Der Wesenstest
Ich mache mich bereit – der Ablauf sitzt. Ich gehe die Geschichte noch einmal durch. Ich wiederhole die Fragen – worauf muss ich achten? Signale, kurze Momente, ein Augenblick der Ablenkung und alles ist vorbei. Einkaufen ist nur etwas für Psychopathen denke ich mir. Aber so ist die Welt – schau’ sie dir an – Betrüger, Verbrecher, Lügner und ... und Verkäufer. Die Schuhe sitzen, das Sakko überdeckt die Löcher in meinem besten Hemd. Jahre habe ich mich gewehrt, aber heute ist der Tag X. Mit der Berührung meines Fußes auf dem Bürgersteig trete ich ein eine Welt die mir vertraut ist, deren Regeln mir aber fremd sind. Darum spiele ich mein Spiel – wer nicht sein eigenes Spiel spielt, ist nur eine Figur auf dem Brett der Anderen und dann bist du verloren. Ich strecke meine Hand aus und bitte das Leben zum Tanz – ich führe, das ist klar!
Anonyme Menschenströme ziehen wie ein Schwarm Fische an mir vorbei.
Ich mache immer den gleichen Wesenstest mit Verkäufern. Ich erzähle zum Beispiel von meinem Urlaub, so als ob wir schon Jahre befreundet wären. Ich frage ihn, wo er zuletzt Urlaub gemacht hat – er überlegt, es interessiert mich nicht was er sagt – ich achte nur auf seine Augen. Die Richtung in die er blickt zeigt mir wohin er schaut, wenn er sich etwas bildlich vorstellt. Danach folgen ein paar Sätze Small Talk und dann bitte ich ihn sich vorzustellen wie ich wohl mit braunen Haaren aussähe – wieder achte ich auf seine Augen und weiß wohin er schaut, wenn er erst etwas konstruieren muss. Während ich wieder etwas Unbedeutendes erzähle achte ich dieses Mal auf sein Gesicht. Wie es aussieht, wenn es vollkommen entspannt ist. Häufigkeit des Lidschlags, Gesichtsfarbe – sonstige Auffälligkeiten.
Ich betrete ein Geschäft – gerader Gang, Kopf hoch – schließlich bin ich wichtig. Nun folgt der übliche Tanz um die Kleiderstangen, verbunden mit einem suchenden Blick und gelegentlichem Zupfen an einzelnen Kleidungsstücken. Bis nun endlich der Verkäufer kommt und fragt, was ich denn suche. Ich erzähle ihm, dass ich ein paar Tage da und dort gewesen sei und mir aufgefallen ist, dass meine Hemden völlig altmodisch sind und ich nach langer Zeit doch wieder etwas Neues bräuchte. Er führt mich zu einem Kleiderständer mit Hemden im mittleren Preissegment. Während des Laufens sage ich, dass das Verkäuferleben bestimmt auch sehr stressig sei und wo er zuletzt im Urlaub war. Er bejaht und erzählt dass dieser schon länger zurück läge und er kurz überlegen müsse.
In einem Bruchteil einer Sekunde zucken seine Pupillen nach links oben und ich wusste wohin er schaut, wenn er sich etwas bereits Erlebtes vorstellt. Nach dem Anschauen einiger Hemden und der Aussage, dass mir diese nicht gefallen – erzähle ich ihm, dass mir die Wichtigkeit des Aussehens erst richtig bewusst geworden sei, als ich mir die Haare dunkel färbte. Ich merkte wie mich meine Geschäftspartner ernster nahmen und ich meine Vorschläge viel besser durchsetzen konnte. Aber seit Langem, sage ich zu ihm, reizt es mich zu wissen wie es wäre eine Glatze zu tragen. „Können Sie sich mich mit Glatze vorstellen“ frage ich ihn. Wieder, in einem Bruchteil einer Sekunde zuckten seine Pupillen, diesmal nach rechts oben – dorthin schaut er also, wenn er erst etwas konstruieren muss. Jetzt habe ich alle Informationen die ich brauche.
