um Schädel platzen. Doch wo es zuvor Dutzende gewesen waren, brandeten sie nun wie eine Flut gegen den Truck. Die Motorhaube war glitschig von Blut und Hirnmasse. Holger konnte nicht gewinnen.
»Professor?«
Anstatt einer Antwort wurde die Fahrertür aufgestoßen. Durch den Schwung riss es die Glücklosen, die der Tür am nächsten waren, von den Beinen. Zusätzlich feuerte der Professor seine gesamte Munition in die zurückstolpernde Gruppe. Dabei schrie er wie ein Wahnsinniger. Er schrie noch immer, als der Revolver längst keine Kugeln mehr abfeuerte, nur noch sein charakteristisches Klicken von sich gab. Holger nutzte den Moment und schwang sich ins Innere der Kabine. Er vermochte nicht zu sagen, was heftiger schmerzte, sein Knie oder das Pochen in seinem Arm, das sich bis zum Herzen vorgearbeitet hatte. Ob sich so ein Herzinfarkt anfühlte?
Der Teil seines Gehirns, der wusste, was er tun musste, um zu überleben, übernahm die Kontrolle.
So gelang es ihm, die Tür zuzuschmeißen und gleichzeitig den Zündschlüssel zu drehen. Während der Truck bebend erwachte, nahm Holger noch wahr, wie der Professor mit einem Messer ausholte. Die Klinge bohrte sich tief in Holgers Oberschenkel. Er hätte es wissen müssen. Ein Kichern kratzte sich den Weg aus Holgers Brustkorb. Weder Virus noch Herzattacke, sondern ein schnödes Messer würde ihn von seinem Elend erlösen.
»Gib endlich Gas!«, schrie ihn Michail an. Das Messer hatte er wieder herausgezogen und er machte keine Anstalten, erneut auf ihn einzustechen. Abermals war es der Instinkt, der Holger reagieren ließ. Der Truck machte einen Satz und durchbrach den Ring aus Leibern, der sie einkesselte.
Es klang, als bräche eine Walze durch Unterholz. Die Scheibenwischer quietschten über die Frontscheibe, um der rotschwarzen Masse Herr zu werden. Dann verschwanden die Kreaturen in einer Wolke aus Sand und Staub hinter ihnen.
Holger schielte zum Professor. Er hielt die Spritze noch immer in Händen, die er für ein Messer gehalten hatte.
»Wann wirkt das Zeug endlich?« Der Schmerz umschloss nun Holgers Brustkorb und drückte zu, quetschte das Blut in seinen Kopf. Seine eigene Stimme nahm er durch das Rauschen in seinen Ohren kaum wahr. Entweder hatte ihn der Professor verarscht, oder das Serum war zu schwach. Oder es kam zu spät.
Die Fahrt verlangsamte sich. Benzin? Nein, die Nadel zitterte im halb vollen Bereich. Holger trat aufs Gas. Wollte es tun. Doch er spürte seine Füße nicht mehr. Taubheit krabbelte seine Beine empor.
So durfte es nicht enden. Nicht so! Unter Aufbietung aller Willenskraft löste er eine Hand vom Steuer und griff nach Lore. Das hatte er sich geschworen, bevor er sich verwandelte, setzte er sich selbst ein Ende. Lore glitt ihm aus den Fingern. »Professor!«, nuschelte er.
Doch sein Beifahrer konnte ihm nicht helfen. Michail war gegen die Tür gesackt. Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Dann knallte Holgers Kopf aufs Lenkrad. Ein nicht endender Hupton gellte durch die Dämmerung. Holger starrte aus dem Seitenfenster, auf die sich vor dem Sonnenuntergang abhebenden Gestalten, die auf den Truck zuhielten. Dann ... nur noch Schwärze. Diesmal wartet keine Lore auf ihn.
Als Holger die Augen aufschlug, blickte er in einen schwarzen Schlund. Der Schlund war von abgebrochenen Zähnen gesäumt und gehörte zu einer klumpigen Masse, die einmal ein Gesicht gewesen sein mochte. Der Kopf sah aus, als hätte er Bekanntschaft mit einem Flammenwerfer gemacht. Die geschmolzenen Überreste einer Sonnenbrille klebten im Gesicht, bildeten eine kaum trennbare Masse aus Haut und Plastik, schminkten der Fratze blaue Tränen auf die Wangen.
