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Der Vogel
In den frühen Morgenstunden, es dämmerte noch nicht, schritt Captain Willdorpe über das Flugfeld in Foggia, auf dem die viermotorigen Bomber für die Mission bereit standen. Viele Stunden hatte er in den letzten Tagen mit der Planung verbracht. Es hatte auch eine Weile gedauert, seine Vorgesetzten zu überzeugen, aber schließlich hatten sie zugestimmt und seinen Entwurf übernommen. Die Flugzeuge würden heute eine neue Anflugroute wählen und wenn alles wie berechnet verliefe, würde die österreichische Fliegerabwehr den Angriff erst deutlich später registrieren. Er betrachtete die mächtigen Maschinen, doch seine Gedanken waren tausende Kilometer weiter westlich. In einem kleinen Apartment in der Page Street in San Francisco war es gerade acht Uhr abends und er fragte sich, was seine Frau und seine zwei Töchter wohl gerade machten. Die Kleinen waren vielleicht schon im Bett und schliefen. Ob er ihnen fehlte? Träumten sie von ihm? Er sehnte sich nach ihnen und vielleicht half sein Plan dabei, ihn und alle anderen, die hier festsaßen, bald nachhause zu bringen.
Mathilde ließ das Messer auf die Küchenplatte sinken. Vor ihr stieg der Dampf der heißen Kartoffeln auf und beschlug die Fensterscheibe. Hinter dem milchig gewordenen Glas, auf dem die winzigen Wassertropfen die ersten Frühlingssonnenstrahlen brachen und funkelten wie ein Sternenhimmel mitten am Tag, war ein helles Stimmchen zu vernehmen. Mathilde war gerade groß genug, um die Ellenbogen über die Arbeitsfläche zu heben. Sie hatte das Kinn auf den Unterarmen abgelegt und lauschte dem Zwitschern eines Vogels, in das bald darauf weitere einstimmten. Neugierig streckte sie ihre mit Kartoffelschalen verklebte Hand zum Fenster und wischte einen Streifen frei. Auf den Birken vor dem Haus hatte sich eine Schar grau-brauner Vögel niedergelassen, die mit metallisch klirrenden Stimmen sangen. Sie hatten einen schwarzen Streifen über den Augen, eine spitze Federhaube und einen leuchtend roten Punkt auf ihren Flügeln. „Mathilde! Die Erdäpfel werden kalt!“, ermahnte sie Mutter. Mathilde zuckte zusammen, griff nach dem heißen Gemüse und setzte ihre Arbeit fort.
Eine Weile erfüllte jede still ihre Aufgaben: Mathilde und Ingrid schälten die heißen Kartoffeln, Mutter zerstampfte sie und dünstete daneben Zwiebeln. Doch Mathildes Aufmerksamkeit war wie sie selbst. Vor allem wenn man es ihr auftrug, konnte sie nicht ruhig halten. So ruhte Mathildes Messer bald auf dem Schneidbrett. In ihren Fingern fühlte sie die weiche, warme Knolle, von der ihr Blick wieder zu den Bäumen vor dem Haus wanderte.
„Wann kommt Papa zurück?“, fragte sie. Sie erinnerte sich nur in Bruchstücken an seinen Abschied. Ihr Gesicht an die Brustknöpfe seiner Uniform gedrückt, seine großen, rauen Hände an ihren Wangen.
„Wenn du nicht brav bist und tust, was man dir sagt, kommt er gar nicht mehr“, erwiderte Mutter kühl. Mathilde erschrak bei diesen Worten und hantierte sogleich eifrig mit den Kartoffeln und dem Messer. Die Vögel auf den Birken hüpften flatternd von Ast zu Ast und tschilpten aufgeregt.
Ingrid hatte ihre Portion bereits geschält und nahm Mathilde den Rest ab, während Mutter die zerdrückten Kartoffeln mit den gebräunten Zwiebeln in einer großen Pfanne vermischte. Zischend und dampfend milderte die weiche Masse den scharfen Zwiebelgeruch. Als alles fertig war, wuschen Mathilde und Ingrid ihre Hände und deckten den Tisch: drei Teller, drei Löffel und drei Gläser Wasser. In die Mitte stellte Mutter die heiße Schüssel. Mit knurrenden Mägen und großen Augen schauten die Mädchen, wie Mutter den Kartoffelschmarrn mit dem Schöpflöffel teilte.
