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Der Weihnachtsmann kommt später
„Ja, dann tschüss und bis dann, ich freu mich.“ Johanna legte das Telefon auf den Tisch und lächelte zufrieden, als Helmut zur Tür hereinkam und es sie wie eine Bombe traf.
„Wie soll ich das jetzt verstehen?“, fragte sie gereizt.
Helmut wusste natürlich, was sie meinte, aber allem Widerspruch zum Trotz schob er majestätisch das Kinn vor und reckte die Brust heraus.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst“, polterte sie los. „Was hatten wir vereinbart für heute?“
„Wir fahren zu deinem Vater.“
„Ach, sieh an, du hast es nicht vollkommen verdrängt. Und wieso stehst du dann in diesem Aufzug hier? Willst du so fahren?“
Es war Heiligabend, die Dämmerung brach bereits herein, Zeit für Helmut, sich auf den Weg zu machen. Seit über zwanzig Jahren fuhr er durch die Stadt und in umliegende Dörfer, um als Weihnachtsmann bei Familien deren Kinder zu beschenken. Die Termine standen bereits seit dem Sommer fest. Die Idee, zu Johannas Vater zu fahren, erst seit zwei Wochen. Ihr Vater lebte seit der Scheidung allein in Johannas ehemaligem Elternhaus, und sie waren erst seit kurzem wieder in Kontakt getreten. Johanna freute sich nun nach den vielen Jahren auf ein Wiedersehen. Und damit stand sie vor einem Problem: Natürlich mochte sie Helmuts Heiligabend-Weihnachtsmanneinsätze. In seinem neuen Kostüm fand sie ihn richtig professionell und schnucklig. Johannas Bedenken waren nur, er würde wie immer erst kurz vor, oder sogar erst nach sechs wieder zurück sein. Wenn sie noch zum Abendessen pünktlich bei ihrem Vater sein wollten, mussten sie spätestens um sechs losfahren.
„Helmut, Schatz, weißt du, mir wäre wohler, du würdest heute nicht fahren. Ich möchte nicht, dass sich mein Papa Sorgen macht, wenn wir nicht pünktlich sind. Es ist Weihnachten. Bitte. Es ist ein Geschenk, dass ich ihn wiederhabe. Verdirb mir das nicht.“
„Liebling, ich kann nicht einfach daheim bleiben. Das wäre doch viel zu kurzfristig, wenn ich jetzt absage. Um sechs bin ich zurück, wie immer.“ Er hatte den Bart unters Kinn gezogen und gab ihr einen Kuss. Der künstliche Schnauzbart kitzelte sie gewaltig und sie konnte das Lachen nicht unterdrücken.
„Sei aber bitte vorsichtig“, sagte sie versöhnlicher, dann stand sie unvermittelt auf und nahm seine Hände. „Ich weiß, wie gerne du der Weihnachtsmann sein willst - und auch bist. Du denkst vielleicht, ich merke es nicht, dass du dich nach Kindern sehnst zu Weihnachten, und ich will dir das auch nicht wegnehmen.“ Sie senkte ihren Blick, dann drehte sie den Kopf leicht zur Seite. „Vielleicht waren wir wirklich dumm, nur an unsere Wünsche zu denken. Vielleicht haben wir uns nur nicht das richtige gewünscht.“
Helmut fasste sie am Kinn und drehte ihren Kopf, dass er ihr wieder in die Augen sehen konnte. „Lass gut sein, Johanna, das haben wir doch schon besprochen. Wir sollten uns nicht gegenseitig die Schuld geben. Im nächsten Leben machen wirs besser.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Ich bin pünktlich.“
Dann ließ er den Bart wieder nach oben schnipsen und tippte sich zum Abschied an den Kopf.
Das Wetter war schlimmer geworden, als die Vorhersagen es angekündigt hatten. Es schneite schon seit Stunden und der Winterdienst schien überfordert zu sein.
Endlich wieder weiße Weihnachten, dachte Helmut, und seine Stimmung hellte sich zunehmend auf. Er liebte es, wenn die Natur gerade zum Fest mitspielte. Und er hoffte, die Menschen fänden mit der weißen Pracht zu Ruhe und Zufriedenheit.
