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Der Vogel

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08.02.2016
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Der Vogel

In den frühen Morgenstunden, es dämmerte noch nicht, schritt Captain Willdorpe über das Flugfeld in Foggia, auf dem die viermotorigen Bomber für die Mission bereit standen. Viele Stunden hatte er in den letzten Tagen mit der Planung verbracht. Es hatte auch eine Weile gedauert, seine Vorgesetzten zu überzeugen, aber schließlich hatten sie zugestimmt und seinen Entwurf übernommen. Die Flugzeuge würden heute eine neue Anflugroute wählen und wenn alles wie berechnet verliefe, würde die österreichische Fliegerabwehr den Angriff erst deutlich später registrieren. Er betrachtete die mächtigen Maschinen, doch seine Gedanken waren tausende Kilometer weiter westlich. In einem kleinen Apartment in der Page Street in San Francisco war es gerade acht Uhr abends und er fragte sich, was seine Frau und seine zwei Töchter wohl gerade machten. Die Kleinen waren vielleicht schon im Bett und schliefen. Ob er ihnen fehlte? Träumten sie von ihm? Er sehnte sich nach ihnen und vielleicht half sein Plan dabei, ihn und alle anderen, die hier festsaßen, bald nachhause zu bringen.

Mathilde ließ das Messer auf die Küchenplatte sinken. Vor ihr stieg der Dampf der heißen Kartoffeln auf und beschlug die Fensterscheibe. Hinter dem milchig gewordenen Glas, auf dem die winzigen Wassertropfen die ersten Frühlingssonnenstrahlen brachen und funkelten wie ein Sternenhimmel mitten am Tag, war ein helles Stimmchen zu vernehmen. Mathilde war gerade groß genug, um die Ellenbogen über die Arbeitsfläche zu heben. Sie hatte das Kinn auf den Unterarmen abgelegt und lauschte dem Zwitschern eines Vogels, in das bald darauf weitere einstimmten. Neugierig streckte sie ihre mit Kartoffelschalen verklebte Hand zum Fenster und wischte einen Streifen frei. Auf den Birken vor dem Haus hatte sich eine Schar grau-brauner Vögel niedergelassen, die mit metallisch klirrenden Stimmen sangen. Sie hatten einen schwarzen Streifen über den Augen, eine spitze Federhaube und einen leuchtend roten Punkt auf ihren Flügeln. „Mathilde! Die Erdäpfel werden kalt!“, ermahnte sie Mutter. Mathilde zuckte zusammen, griff nach dem heißen Gemüse und setzte ihre Arbeit fort.

Eine Weile erfüllte jede still ihre Aufgaben: Mathilde und Ingrid schälten die heißen Kartoffeln, Mutter zerstampfte sie und dünstete daneben Zwiebeln. Doch Mathildes Aufmerksamkeit war wie sie selbst. Vor allem wenn man es ihr auftrug, konnte sie nicht ruhig halten. So ruhte Mathildes Messer bald auf dem Schneidbrett. In ihren Fingern fühlte sie die weiche, warme Knolle, von der ihr Blick wieder zu den Bäumen vor dem Haus wanderte.
„Wann kommt Papa zurück?“, fragte sie. Sie erinnerte sich nur in Bruchstücken an seinen Abschied. Ihr Gesicht an die Brustknöpfe seiner Uniform gedrückt, seine großen, rauen Hände an ihren Wangen.
„Wenn du nicht brav bist und tust, was man dir sagt, kommt er gar nicht mehr“, erwiderte Mutter kühl. Mathilde erschrak bei diesen Worten und hantierte sogleich eifrig mit den Kartoffeln und dem Messer. Die Vögel auf den Birken hüpften flatternd von Ast zu Ast und tschilpten aufgeregt.

Ingrid hatte ihre Portion bereits geschält und nahm Mathilde den Rest ab, während Mutter die zerdrückten Kartoffeln mit den gebräunten Zwiebeln in einer großen Pfanne vermischte. Zischend und dampfend milderte die weiche Masse den scharfen Zwiebelgeruch. Als alles fertig war, wuschen Mathilde und Ingrid ihre Hände und deckten den Tisch: drei Teller, drei Löffel und drei Gläser Wasser. In die Mitte stellte Mutter die heiße Schüssel. Mit knurrenden Mägen und großen Augen schauten die Mädchen, wie Mutter den Kartoffelschmarrn mit dem Schöpflöffel teilte.