Zum ersten Mal in Holgers Leben versagten seine Reflexe. Paralysiert wie eine Maus vor der Schlange, war er außer Stande, sich zu regen. Das Wesen legte den Kopf schräg, stieß ein Fauchen aus und – schlurfte davon.
Es dauerte einen langen Moment, bis Holger begriff. Und als er es schließlich tat, verleugnete es ein Teil in ihm noch immer: Der Mutant fraß ihn nicht, weil Holger nun einer von ihnen war.
Aber warum konnte er normal denken? Oder waren das nur Nachwehen seines absterbenden Gehirns? Holger wartete darauf, dass sein Verstand sich zersetzte.
Der Vollmond beschien eine geisterhafte Szene. Eine Szene, die Holger schon oft gesehen hatte, bisher jedoch immer aus sicherer Entfernung. Die Wüste wimmelte vor Mutanten. Rastlos wanderten sie umher, auf der Suche nach Nahrung. Immer wieder zog es einige zum Truck, doch sie machten keine Anstalten, nach ihm zu greifen.
»Nicht so ruckartig bewegen«, flüsterte Michail neben ihm.
»Was geht hier vor?«
Der Professor legte einen Finger an die Lippen. Holger zwang sich zur Ruhe, nahm drei tiefe Atemzüge. Als er immer noch denken konnte, flüsterte er: »Es hat nicht funktioniert, oder?«
»Doch hat es.« Eine lange Pause. Dann: »Nur anders als erwartet. Die Verwandlung ist aufgehalten, aber anscheinend ist genug vom Virus in uns, dass sie uns nicht mehr als Menschen einstufen.«
»Aufgehalten?« Holger war das Stocken nicht entgangen.
»Aufgehalten oder ... verlangsamt. Beides möglich.«
Holger spürte in sich hinein. Das Pochen in seinem Arm war verschwunden. Sein Knie schwieg. Von leichten Kopfschmerzen abgesehen, fühlte er sich erstaunlich ... gut. So gut wie schon seit sehr langem nicht mehr. Aber es machte sich kein Hochgefühl in ihm breit. »Wir haben kein Serum übrig, um mehr Gegenmittel herzustellen“, sagte er. „Damit ist alles futsch.«
»Das stimmt so nicht.« Der Professor schüttelte den Kopf. Mondlicht brach sich auf seiner Brille. »Wir sind der Impfstoff. Aus unserem Blut können wir ...«
Er verstummte, als ein Schatten im Fenster erschien. Wie der Mutant zuvor, gaffte er in den Truck und zog dann weiter.
»Du meinst, wir schaffen es in diesem Zustand bis zur Kolonie?«, nahm Holger den Faden wieder auf. »Laut Karte brauchen wir eine Woche.«
»Von den Mutanten droht uns keine Gefahr, sofern wir uns ruhig verhalten.«
»Und das Serum, wird es so lange wirken?«
Holger hörte, wie Michail sich über den Stoppelbart kratzte. »Auf der Route sind Türme verzeichnet. In einem wird sich eine Möglichkeit finden, neues Serum herzustellen.«
Holger starrte in die Nacht. Der Südturm war mit dem Truck eine Viertelstunde entfernt. Doch das spielte keine Rolle. Ihnen war Zeit geschenkt worden, aber an ihrer Lage hatte sich nichts geändert. Man würde sie nicht einlassen.
Holger wurde von heftigen Kopfschmerzen geweckt. Er kannte Kopfschmerzen, sie waren in einer Welt ständiger Dehydration ein verlässlicher Begleiter. An Wasser mangelte es ihnen nicht, er trank einen halben Kanister leer. Das Hämmern in seinem Kopf blieb.
An Michails zusammengekniffenen Augen sah er, dass es dem Professor nicht besser erging. Er faselte etwas von Nebenwirkungen. Ihnen beiden war klar, dass sie längst nicht so viel Zeit hatten wie angenommen.
„Wir müssen es probieren.“
Die Sonne schien gleißend, hatte auch den hungrigsten Mutanten zurück in seine Höhle verjagt. Holger riss einen Fetzen seines Hemds ab und wickelte ihn um Lore, bastelte eine provisorische Friedensfahne. Zu Fuß marschierten sie zum Südturm.
Holger wartete auf den Schmerz in seinem Knie, doch der blieb aus.
Hinter den Fenstern machte er Bewegung aus. Aber man schoss nicht auf sie. Weil die Bewohner keine Mutanten anlocken wollten? Besaßen sie keine Waffen?