Helmut war unterwegs, versuchte, Zeit gutzumachen, um möglichst vor sechs wieder zu Hause zu sein. Nur wenige Autos kamen ihm entgegen. Meist waren es andere Weihnachtsmänner. Helmut grüßte, natürlich wusste er nicht, wer sich hinter den Bärten verbarg, nicht jeder grüßte zurück. Er setzte den Blinker zum Abbiegen in Richtung Bahnhof, war jedoch sehr erstaunt, dass die Straße gesperrt worden war. Er fuhr weiter und bog in die Straße ab, an der sich die Turnhalle befand, in der die Stadt Flüchtlinge unterbrachte. Er erinnerte sich, dass es Krawalle gegeben hatte, als die ersten Flüchtlinge mit Bussen ankamen. Er und Johanna hatten lange darüber diskutiert und auch Johanna fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, dass über hundert Fremde in der Turnhalle hausten und noch mehr kommen sollten.
Alles war ruhig, die Straße war glatt, und Helmut hatte es eilig. In fünf Minuten musste er sein erstes Ziel erreicht haben - die Adresse der Familie mit dem kleinen Sven. Sicher zappelte er vor lauter Aufregung schon mächtig herum. Svens dritter Geburtstag lag zwei Monate zurück, er würde die Bescherung mit dem Weihnachtsmann zum ersten Mal bewusst erleben.
Helmuts Gedanken ließen ihn einen Moment unachtsam sein und er erschrak, als sich in seinem Scheinwerferkegel etwas Dunkles vom Weiß der Straße abhob. Helmut konnte nicht erkennen, was es war. Er bremste mit aller Kraft und hatte Mühe, den Wagen vorbei zu manövrieren.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte er laut und stieg aus. Die Straße war spiegelglatt, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Vorsichtig ging er zu der Stelle und jetzt sah er, dass ein Mann dort lag. Er schien nicht älter als zwanzig Jahre zu sein, fast noch ein Junge, hatte schwarze, kurze Haare und einen dunklen Teint.
Mein Gott, schoss es Helmut durch den Kopf, das ist einer von den Flüchtlingen. Das fehlt mir jetzt gerade noch.
„Nicht erschrecken, ich tu ihnen nichts. Ich bin nur der Weihnachtsmann.“
Der Junge sah Helmut an, als wäre ihm sein Anblick nicht völlig fremd, dennoch fürchtete Helmut sich davor, die Fremden mit seinem Aussehen möglicherweise zu provozieren.
Doch für solche Gedanken war jetzt keine Zeit, er musste herausfinden, was der junge Mann hier auf der Straße machte.
„Haben Sie sich verletzt?“ Der Mann antwortete ihm in einer Sprache, die Helmut als arabisch deutete. Er trug eine dünne Baumwollhose und Halbschuhe, und als Helmut seine Jacke sah, wurde ihm selber kalt. Helmut reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen, doch der Mann wehrte mit schmerzverzerrtem Gesicht ab und zeigte auf sein rechtes Bein, das unterhalb des Knies in einem Winkel nach außen knickte.
„Do you speak English?“
Der junge Mann nickte. Helmut gab ihm zu verstehen, er werde Hilfe rufen. Dabei griff er in die Manteltasche seines Kostüms, um das Handy herauszuziehen und - griff ins Leere.
„Just a moment please“, sagte er und ging zum Auto, um nachzusehen, ob es ihm dort aus der Tasche gerutscht war. Nichts. Er musste es zu Hause vergessen haben.
Helmut wusste nicht, was er als erstes tun sollte. Natürlich war das Wichtigste, Hilfe für den Jungen zu finden. Aber die erste Familie wartete auf ihn und ein kleiner Junge würde traurig sein, wenn er sich verspätete oder gar nicht käme. Er konnte nicht Bescheid geben und gerade in diesem Jahr wurde er dringend erwartet, denn der kleine Sven sollte dem Weihnachtsmann sein ‘Nucki’, wie er liebevoll seinen Schnuller nannte, mitgeben.
Helmut holte als erstes eine Decke aus dem Kofferraum, um den Jungen zu wärmen.