Ein Geräusch ließ sie innehalten. Niemand im Zimmer regte sich. Aus dem Radio, aus dem bisher leise Stimmen und Melodien dahin geplätschert waren, erklang jetzt klar und unnatürlich ein Kuckucksruf. Mutter, Ingrid und Mathilde aßen schweigend ihre Erdäpfel. Dann schwoll vor den Fenstern ein tiefes Brummen rasch zu einem hohen Heulen an, blieb für einige Sekunden konstant und schwoll wieder ab. Als das Sirenengeheul ein zweites Mal durch das Zimmer schnitt, ließ Mathilde ihren Löffel auf den Tisch sinken und sagte: „Ich habe keinen Hunger mehr.“
„Dann geh und hol den Koffer, wir gehen gleich“, erwiderte Mutter während sie angespannt, aber nach außen hin ruhig, weiter aß. Ingrid versuchte, sich wie die Mutter ruhig zu geben, sie fühlte sich als ältere verpflichtet, erwachsen zu sein und sich von Mathilde zu unterscheiden, doch sie hatte Mühe, ihre zitternden Hände zu kontrollieren.

Mathilde ging ins Vorzimmer und holte aus dem Schrank den Koffer, der immer mit den wichtigsten Dokumenten bereit stand. Sie stellte ihn neben der Eingangstüre ab, dann ging sie auf den Gang hinaus und ins Klosett, das sich direkt neben ihrer Wohnungstüre befand. Als sie fertig war und die Klospülung zog, hörte sie aufgeregtes Vogelgezwitscher über sich, konnte aber nichts sehen, als sie nach oben blickte. Der kleine Raum war hoch und weit über ihrem Kopf war ein offenes Fenster, das zum Lichtschacht hinausging. Sie stieg auf die Klobrille, kletterte über das Rohr zum Spülkasten, stützte dort ihre Beine ab und zog sich schließlich an der Kante soweit hoch, bis sie sich auf dem Fensterbrett in die Höhe stemmen und mit herabbaumelnden Beinen hinsetzen konnte. Dort sah sie einen der Vögel, die sie zuvor vor dem Haus gesehen hatte, aufgeregt hüpfen und flattern, aber er konnte nicht davon fliegen. Sein Bein hatte sich in einem Stück dünnen Draht, das aus dem Fensterrahmen stand, verheddert und hielt ihn gefangen. Sie griff nach dem Vogel und hielt ihn eine Weile in der Hand. In ihren Fingern fühlte sie das kleine, weiche, warme Wesen, in dem das Herz aufgeregt pochte. Während sie den Kopf des Vogels betrachtete, der hin und her und auf und ab zuckte, durchströmte ein Gefühl, das sie nicht genau verstand, ihren Körper und brachte sie dazu, das Tier noch etwas länger festzuhalten, noch etwas länger zu warten und zu schauen. Schließlich aber befreite sie mit der anderen Hand das Beinchen aus dem Draht und öffnete ihre Hand, damit der Vogel davon fliegen konnte. Sie blickte ihm nach wie er zwitschernd auf und ab flog, als sie plötzlich eine Hand am Bein packte und vom Fenster zog. Fast wäre sie rücklings in die Klomuschel gestürzt, aber ihre Mutter fing sie und fauchte sie an: „Spinnst du? Was machst du da oben? Wir haben keine Zeit mehr!“ Sie nahm sie am Arm und zerrte sie fort.

Sie waren alleine, als sie über den Hof liefen. Die übrigen Bewohner hatten das Haus bereits verlassen. Ingrid lief voraus, Mutter mit Mathilde an der Hand hinterher. Zuerst hatte Mutter sie mitgezogen, doch jetzt klammerte sich Mathilde mit aller Kraft an der Hand fest. Bei jedem Schritt fürchtete sie, dass sich ihre Mutter los reißen würde und sie alleine zurück bliebe. Auf der Straße schaute Mathilde über ihre Schulter. Niemand war hinter ihnen. Das Kopfsteinpflaster wartete still auf die Einschläge, die geschwärzten Fassaden blickten mit hohlen Augen auf sie herab. Sie rannten an Schutthaufen und heruntergefallenen Fassadenteilen vorbei, über das Pflaster, dem an vielen Stellen die Steine fehlten.