Als sie auf Wurfweite heran waren, schleuderte man Steine auf sie.
»Ich will mit eurem Anführer reden!«, rief Michail. Die Antwort waren noch mehr Steine.
»Wir haben ein Heilmittel!« Der Professor hätte ebenso gut behaupten können, er sei der wiedergeborene Messias.
Holger konnte es den Turmbewohnern nicht einmal verübeln. Sie zogen sich zurück zum Truck. Holger war kaum mehr in der Lage, geradeaus zu gucken, derart wütete der Schmerz in seinem Schädel.
„Wir müssen es beim nächsten Turm versuchen.“
„Wir schaffen es nicht bis zum nächsten Turm.“
Michail hatte recht.
„Und was schlägst du vor?“
Michail sah ihn stumm an. Holger wusste, was er vorhatte. Es gab nur diese eine Option, wenn sie überleben wollten. „Das können wir nicht tun ...“, wehrte er schwach ab.
„Es geht nicht allein um uns, Holger. Überleben wir nicht, überlebt niemand.“
Holger massierte sich die Schläfen, presste seine Finger so heftig in die Haut, dass die Knöchel knackten. „Tu es“, sagte er.
Michail betätigte die Hupe. Einmal, zweimal, dreimal, jedes Mal so lang wie es ihre Kopfschmerzen erlaubten.
Sie sandten den einzigen Code in die Wüste, den die Mutanten verstanden: Kommt herbei, es gibt Fressen!
Die Sonne zeigte sich in ihrer ganzen Gnadenlosigkeit, doch dieser Einladung konnten sie nicht widerstehen. Die ersten Schatten huschten heran, die Gierigsten und Unersättlichsten trieb es zum Bankett. Holger drehte den Zündschlüssel, ließ den Motor aufheulen, schaltete das Licht ein, betätigte die Lichthupe. Die Mutanten wurden von dem Truck angezogen wie die Fliegen vom Scheißhaufen. Diesmal war kein brennender Turm in ihrem Rücken, der mit um ihre Aufmerksamkeit buhlte.
Der Truck setzte sich in Bewegung. Zunächst nur gemächlich. Holger wollte sie nicht abhängen, er wollte sie leiten. Er ließ seinen Sicherheitsgurt einrasten und Michail tat es ihm gleich.
Der Turm wuchs vor ihnen in die Höhe. Nahm bald das gesamte Sichtfeld ein. Hektisches Treiben hinter den Fenstern. Schließlich doch Schüsse, miserable Schützen, der Seitenspiegel zersprang. Holger trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Professor stieß ein animalisches Heulen aus. Dann rammte der Truck den Turm.
Das Tor hatte der Gewalt von 600 PS nichts entgegenzusetzen. Es barst wie ein rohes Ei. Lärm, Splitter, Staub.
Die Motorhaube faltete sich wie eine Ziehharmonika, quietschend-ächzende Misstöne; Holger wurde in seinen Gurt katapultiert, alle Luft aus seinem Brustkorb gepresst, für einen Augenblick der Besinnung beraubt, regnendes Glas. Bersten, Brechen, Schreie, Schüsse. Schemen, die an ihm vorbeijagten. Der Sitz neben ihm: leer. Die Tür verklemmt, das Fahrerhaus verschoben. Holger schlängelte sich aus dem Fenster, wankte in den Turm, Lore an sich gepresst. Es knirschte unter seinen Sohlen, Stein-, Holz-, Glassplitter. Mehr Schreie, mehr Schatten: Zähne, Klauen, Hecheln, Schnaufen. Holger torkelte an zwei Ungetümen vorbei, die einen Körper in Stücke rissen.
All das sah er nur verschwommen, die Kopfschmerzen brachten ihn um. Wo war der verdammte Professor? Treppen, Gewimmer, mehr Treppen, Fauchen und Stöhnen, Tote, Untote. Holger stolperte, ein Schraubstock presste sein Gehirn zusammen. Eine Leiche, über die sich schmatzend eine Gestalt hermachte. Der Kopf der Gestalt ruckte hoch. Das Gesicht in rot getaucht, Spritzer auf der Brille.
Holger zu benommen, um einen Laut zu machen. Der Professor breitete die Arme zu einer beschwichtigenden Geste aus. Von seinen Händen tropfte Blut.