„Do you have a mobile phone?“ Der Junge schüttelte zögerlich den Kopf.
Das glaub ich jetzt nicht, dachte Helmut. Er schaute sich suchend um, in der Hoffnung, jemand zu sehen, der ihm behilflich sein konnte. Aber sie waren die einzigen auf der Straße.
„I’m sorry, please wait here. I am calling help.“ Helmut zog sich den Bart unters Kinn und ging zur Halle.
Vorsichtig öffnete er die Tür. Im Foyer hielt sich niemand auf. Er ging zu einer zweiflügligen Tür und zog sie nach außen auf. Als er hineinging, wollte er nicht glauben, dass es in dieser Halle nicht anders aussah, als es Bilder in Zeitungen zeigten. In engem Abstand standen Bett an Bett in vier langen Reihen. Er war geschockt, als er sah, dass Wäscheleinen mit daran befestigter Kleidung für ein Minimum an Privatsphäre sorgen sollten. Er sah aber auch die Sehnsucht. Bilder ihrer Familien waren an die Wände gepinnt worden.
„Kann mich hier jemand verstehen?“ Helmut rief, so laut er konnte. Mit einem Schlag waren alle Augenpaare auf ihn gerichtet und ein Stimmengewirr schwoll an. Er hörte Rufe in einer Sprache, die er nicht verstand und auch Lachen. Einige junge Männer kamen auf ihn zu und redeten auf ihn ein. Drei kamen zu ihm an die Tür.
„Was willst du hier?“, fragte ein untersetzter, dunkelhäutiger, vielleicht gerade zwanzigjähriger Mann.
„Sie verstehen mich?“
Der andere nickte, schob Helmut hinaus ins Foyer und schloss die Tür von außen. „Also, was willst du?“
„Draußen liegt ein Verletzter. Ich brauche Hilfe.“ Helmut zeigte auf sich und sagte: „Ich heiße Helmut.“
„Ich bin Hakim“, sagte der andere. „Was ist passiert?“ Seine Stimme klang hart.
Helmut forderte Hakim auf, ihm zu folgen. „Ich weiß es nicht. Scheint gestürzt zu sein und hat sich das Bein gebrochen.“
Als sie auf die Straße traten, rutschte Hakim in seinen dünnen Schuhen sofort aus, Helmut fasste ihn unter die Achseln. Es hatte weiter geschneit, Helmuts Spur war aber noch deutlich zu erkennen. Er führte ihn zu dem verletzten Jungen. Weitere vier Bewohner folgten ihnen hinaus. Sie erkannten ihn sofort als einen von ihnen.
„Du hast ihn angefahren, gib es zu! Du kannst doch gar nicht sehen, wohin du fährst, mit deinem komischen Bart!“ Helmuts Spur und das verletzte Bein des Jungen mussten es in Hakims Augen genau so gewesen sein lassen. Helmut sah Wut in Hakim hochkochen. Hakim sagte etwas zu seinen Begleitern, Helmut schlussfolgerte, dass Hakim ihnen seine Meinung mitgeteilt haben musste, und er beobachtete verblüfft, wie sie zu ihm kamen. Sie stellten sich um Helmut herum, sodass er nicht ausweichen konnte, beschimpften ihn mit arabischen Worten, versuchten, ihm den Bart vom Gesicht zu reißen. Helmut sah sich mit einem Male in der Täterrolle, und als er an seine eigentliche Mission dachte, wünschte er sich in dem Moment sogar, weitergefahren zu sein. Warum sagte der Junge nichts? Fiel er Helmut jetzt in den Rücken?
Das Schlimme war, Helmut konnte im Moment selbst nicht mit Sicherheit sagen, ob er den Jungen bei seinem Ausweichmanöver angefahren haben könnte, oder ob das Bein schon gebrochen war, bevor er die Vollbremsung vollführt hatte.
„Wollen wir nicht erst einmal einen Arzt rufen?“, rief Helmut in das Tohuwabohu hinein. „Wir brauchen ein Telefon.“
Die fünf ließen einen Moment von ihm ab. In dem Moment sagte der Verletzte etwas zu ihnen und Hakim gab seinen Begleitern ein Zeichen, innezuhalten. Sie gingen nun ebenfalls zu dem Jungen. Was hatte er zu ihnen gesagt? Wieder redeten sie durcheinander und Helmut versuchte sich seine Chancen auszurechnen, ins Auto steigen zu können und wegzufahren, als Hakim zu ihm kam.