Mathilde wollte die Maschinen sehen, die sich dunkel brummend näherten, um dann in einem schrillen Kreischen über ihre Köpfe hinweg zu ziehen. Sie blickte zum Himmel. Er war blau, ohne Wolken, windstill und unbewegt. Die Sirenen waren mittlerweile verstummt. Da sah sie über einem Häuserdach am Ende der Straße einen kleinen Punkt aufblitzen, einen Stern, der so hell leuchtete, dass er auch am Tageshimmel zu sehen war. Er wurde rasch größer. Schallwellen begleiteten ihn, die zunächst nur die letzten verbliebenen Fensterscheiben in eine leichte Vibration versetzten, aber nach und nach ins Rückenmark krochen. Dort dehnten sie sich mit zunehmender Kraft aus, bis sie schließlich als Trommeldonner in den Kopf rollten. Orientierungslos und mit verzerrtem Sichtfeld stürzte Mathilde und riss ihre Mutter mit zu Boden. Sie blieben regungslos, die Hände an die Ohren gepresst liegen, bis der Lärm vorübergezogen war.

Aus einiger Entfernung konnten sie die Wellen eines Aufpralls und einer Explosion spüren. Mathilde sah in die Richtung, wo jetzt Rauch aufstieg. Da wurde sie an den Haaren hochgezogen und auf die Beine gestellt. Sie schaute in die zusammengekniffenen Augen ihrer Mutter, deren Brustkorb sich unter kräftigen Zügen hob und senkte. „Du …“ setzte sie mit gepresster Stimme an, doch sie setzte nicht fort. Sie wandte sich ab und blickte die leere Straße hinunter. Ingrid war nicht mehr zu sehen. Sie musste weitergelaufen sein, als sie am Boden gelegen waren und der Bomber über sie hinweg flog. Es hatte keinen Sinn mehr, bis zum Luftschutzbunker zu laufen. So zog Mutter Mathilde über die Straße zu einem Hauseingang, neben dem die Buchstaben „LSK“ geschrieben waren. Sie rüttelten an der Türe, doch die bewegte sich nicht. Sie liefen weiter zum Nebenhaus, wo sie durch das Tor in einen Hof gelangten und auf der gegenüberliegenden Seite eine Eisentür sahen, die in den Keller zu führen schien. Sie ließ sich öffnen und dahinter führte eine Steintreppe in den Untergrund.

Der Weg führte durch mehrere enge Gänge und immer wieder Treppen hinab, und als Mathildes Beine bereits schmerzten, traten sie endlich in ein hohes Gewölbe, an dessen Ende ein schwaches Licht flackerte. Kleine Gruppen, Familien und Paare, kauerten an den Wänden und schenkten den Neuankömmlingen keine Beachtung. Mutter und Mathilde gingen durch den Raum und fanden einen Platz unter einem Strebepfeiler, an den sie sich sitzend lehnten. Aus einer dunklen Ecke kam murmelnd ein grauhaariger Mann mit energischen Schritten in die Mitte des Raumes. Den Blick auf den Boden gerichtet, ging er an ihnen vorüber.

„Ausgehungerte … Bleiche …“, schnappte Mathilde auf, als er sie passierte und zur anderen Ecke des Raumes weiterging. Von dort kam er direkt zurück, „ … ausgeliefert, gedemütigt …“, hörte ihn Mathilde diesmal sagen und noch ein drittes Mal ging er an ihnen vorbei, „diese … Todesgesellschaft …“, zischte er. Aus dem Schatten einer Nische traten zwei Männer in schwarzen Mänteln, die den Aufgebrachten musterten und ihm mit ihren Blicken folgten. Einer von ihnen machte einen Schritt vorwärts, doch der andere hielt ihn am Arm zurück, denn der Schimpfende blieb endlich stehen, lehnte sich an eine Wand und sank, als hätte ihn jegliche Kraft verlassen, völlig erschöpft zusammen. Die beiden Männer zogen sich wieder in die Dunkelheit zurück.