Ein Geräusch ließ sie innehalten. Niemand im Zimmer regte sich. Aus dem Radio, aus dem bisher leise Stimmen und Melodien dahin geplätschert waren, erklang jetzt klar und unnatürlich ein Kuckucksruf. Mutter, Ingrid und Mathilde aßen schweigend ihre Erdäpfel. Dann schwoll vor den Fenstern ein tiefes Brummen rasch zu einem hohen Heulen an, blieb für einige Sekunden konstant und schwoll wieder ab. Als das Sirenengeheul ein zweites Mal durch das Zimmer schnitt, ließ Mathilde ihren Löffel auf den Tisch sinken und sagte: „Ich habe keinen Hunger mehr.“
„Dann geh und hol den Koffer, wir gehen gleich“, erwiderte Mutter während sie angespannt, aber nach außen hin ruhig, weiter aß. Ingrid versuchte, sich wie die Mutter ruhig zu geben, sie fühlte sich als ältere verpflichtet, erwachsen zu sein und sich von Mathilde zu unterscheiden, doch sie hatte Mühe, ihre zitternden Hände zu kontrollieren.
Mathilde ging ins Vorzimmer und holte aus dem Schrank den Koffer, der immer mit den wichtigsten Dokumenten bereit stand. Sie stellte ihn neben der Eingangstüre ab, dann ging sie auf den Gang hinaus und ins Klosett, das sich direkt neben ihrer Wohnungstüre befand. Als sie fertig war und die Klospülung zog, hörte sie aufgeregtes Vogelgezwitscher über sich, konnte aber nichts sehen, als sie nach oben blickte. Der kleine Raum war hoch und weit über ihrem Kopf war ein offenes Fenster, das zum Lichtschacht hinausging. Sie stieg auf die Klobrille, kletterte über das Rohr zum Spülkasten, stützte dort ihre Beine ab und zog sich schließlich an der Kante soweit hoch, bis sie sich auf dem Fensterbrett in die Höhe stemmen und mit herabbaumelnden Beinen hinsetzen konnte. Dort sah sie einen der Vögel, die sie zuvor vor dem Haus gesehen hatte, aufgeregt hüpfen und flattern, aber er konnte nicht davon fliegen. Sein Bein hatte sich in einem Stück dünnen Draht, das aus dem Fensterrahmen stand, verheddert und hielt ihn gefangen. Sie griff nach dem Vogel und hielt ihn eine Weile in der Hand. In ihren Fingern fühlte sie das kleine, weiche, warme Wesen, in dem das Herz aufgeregt pochte. Während sie den Kopf des Vogels betrachtete, der hin und her und auf und ab zuckte, durchströmte ein Gefühl, das sie nicht genau verstand, ihren Körper und brachte sie dazu, das Tier noch etwas länger festzuhalten, noch etwas länger zu warten und zu schauen. Schließlich aber befreite sie mit der anderen Hand das Beinchen aus dem Draht und öffnete ihre Hand, damit der Vogel davon fliegen konnte. Sie blickte ihm nach wie er zwitschernd auf und ab flog, als sie plötzlich eine Hand am Bein packte und vom Fenster zog. Fast wäre sie rücklings in die Klomuschel gestürzt, aber ihre Mutter fing sie und fauchte sie an: „Spinnst du? Was machst du da oben? Wir haben keine Zeit mehr!“ Sie nahm sie am Arm und zerrte sie fort.
Sie waren alleine, als sie über den Hof liefen. Die übrigen Bewohner hatten das Haus bereits verlassen. Ingrid lief voraus, Mutter mit Mathilde an der Hand hinterher. Zuerst hatte Mutter sie mitgezogen, doch jetzt klammerte sich Mathilde mit aller Kraft an der Hand fest. Bei jedem Schritt fürchtete sie, dass sich ihre Mutter los reißen würde und sie alleine zurück bliebe. Auf der Straße schaute Mathilde über ihre Schulter. Niemand war hinter ihnen. Das Kopfsteinpflaster wartete still auf die Einschläge, die geschwärzten Fassaden blickten mit hohlen Augen auf sie herab. Sie rannten an Schutthaufen und heruntergefallenen Fassadenteilen vorbei, über das Pflaster, dem an vielen Stellen die Steine fehlten.