„Entschuldige, dass ich dich verdächtigt habe. Du bist ein guter Mensch. Du hast ihn gerettet.“ Er drehte sich zu seinen Freunden um, während er weiter zu Helmut sprach: „Ich habe mein Handy hier. Ich rufe selber einen Arzt.“
Helmut fiel ein Stein vom Herzen. Hakim wählte die 112. Helmut verfolgte das Gespräch, hörte, wie Hakim den Namen des Verletzten nannte und genau beschreiben konnte, wo sie sich befanden, und war perplex.
„Wo hast du eigentlich so gut Deutsch gelernt?“, wollte Helmut von Hakim wissen, als der das Handy in die Hosentasche gleiten ließ.
„Meine Schwester hat in Köln studiert, da habe ich mit ihr gemeinsam Deutsch gelernt. Ich wollte auch in Deutschland studieren. Dass ich durch den Krieg hierher kommen würde, konnten wir nicht ahnen.“
Helmut schaute auf seine Uhr. Er hatte schon zehn Minuten Verspätung, wie lange würde es dauern, bis der Rettungswagen kam? Er musste warten, bis der Arzt eintreffen würde und war erleichtert, als er das Martinshorn durch den Nachmittag schreien hörte. Dann sah er auch das Blaulicht. Wenige Minuten nach dem Arzt traf der Krankenwagen ein. Die Rettungssanitäter und der Arzt kümmerten sich sofort um den Jungen. Der Arzt sprach mit Hakim und Helmut konnte verstehen, wie Hakim erklärte dass Helmut nichts mit der Verletzung des Jungen zu tun habe.
Na, Gott sei Dank, dachte Helmut und schöpfte Hoffnung, weiterfahren zu können. Er könnte sich noch immer wegen des vergessenen Handys ohrfeigen. Der kleine Sven würde bestimmt schon unruhig sein vor Aufregung und Spannung. Aber vor allem Johanna: Sie wäre wirklich sauer, wenn er sein Versprechen nicht hielt und zuspät kam.
Helmut fasste den Entschluss, jetzt, da Johannas Vater wieder in ihr beider Leben getreten war, die Zeit noch zu nutzen und ab sofort Weihnachten mit ihm gemeinsam zu feiern. Dies wäre also heute sein letzter Einsatz als Weihnachtsmann und die anschließende Fahrt zu Johannas Vater könnte wegen des Wetters noch stressig werden. Der Gedanke, künftig auf die lieb gewonnenen Szenen in den Wohnstuben verzichten zu müssen, erzeugte zwar Wehmut in ihm, aber er hatte sich entschieden. Dafür sollte Helmut den Kindern heute als Weihnachtsmann in bester Erinnerung bleiben.
Ihm bliebe in Erinnerung, dass er an einem Heiligabend einem Menschen in Not geholfen hatte, wenn es auch hätte besser gehen können.
Hakim kam zu Helmut, er hatte Helmuts Decke in der Hand. Sie standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber.
„Danke, dass du ihm geholfen hast. Du hast ihn wirklich gerettet.“
„Ja“, erwiderte Helmut. „Heut ist schließlich Weihnachten.“
„Nur deshalb?“
„Nein, natürlich nicht.“
Helmut nahm die Decke und legte sie in den Kofferraum zurück. Er schlug die Klappe zu und wollte zur Fahrertür gehen. Hakim stellte sich ihm in den Weg. Helmut hatte die ganze Zeit das Weihnachtsmannkostüm an, nur den Bart hatte er unters Kinn gezogen. Abwartend sah er Hakim in die Augen.
Zu seiner großen Verwunderung sagte der Syrer:
„Frohe Weihnacht, Allah schenke dir ein langes Leben.“
Helmut hatte auf einmal mit den Tränen zu kämpfen. Er nahm Hakim in die Arme.
„Gott schenke auch dir ein langes Leben. Frohe Weihnacht.“