Es war still, niemand rührte sich mehr. Die Steinwände waren wie die Luft feucht und kalt. Alle hockten oder lagen auf dem Boden, manche schienen zu schlafen, bedeckt von zerlumpten, staubigen Mänteln hätten sie auch bereits tot sein können. Die kühle Ruhe dieser Höhle war weit weg vom Kriegslärm. Mutter saß mit angezogenen Beinen an den Pfeiler gelehnt, die Stirn auf die Knie gelegt. Mathilde rollte sich am Boden zusammen und dachte an die Arme des Vaters, die ihren Kopf umschlangen. Sie schloss die Augen und konnte ihn sehen.

Er stand in seinen braunen Hosen und seinem sommerlichen, blauen Hemd, von dem die obersten zwei Knöpfe geöffnet waren, unter einer Birke und streckte die Arme hoch. Er wollte Ingrid auffangen, die den Stamm hochgeklettert war, aber nun herunter springen wollte. Sie ließ sich in Vaters Arme fallen und gemeinsam purzelten sie lachend in die Wiese. Mathilde wollte zu ihnen laufen, doch als ihr eine kühle Hand sanft durch die Haare strich, stellten sich ihre Nackenhaare auf und ihre Muskeln spannten sich. Langsam drehte sie ihren Kopf zur Seite, wo sie Mutter erblickte, die ihr die Hand auf den Kopf gelegt und den Blick auf Ingrid und Vater gerichtet hatte. Vater bemerkte sie nun, zeigte in ihre Richtung und flüsterte Ingrid etwas ins Ohr, die, die Augen auf den Boden gerichtet, zögerlich nickte. Als er fertig gesprochen hatte, küsste er das Mädchen auf die Stirn und umarmte sie lange und kräftig. Dann stand er auf, winkte Mathilde und Mutter zu, drehte sich um und ging fort. Mathilde winkte zunächst zurück, doch als er sich abwandte, stockte ihr Atem. Sie rief den Vater, um ihn aufzuhalten, schrie aus Leibeskräften, brüllte, bis ihr Hals schmerzte und ihr Kopf zu platzen drohte, doch niemand reagierte auf sie. Mutter stand neben ihr und winkte lächelnd ihrem Mann, der zwischen den Hügeln verschwand. Mathilde wollte zu ihm laufen, doch als sie versuchte, sich in Bewegung zu setzen, begann sie zu taumeln und konnte gerade noch das Gleichgewicht halten. Verwirrt schaute sie zu Mutter. Den Blick immer noch in die Ferne gerichtet, begann diese zu Ingrid hinüberzugehen. Als würde sie auf einer Kante balancieren, musste Mathilde den Kopf gerade halten und all ihre Kraft und Konzentration aufwenden, um nicht zu stürzen. Vor Anstrengung zitternd beugte sie vorsichtig den Nacken, folgte mit dem Blick prüfend ihrem rechten Bein von der Hüfte bis zu den Zehenspitzen und wieder zurück. Obwohl sie aus dem Augenwinkel bereits den Grund für ihren unsicheren Stand bemerkte hatte, wollte sie es noch nicht glauben und setzte die ihre Untersuchung auf ihrer linken Seite fort. Doch wo sie ein Bein fühlte, konnte sie keines sehen. Ihr Blick stürzte von der Hüfte in die Leere, die sich unter ihrer linken Seite auftat, eine schwarze Leere, die ihre volle Anziehungskraft erst auf ihre Augen entfaltete und ihr Leuchten in die Finsternis hinab zog.