Mathilde wollte die Maschinen sehen, die sich dunkel brummend näherten, um dann in einem schrillen Kreischen über ihre Köpfe hinweg zu ziehen. Sie blickte zum Himmel. Er war blau, ohne Wolken, windstill und unbewegt. Die Sirenen waren mittlerweile verstummt. Da sah sie über einem Häuserdach am Ende der Straße einen kleinen Punkt aufblitzen, einen Stern, der so hell leuchtete, dass er auch am Tageshimmel zu sehen war. Er wurde rasch größer. Schallwellen begleiteten ihn, die zunächst nur die letzten verbliebenen Fensterscheiben in eine leichte Vibration versetzten, aber nach und nach ins Rückenmark krochen. Dort dehnten sie sich mit zunehmender Kraft aus, bis sie schließlich als Trommeldonner in den Kopf rollten. Orientierungslos und mit verzerrtem Sichtfeld stürzte Mathilde und riss ihre Mutter mit zu Boden. Sie blieben regungslos, die Hände an die Ohren gepresst liegen, bis der Lärm vorübergezogen war.
Aus einiger Entfernung konnten sie die Wellen eines Aufpralls und einer Explosion spüren. Mathilde sah in die Richtung, wo jetzt Rauch aufstieg. Da wurde sie an den Haaren hochgezogen und auf die Beine gestellt. Sie schaute in die zusammengekniffenen Augen ihrer Mutter, deren Brustkorb sich unter kräftigen Zügen hob und senkte. „Du …“ setzte sie mit gepresster Stimme an, doch sie setzte nicht fort. Sie wandte sich ab und blickte die leere Straße hinunter. Ingrid war nicht mehr zu sehen. Sie musste weitergelaufen sein, als sie am Boden gelegen waren und der Bomber über sie hinweg flog. Es hatte keinen Sinn mehr, bis zum Luftschutzbunker zu laufen. So zog Mutter Mathilde über die Straße zu einem Hauseingang, neben dem die Buchstaben „LSK“ geschrieben waren. Sie rüttelten an der Türe, doch die bewegte sich nicht. Sie liefen weiter zum Nebenhaus, wo sie durch das Tor in einen Hof gelangten und auf der gegenüberliegenden Seite eine Eisentür sahen, die in den Keller zu führen schien. Sie ließ sich öffnen und dahinter führte eine Steintreppe in den Untergrund.
Der Weg führte durch mehrere enge Gänge und immer wieder Treppen hinab, und als Mathildes Beine bereits schmerzten, traten sie endlich in ein hohes Gewölbe, an dessen Ende ein schwaches Licht flackerte. Kleine Gruppen, Familien und Paare, kauerten an den Wänden und schenkten den Neuankömmlingen keine Beachtung. Mutter und Mathilde gingen durch den Raum und fanden einen Platz unter einem Strebepfeiler, an den sie sich sitzend lehnten. Aus einer dunklen Ecke kam murmelnd ein grauhaariger Mann mit energischen Schritten in die Mitte des Raumes. Den Blick auf den Boden gerichtet, ging er an ihnen vorüber.
„Ausgehungerte … Bleiche …“, schnappte Mathilde auf, als er sie passierte und zur anderen Ecke des Raumes weiterging. Von dort kam er direkt zurück, „ … ausgeliefert, gedemütigt …“, hörte ihn Mathilde diesmal sagen und noch ein drittes Mal ging er an ihnen vorbei, „diese … Todesgesellschaft …“, zischte er. Aus dem Schatten einer Nische traten zwei Männer in schwarzen Mänteln, die den Aufgebrachten musterten und ihm mit ihren Blicken folgten. Einer von ihnen machte einen Schritt vorwärts, doch der andere hielt ihn am Arm zurück, denn der Schimpfende blieb endlich stehen, lehnte sich an eine Wand und sank, als hätte ihn jegliche Kraft verlassen, völlig erschöpft zusammen. Die beiden Männer zogen sich wieder in die Dunkelheit zurück.
Es war still, niemand rührte sich mehr. Die Steinwände waren wie die Luft feucht und kalt. Alle hockten oder lagen auf dem Boden, manche schienen zu schlafen, bedeckt von zerlumpten, staubigen Mänteln hätten sie auch bereits tot sein können. Die kühle Ruhe dieser Höhle war weit weg vom Kriegslärm. Mutter saß mit angezogenen Beinen an den Pfeiler gelehnt, die Stirn auf die Knie gelegt. Mathilde rollte sich am Boden zusammen und dachte an die Arme des Vaters, die ihren Kopf umschlangen. Sie schloss die Augen und konnte ihn sehen.