Mit der Bemerkung, dass ich mich jetzt erst mal selbst umschauen möchte, schaffe ich Distanz zu meinen Fragen – wobei er nicht den Eindruck vermittelt etwas von meinem Test gemerkt zu haben. Nach ca. 20 Minuten habe ich ein paar Hemden rausgesucht – 4 davon gefallen mir sehr gut, von Zweien, weiß ich, dass sie mir nicht passen – aber ich will hören was der Verkäufer dazu meint. Ich probiere eines von denen die mir gut gefallen und achte auf seine Reaktion. „Wunderbar, der Schnitt ist super und die Farbe steht Ihnen“. Das übliche Bla Bla Bla. Da es aber kein abnormes Verhalten in seiner Tonalität, Mimik und Gestik gab – gehe ich von seiner ehrlichen Meinung aus und lege das Hemd beiseite mit der Option es später zu kaufen. Mich packt die Neugier und ich probiere jetzt ein Hemd von denen die mir nicht passen. Auf die Frage was er von diesem halte, bezeugt er, es stünde mir mindestens genauso gut wie das Hemd davor. „Wirklich, ist es an den Schultern nicht ein bisschen zu breit?“ – Frage ich ihn. Er bekräftigt „Nein nein, das ist modern, so trägt man die Mode von heute“ Ich mache ihm das Leben nicht leicht und bitte ihn mir den letzten Kunden zu beschreiben, der solch ein Hemd gekauft hat. Er überlegt... das sei ihm durchaus gegönnt- und während er spricht und mir beschreibt „ungefähr Ihre Statur, sogar noch etwas schmaler...“ zucken seine Pupillen mehrfach nach rechts oben und er kratzt sich kurz an seiner Nase. Mein Freund, sie haben sich – wie nicht anders zu erwarten war – selbst verraten. Es ist immer wieder das Gleiche. Er hatte eine faire Chance, aber auch er fiel durch meinen Wesenstest.
Ich probiere noch die anderen Hemden an – hoffe auf nichts anderes mehr als auf gute Unterhaltung in diesem Theaterstück. Doch als ich erneut in den Spiegel schaue, erschreckt mich etwas ...
Ab dieser Stelle hat mich der Protagonist, nennen wir ihn X, gebeten die Erzählung aus seiner Perspektive zu unterbrechen. Das, was ihm im Spiegel aufgefallen war, hat ihn zu sehr erschrocken. Aber was war passiert? Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde – aber ich will es gerne probieren.
Als er damals in den Spiegel schaute, habe er für einen kurzen Moment das Gesicht des Verkäufers an der Stelle seines eigenen Gesichtes gesehen. Vielmehr setzte der Verkäufer ihm sein Gesicht als Maske auf den Kopf, während der Verkäufer wiederum das Gesicht von X als Maske trug. Als er den Wink des Schicksals verstand, kaufte er alle Hemden, auch die, die ihm gar nicht gefielen und ging ohne ein Wort zu sagen aus dem Geschäft...
Was hat ihn so verstört?
Er hat erkannt, dass er zu dem geworden war, der er nie hatte sein wollen. Er trug genau die gleiche Maske wie der Verkäufer – er manipulierte und log genauso wie derjenige der ihm die Hemden mit der falschen Größe andrehen wollte. Er war keiner von den Guten wie er immer glaubte. Seine Rüstung war nicht die eines Edelmanns der sich nur zu schützen versucht – es war eine Rüstung die es ihm ermöglichte noch brutaler Vorzugehen, ohne verletzt werden zu können.
Er kaufte die Hemden, um sich mit dem Persönlichkeitsteil zu vertragen, den er von sich abgestoßen hatte.
Ein befreundeter Psychologe meinte dazu, dass es hart sei, die Hässlichkeit der Welt zu erkennen. Die Schwachen gingen daran kaputt, weil sie die Welt noch durch Kinderaugen sehen wollen. Doch sie müssten verstehen, dass man nicht nur wie damals Spiele spielen kann, die einem Spaß machen. Sie müssten verstehen, dass man im Leben Menschen zurücklassen muss. Das mehr gehen werden, als bleiben. Wer versucht festzuhalten geht kaputt – wie es von Müll verseuchte Wohnungen zeigen.
Ob X an der Erkenntnis kaputt gegangen ist, weiß ich nicht – aber ich lasse los von ihm – nicht aus Herzlosigkeit, sondern aus gesundem Egoismus.