Sie erwachte, als sie die Druckwelle der Explosion durch den Raum und gegen eine Wand schleuderte. Der Aufprall presste die Luft aus ihrer Lunge. Für einen Moment war sie ein kleiner Fisch, der, von einer großen Hand aus dem Wasser geholt und zusammengedrückt, nach Sauerstoff japste. Schwarze Flecken breiteten sich vom Rande ihres Gesichtsfeldes aus, während sie hustete, keuchte und spuckte. Allmählich aber fand sie ihren Atem wieder und erst jetzt bemerkte sie den Keller um sich. Unter dicken Staubwolken sah sie ein riesiges Loch in der Wand neben dem Eingang. Eine Frau lag am Boden und hielt sich die Brust. Augen und Mund weit aufgerissen, versuchte sie zu atmen. Ihre Gesichtsfarbe wurde immer dunkler. Die Umstehenden, die ihr bereits den Kragen geöffnet hatten und sie aufsetzten, um ihr das Atmen zu erleichtern, konnten nur mit ansehen, wie sie sich in Verzweiflung immer stärker verkrampfte und vergeblich versuchte, sich an irgendetwas festzukrallen, um nicht in die Dunkelheit zu stürzen. „Mutter!“, blitzte es da durch Mathildes Bewusstsein. Sie schaute sich um, aber konnte sie nicht sehen. Einige große und kleine Körper lagen auf dem Rücken, die Gesichter mit Mänteln, Jacken oder Pullovern bedeckt. Um sie herum kauerten ihre Angehörigen, schrien und weinten. Die Männer in den schwarzen Mänteln standen vor ihrer Nische über dem Grauhaarigen, der, als ihn einer der beiden prüfend mit der Fußspitze antippte, regungslos blieb.

Mathilde erhob sich und ging, ohne etwas von der Aufregung um sich herum zu hören, durch den Raum. In ihren Ohren verdrängte ein hoher Pfeifton die Außenwelt. Eine Gruppe von Menschen sammelte sich um jemanden, der von der Hüfte abwärts unter Trümmern begraben lag. Sie halfen einem jungen Mann der sich mit verzerrtem Gesicht wand und sich zu befreien versuchte. Dort unter jenen, die Steine und Schutt vom Körper des Mannes schoben, entdeckte sie Mutter. Mathilde konnte nur ihren Rücken sehen und wandte sich zum Ausgang. Der Durchgang und die Treppe waren frei. Zwar waren Teile der rechten Mauer eingestürzt, aber die Steine versperrten den Weg nicht komplett. Das Pfeifen in ihrem Kopf hob sie aus dieser Welt und trug sie vorwärts. Sie schwebte nach oben und gelangte schließlich ins Freie, in den Hof, in dem die Bombe den Boden durchschlagen hatte und erst unter der Erde, in der Nähe des Kellergewölbes, explodiert war.

Der Himmel war noch immer blau und die Luft war warm. Rauchwolken zogen über das Haus und trugen einen Hauch von verbranntem Fleisch in sich. Langsam verstummte der Ton in Mathildes Ohren und die Umwelt drang zu ihr vor. Außer ihr war niemand in dem Hof, doch in ihrem Augenwinkel sah sie etwas, eine kleine Bewegung, die sich fortwährend wiederholte. Sie ging darauf zu und hörte nun ein Zwitschern. Ein Vogel hüpfte aufgeregt auf einem herabgestürzten Stück der Hausmauer. Als Mathilde unmittelbar vor ihm stand, erkannte sie, dass er nicht hüpfte. Er hatte keine Beine. Ein Flügel war gebrochen und konnte nur noch hilflos zucken. Er drückte sich mit dem gesunden Flügel vom Stein ab, versuchte verzweifelt sich in der Luft zu halten und zu fliegen, schlug mit aller Kraft mit dem Flügel und wollte den Boden verlassen. Doch jeder Versuch endete mit dem dumpfen Aufprall auf der Erde, die ihn immer wieder zu sich zurückzog. Verwirrt piepste er und keuchte erschöpft, während er seine Energie für den nächsten Versuch sammelte. Mathildes Schatten legte sich über ihn. Sie hob ihren Fuß und setzte langsam ihre Schuhsohle auf den schmächtigen Körper, der nun wild zuckte und alle Kraft, die er nicht mehr in seine Bewegungen leiten konnte, in seine Schreie legte. Sie fühlte das Zittern, das rasende Pochen des Herzens, sie meinte auch die Wärme des Lebens zu fühlen, während sie die Luft aus dem Leib presste. Sie dachte an einen Funken und sah ihn erlöschen.

Aus der Mittagssonne kamen die Flugzeuge näher. Auf dem Flugfeld stand beinahe die gesamte Besatzung des Stützpunktes und winkte den Piloten in den herannahenden Fliegern. Der Mission war gelungen. Nicht nur die Munitionsfabriken konnten zerstört werden, sondern auch die Fliegerabwehr des Gegners wurde entscheidend geschwächt. Trotzdem war die Freude gedämpft. Sie hatten ein Flugzeug verloren. In einer Woche würde ein Brief in einem Apartment in der Page Street in San Francisco einlangen, der der Empfängerin mitteilte, dass ihr Mann mit aufopferndem Einsatz sowohl in der Planung als auch auf dem Schlachtfeld in ehrenhafter Erfüllung seiner Pflicht gefallen sei. Captain Willdorpes Maschine war außerhalb der Industriezone schwer getroffen zu Boden gekracht und sofort in Flammen aufgegangen. Von der Stadt aus konnte man die Rauchfahne sehen, die zwischen den Hügeln zum Himmel aufstieg.