„Hör mir zu, Holger! Die Kopfschmerzen, sie verschwinden. Es kostet nur einen Moment der Überwindung.“
Holger legte Lore an. Er hoffte, dass Michail ihm seine Schwäche nicht ansah. Er konnte den Professor kaum fokussieren.
„Mach jetzt nichts Unüberlegtes. Denke daran, was auf dem Spiel steht.“
Übergangslos sprang Michail ihn an. Wieder einmal war Holger von der Kraft überrascht, die in dem kleinen Mann schlummerte. Scheppernd schlitterte Lore über den Boden. Schläge, Beton unter seinem Rücken. Michail hockte auf seinem Brustkorb, bohrte seine Knie in Holgers Oberarme, umklammerte seine Handgelenke. „Beruhig dich, Holger. Wir sind immer noch Menschen. Wir können es schaffen.“
Holger war zu schwach, um sich aus Michails Griff zu befreien. Lore außer Reichweite, eine Supernova im Kopf, sein Sichtfeld schrumpfte auf Bierdeckelgröße. Er gab seine Widerwehr auf. Michail ließ ihn nicht los. Er schob sein Gesicht näher an das von Holger, zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. »Wir stehen auf derselben Seite«, beschwor Michail ihn. »Es wird dir gleich besser gehen, vertrau ...«
Holger vergrub seine Zähne im Hals des Professors, zerrte und rüttelte, riss. Heißes Blut schoss ihm über das Gesicht. Holger schluckte, erst reflexartig, dann gierig. Michail kreischte, rollte sich weg, presste die Hände auf die sprudelnde Wunde. Holger setzte ihm nach, warf sich auf ihn, trank ihn, saugte wie ein Baby, das kein Verständnis von Zeit und Raum hatte, jetzt ein Bedürfnis verspürte und es augenblicklich befriedigen musste. Als Holger von Michail abließ, zuckte der Professor nur noch schwach. Holger übergab sich, kotzte Blut und schwarzen Schleim.
Dann spürte er eine warme Hand, sie streichelte seinen Rücken.
»Es ist vorbei«, sagte Holger. »Der Professor ...«
»Der Professor ist nicht wichtig«, sagte Lore. »War es nie. Du bist es, der zu etwas Höherem berufen ist.«
»Ich kann nicht ...«
»Du kannst.« Ihre Stimme war sanft und bestimmt zugleich.
»Wie soll ich es zum nächsten Turm schaffen?«
„Dir wird etwas einfallen. Dir ist doch immer etwas eingefallen.“
»Wirst du mit mir kommen?«
»Ich bin bei dir. Immer.«
Als Holger die Augen öffnete, waren die Kopfschmerzen verschwunden. Der Professor zuckte nicht länger. Ein Schatten kauerte über ihm und fraß, was Holger übrig gelassen hatte. Die Brille lag mit den Gläsern voran in einer schwarzen Lache, die Brillenbügel in einem unfreiwilligen Spagat gespreizt.
Holger griff nach seinem Gewehr und durchquerte ohne Hast die Stockwerke des Turms. Es fielen keine Schüsse mehr, keine Schreie, nur noch gelegentliches Knurren und Fauchen, wenn sich zwei Mutanten um ihre Beute stritten. Hauptsächlich einvernehmliches Schmatzen und Schlürfen. Holger klaubte zusammen, was er in dem Chaos finden konnte. Nahrungsmittel, Munition, Wasser.
Im obersten Stockwerk machte Holger eine Pause, um sein Knie zu massieren. Unverändert schmerzfrei. Dann öffnete er die Dachluke. Mit einem Quietschen schwang sie auf und Holger hievte sich aufs Dach. Warmer Wind schlug ihm entgegen, trug den immerwährenden Sand mit sich.
Holger blickte in die Richtung, aus der sie geflohen waren. Es brannte kein Feuer mehr. Nicht einmal mehr Rauch war zu sehen. Als hätte die Wüste den Turm verschluckt.
Holger drehte sich um, suchte sein Ziel. Der nächste Turm auf der Südroute war nur zu erahnen. Es würde ein weiter Weg werden. Diesmal hatte er keinen Truck. Und selbst, wenn er es bis dahin schaffte, wie sollte er hineingelangen? Wie sollte er das Serum ...
Lore hakte sich bei ihm unter. Ruhe überkam ihn. Ihm würde schon etwas einfallen. Ihm war immer etwas eingefallen. Und Lore würde über ihn wachen. Wie sie es immer tat.
Gemeinsam machten sie sich an den Abstieg.