Er stand in seinen braunen Hosen und seinem sommerlichen, blauen Hemd, von dem die obersten zwei Knöpfe geöffnet waren, unter einer Birke und streckte die Arme hoch. Er wollte Ingrid auffangen, die den Stamm hochgeklettert war, aber nun herunter springen wollte. Sie ließ sich in Vaters Arme fallen und gemeinsam purzelten sie lachend in die Wiese. Mathilde wollte zu ihnen laufen, doch als ihr eine kühle Hand sanft durch die Haare strich, stellten sich ihre Nackenhaare auf und ihre Muskeln spannten sich. Langsam drehte sie ihren Kopf zur Seite, wo sie Mutter erblickte, die ihr die Hand auf den Kopf gelegt und den Blick auf Ingrid und Vater gerichtet hatte. Vater bemerkte sie nun, zeigte in ihre Richtung und flüsterte Ingrid etwas ins Ohr, die, die Augen auf den Boden gerichtet, zögerlich nickte. Als er fertig gesprochen hatte, küsste er das Mädchen auf die Stirn und umarmte sie lange und kräftig. Dann stand er auf, winkte Mathilde und Mutter zu, drehte sich um und ging fort. Mathilde winkte zunächst zurück, doch als er sich abwandte, stockte ihr Atem. Sie rief den Vater, um ihn aufzuhalten, schrie aus Leibeskräften, brüllte, bis ihr Hals schmerzte und ihr Kopf zu platzen drohte, doch niemand reagierte auf sie. Mutter stand neben ihr und winkte lächelnd ihrem Mann, der zwischen den Hügeln verschwand. Mathilde wollte zu ihm laufen, doch als sie versuchte, sich in Bewegung zu setzen, begann sie zu taumeln und konnte gerade noch das Gleichgewicht halten. Verwirrt schaute sie zu Mutter. Den Blick immer noch in die Ferne gerichtet, begann diese zu Ingrid hinüberzugehen. Als würde sie auf einer Kante balancieren, musste Mathilde den Kopf gerade halten und all ihre Kraft und Konzentration aufwenden, um nicht zu stürzen. Vor Anstrengung zitternd beugte sie vorsichtig den Nacken, folgte mit dem Blick prüfend ihrem rechten Bein von der Hüfte bis zu den Zehenspitzen und wieder zurück. Obwohl sie aus dem Augenwinkel bereits den Grund für ihren unsicheren Stand bemerkte hatte, wollte sie es noch nicht glauben und setzte die ihre Untersuchung auf ihrer linken Seite fort. Doch wo sie ein Bein fühlte, konnte sie keines sehen. Ihr Blick stürzte von der Hüfte in die Leere, die sich unter ihrer linken Seite auftat, eine schwarze Leere, die ihre volle Anziehungskraft erst auf ihre Augen entfaltete und ihr Leuchten in die Finsternis hinab zog.
Sie erwachte, als sie die Druckwelle der Explosion durch den Raum und gegen eine Wand schleuderte. Der Aufprall presste die Luft aus ihrer Lunge. Für einen Moment war sie ein kleiner Fisch, der, von einer großen Hand aus dem Wasser geholt und zusammengedrückt, nach Sauerstoff japste. Schwarze Flecken breiteten sich vom Rande ihres Gesichtsfeldes aus, während sie hustete, keuchte und spuckte. Allmählich aber fand sie ihren Atem wieder und erst jetzt bemerkte sie den Keller um sich. Unter dicken Staubwolken sah sie ein riesiges Loch in der Wand neben dem Eingang. Eine Frau lag am Boden und hielt sich die Brust. Augen und Mund weit aufgerissen, versuchte sie zu atmen. Ihre Gesichtsfarbe wurde immer dunkler. Die Umstehenden, die ihr bereits den Kragen geöffnet hatten und sie aufsetzten, um ihr das Atmen zu erleichtern, konnten nur mit ansehen, wie sie sich in Verzweiflung immer stärker verkrampfte und vergeblich versuchte, sich an irgendetwas festzukrallen, um nicht in die Dunkelheit zu stürzen. „Mutter!“, blitzte es da durch Mathildes Bewusstsein. Sie schaute sich um, aber konnte sie nicht sehen. Einige große und kleine Körper lagen auf dem Rücken, die Gesichter mit Mänteln, Jacken oder Pullovern bedeckt. Um sie herum kauerten ihre Angehörigen, schrien und weinten. Die Männer in den schwarzen Mänteln standen vor ihrer Nische über dem Grauhaarigen, der, als ihn einer der beiden prüfend mit der Fußspitze antippte, regungslos blieb.