 

Natürlich hat sie aber nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern erfüllt auch eine Funktion für die Erzählung. Familiäre Wärme ist etwas, das nur weit weg von den handelnden Personen existiert (auf der anderen Seite des Atlantiks oder in Träumen). In der Mutter spiegelt sich die Welt - kalt und verroht -, in der die Handlung spielt, sie verkörpert sie und mach sie für Mathilde erfahrbar. Damit entsteht diese konfliktgeladene Situation in der sich die Hauptfigur, Mathilde, bewegt.

Aber wenn du mein Unverständnis bei meinem Kommentar verstanden hast, musst du dir die Frage stellen lassen, ob das so funktioniert. Meines Erachtens kann man Mutterliebe nicht einfach durch Ideen, wie man eine Frauenfigur gestalten will, wegwischen. Ich denke nicht, dass du die frustrierende Situation der Frau/Mutter durch fehlende Mutterliebe darstellen kannst. Die Kinder als Spiegel zu nehmen ist für mich die falsche Idee. Sag' ich mal als Mutter.

 

Hallo Isegrims,

ich denke nicht, dass man meine Geschichte von mir erklärt bekommen muss. Ich finde es im Allgemeinen auch nicht ideal, wenn ein Autor/eine Autorin es für notwendig erachtet, ihre/seine Texte zu erklären. Ich wurde nur in einem Kommentar direkt gefragt, warum die Mutter so ist, wie sie ist. Da es für mich hier um das Arbeiten an Texten geht und dazu auch gehört, dass man sich Gedanken über seine Figuren macht und deren Gestaltung zumindest für sich selbst rechtfertigen kann, habe ich versucht die Frage zu beantworten.

Warum mein Text pädagogisch sein soll, verstehe ich nicht, aber es würde mich interessieren, was du damit meinst.

"Durchkomponiert" nehme ich als Kompliment ;)

Liebe Grüße,
Douki

 

Hallo Douki

Warum mein Text pädagogisch sein soll, verstehe ich nicht, aber es würde mich interessieren, was du damit meinst.
weil ich beim Lesen das Gefühl nicht los wurde, da war erst die Idee und dann kam die Geschichte... :hmm:

Ich wurde nur in einem Kommentar direkt gefragt, warum die Mutter so ist, wie sie ist.
das Verhalten der Mutter ist einfach nicht schlüssig, vielleicht solltest du darüber nachdenken da noch was zu ändern...

"Durchkomponiert" nehme ich als Kompliment
ist ja auch eine gute Geschichte, ist dennoch ein schmaler Grad, wenn man zu viel von dem macht, was man gut macht, kehrt sich's ins Gegenteil, ist ja auch im Leben so :D

liebe Grüße
Isegrims

 

Ich schalt mich mal kurz in diese interessante Diskussion

Aber wenn du mein Unverständnis bei meinem Kommentar verstanden hast, musst du dir die Frage stellen lassen, ob das so funktioniert. Meines Erachtens kann man Mutterliebe nicht einfach durch Ideen, wie man eine Frauenfigur gestalten will, wegwischen. Ich denke nicht, dass du die frustrierende Situation der Frau/Mutter durch fehlende Mutterliebe darstellen kannst. Die Kinder als Spiegel zu nehmen ist für mich die falsche Idee. Sag' ich mal als Mutter.
Dieses Dilemma ist hier meiner Einschätzung nach nur durch die Antwort der Autorin so aufgetreten.
Wenn man streng am Text bleibt, sieht man eine völlig verbitterte Frau, die zwar funktioniert, die für alles sorgt, sogar hilft, als jmd verschüttet ist, aber eben alles auf eine kalte Weise tut.
Ich verstehe es nicht, warum das nicht genügen soll. Man weiß doch, was Kriegsnot, Angst und vielfältige Traumata mit Menschen angerichtet haben. Da reagieren manche nicht mehr so, wie sie es normalerweise getan hätten. Auch Mutterliebe verroht und verkommt in schlimmen Zeiten.


Und Isegrim,

Ich will eine Geschichte nicht vom Autor erklärt bekommen oder gar ein Buch lesen müssen (le grand cahier), um den Kontext oder die Vorbilder zu verstehen.
viellleicht hast du es nicht gesehen, aber die Autorin hat doch diese Erklärungen nur gemacht, weil sie danach gefragt wurde, sie hat sich um eine umfassende Erklärung bemüht, die vielleicht leider Gottes ein bisschen zu weit ging und sich nicht nur auf den Kontext der Geschichte bezog, dies ihr jetzt aber um die Ohren zu hauen, finde ich trotzdem nicht richtig.

Viele Grüße

 

Hallo Douki bzw. Novak

ja klar, das habe ich schon gesehen, wenn auch erst nach meinem Kommentar... ich will das niemand um die Ohren hauen, mir ging es mehr um die Geschichte, die hat Potential, da gibt es halt eine Stelle, wo ich innerlich aussteige (Mutterliebe) und deshalb meine Anmerkung.
Ist ja etwas, über das Douki nachdenken kann und für sich selbst dann entscheiden kann... wahrscheinlich hätte ich auch gar nichts geschrieben, wenn mir der Text nicht grundsätzlich wirklich gefallen hätte...

viele Grüße
Isegrims

 

Nix zu danken,

Douki,

wer historische Themen aufgreift, kann allemal nur näherungsweise den damaligen Zeitgeist (der manchmal auch zugleich der Weltgeist im Hegelschen Sinne wird) einfangen. Selbst den Zeitgenossen verblasst im Laufe des weiteren Lebens die Erinnerung. Der eine bewahrt nur das angenehme, der nächste färbt unangenehmes schön und der dritte verdrängt das Schlimme einfach, bis es irgendwann wieder hochkommt. Selbst mitten in der Nachkriegszeit geboren (1950), weiß ich alles, was vor 1956 war nur durch Fotos und deren Erläuterungen und natürlich Anlesen (mag Leute geben, die vor ihrem sechsten Lebensjahr schon alles in ihrem Kopfstübchen fein säuberlich katalogisiert haben, zu denen zähl ich aber nicht).

Klar, dass Du Dir Infirmationen besorgen musstest. Und doch muss ich in unserm Fall hier nachfragen, ob Dir die Architektur der Mietshäuser vor den 1950-er Jahren bewusst ist.

Die Decken waren hoch (wesentlich höher als heute), das Klo, oft im Hinterhof aber auch schon im Treppenhaus, dann aber eine Etage unterhalb der Wohnung. Selbstverständlich gab es auch "fortschrittliche" innerhalb der eigenen Wohnung, dann aber schmal, max. zwo qm Bodenfläche, und mit hoher Decke, dem eigentlichen Klo auf dem Boden, verbunden durch ein Fallrohr mit dem Wasserkasten einiges darüber, - in der Geschichte kommt das Mädchen nur mittels des Rohres (wie viel mag das aushalten, wenn jemand daran hochsteigt?) an den Kasten (Was, wenn der abreißt?), und einem winzigen Fenster - ironisierend könnt man meinen, der Nachbarn wegen, die einem ja alles weggucken könnten.

Fenster, die schmal waren und die einem keine Bank zum Sitzen boten, auch nicht breit sein brauchten, denn wer stellte sich schon Blümchen ins Toilettenfenster? Da wird es einem Mädchen schon schwerfallen, auf die Fensterbank zu kommen ...

Sie stieg auf die Klobrille, kletterte über das Rohr zum Spülkasten hoch und zog sich schließlich an der Kante auf das Fensterbrett hinauf.
Sie kann sich da nur festhalten und nachher wieder hinablassen.

Nein, die angedeutete Szene mit der Schuhsohle darf eigentlich nicht befremden, wenn man Namen nicht für Schall und Rauch hält, wie ich: Er setzt sich in seiner ursprünglichen, ahd. Form aus "maht" (wenn man weiß, dass es kein Dehnungs-h, sondern ausgesprochen unser heutiges ch ist, erkennt man den ersten Wortbestandteil wieder) und "hilta" ("Kampf") zusammen. Ob der Name eine Gnade ist ...