Mathilde erhob sich und ging, ohne etwas von der Aufregung um sich herum zu hören, durch den Raum. In ihren Ohren verdrängte ein hoher Pfeifton die Außenwelt. Eine Gruppe von Menschen sammelte sich um jemanden, der von der Hüfte abwärts unter Trümmern begraben lag. Sie halfen einem jungen Mann der sich mit verzerrtem Gesicht wand und sich zu befreien versuchte. Dort unter jenen, die Steine und Schutt vom Körper des Mannes schoben, entdeckte sie Mutter. Mathilde konnte nur ihren Rücken sehen und wandte sich zum Ausgang. Der Durchgang und die Treppe waren frei. Zwar waren Teile der rechten Mauer eingestürzt, aber die Steine versperrten den Weg nicht komplett. Das Pfeifen in ihrem Kopf hob sie aus dieser Welt und trug sie vorwärts. Sie schwebte nach oben und gelangte schließlich ins Freie, in den Hof, in dem die Bombe den Boden durchschlagen hatte und erst unter der Erde, in der Nähe des Kellergewölbes, explodiert war.
Der Himmel war noch immer blau und die Luft war warm. Rauchwolken zogen über das Haus und trugen einen Hauch von verbranntem Fleisch in sich. Langsam verstummte der Ton in Mathildes Ohren und die Umwelt drang zu ihr vor. Außer ihr war niemand in dem Hof, doch in ihrem Augenwinkel sah sie etwas, eine kleine Bewegung, die sich fortwährend wiederholte. Sie ging darauf zu und hörte nun ein Zwitschern. Ein Vogel hüpfte aufgeregt auf einem herabgestürzten Stück der Hausmauer. Als Mathilde unmittelbar vor ihm stand, erkannte sie, dass er nicht hüpfte. Er hatte keine Beine. Ein Flügel war gebrochen und konnte nur noch hilflos zucken. Er drückte sich mit dem gesunden Flügel vom Stein ab, versuchte verzweifelt sich in der Luft zu halten und zu fliegen, schlug mit aller Kraft mit dem Flügel und wollte den Boden verlassen. Doch jeder Versuch endete mit dem dumpfen Aufprall auf der Erde, die ihn immer wieder zu sich zurückzog. Verwirrt piepste er und keuchte erschöpft, während er seine Energie für den nächsten Versuch sammelte. Mathildes Schatten legte sich über ihn. Sie hob ihren Fuß und setzte langsam ihre Schuhsohle auf den schmächtigen Körper, der nun wild zuckte und alle Kraft, die er nicht mehr in seine Bewegungen leiten konnte, in seine Schreie legte. Sie fühlte das Zittern, das rasende Pochen des Herzens, sie meinte auch die Wärme des Lebens zu fühlen, während sie die Luft aus dem Leib presste. Sie dachte an einen Funken und sah ihn erlöschen.
Aus der Mittagssonne kamen die Flugzeuge näher. Auf dem Flugfeld stand beinahe die gesamte Besatzung des Stützpunktes und winkte den Piloten in den herannahenden Fliegern. Der Mission war gelungen. Nicht nur die Munitionsfabriken konnten zerstört werden, sondern auch die Fliegerabwehr des Gegners wurde entscheidend geschwächt. Trotzdem war die Freude gedämpft. Sie hatten ein Flugzeug verloren. In einer Woche würde ein Brief in einem Apartment in der Page Street in San Francisco einlangen, der der Empfängerin mitteilte, dass ihr Mann mit aufopferndem Einsatz sowohl in der Planung als auch auf dem Schlachtfeld in ehrenhafter Erfüllung seiner Pflicht gefallen sei. Captain Willdorpes Maschine war außerhalb der Industriezone schwer getroffen zu Boden gekracht und sofort in Flammen aufgegangen. Von der Stadt aus konnte man die Rauchfahne sehen, die zwischen den Hügeln zum Himmel aufstieg.