Gruß

Friedel

 
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Hallo,

ich lese nicht gerne solche Texte, also Historie insgesamt, vor allem aber Texte, die sich in und um den Krieg drehen, denn sie sind meistens höchstmanipulativ. Bei solchen Retrospektiven bemerke ich das sehr oft, wie der Text, vielleicht auch unfreiwillig, immer wieder die gleichen Motive ausschlachtet: Grausame Brutalität, immerwährende Gefahr, Verlust, und das Ganze kontrastiert durch das Leben ohne Krieg, oder anscheinend ohne Krieg. Für mich gleitet das oft im Kitsch ab, in eine Überbetonung des Alltäglichen, dessen Reinheit nun durch den schmutzigen Krieg geraubt wurde.

In ihren Fingern fühlte sie das kleine, weiche, warme Wesen, in dem das Herz aufgeregt pochte.

Schon klar, Vogel ist ja allgemeinhin der Vorbote des Todes, aber hier dann dieser Satz? Das ist schon Düsterkitsch, weil wir ja eigentlich wissen, was passiert. Irgendwer wird sterben, irgendjemand wird leiden müssen, irgendjemand wird jemand anderen verlieren. Und deswegen drängt sich mir diese Sprache auch auf, diese Sequenzen des Alltags, die den Frieden symbolisieren, die verlieren an Wert, weil meine Erwartungshaltung total bestätigt wird. Der Text hat nichts, wo ich sagen kann: Aha! Ein Bruch. Das ist nicht weiter schlimm, du hast ja reihenweise Fürsprecher, aber es ist halt eben auch ein Text, der nach einem gewissen Schema komponiert wurde, ich denke an Filme wie Pearl Harbor oder so, da funktioniert das ähnlich. Wie gesagt, vielleicht wolltest du das auch alles so haben, und ich bin nur derjenige, der das insgesamt nicht gut findet, aber du könntest dich auch mal mehr wagen, da versuchen, eben einen Bruch, einen Widerspruch reinzubekommen. Mir ist das alles zu gefühlsduselig.

Gruss, Jimmy

 

Hi Duoki,
Hat mir sehr gut gefallen. Du schreibst recht routiniert, stilistisch weiß ich wenig zu kritisieren. Nur eines hat mich gestört. Offensichtlich schläft Matilda ein und träumt. Das ist zeitlich schwierig, weil zwischen Ankommen und Bombenabwurf kaum 5 Minuten vergehen. Und selbst wenn es so wäre leuchtet mir nicht ein, warum sie eingeschlafen ist. Es war ja Mittag und für mich gab es keinen Grund müde zu sein.
Wie auch immer, mich hat die Szene sehr verwirrt zurück gelassen und selbst nach mehrmaligem Lesen weiß ich es nicht recht zu deuten:

Vor Anstrengung zitternd beugte sie vorsichtig den Nacken, folgte mit dem Blick prüfend ihrem rechten Bein von der Hüfte bis zu den Zehenspitzen und wieder zurück. Obwohl sie aus dem Augenwinkel bereits den Grund für ihren unsicheren Stand bemerkte hatte, wollte sie es noch nicht glauben und setzte die ihre Untersuchung auf ihrer linken Seite fort. Doch wo sie ein Bein fühlte, konnte sie keines sehen.

Weiters dachte ich Anfangs sie seien am Land, in einem Dorf. Offensichtlich leben sie in einer Stadt. Vielleicht habe auch nur ich ich in die Irre führen lassen ...
Weiters scheint mir die Verbindung zwischen dem Piloten und der Familie nicht wirklich klar. Das sind für mich immer noch Dinge, die nur so nebeneinandergeschrieben dastehen.
Ich weiß nicht wie weit du den verletzten Vogel und den abstürzenden Bomber bewusst geschrieben hast, aber ich finde dieses Bild sehr stark.

lg
Bernhard

 

Novak danke für die Unterstützung ;) werd mir in Zukunft überlegen, wie weit ich bei den Erklärungen zu einer Geschichte gehen möchte. Da es hier aber schon diese Diskussion gibt...

...nochmal kurz zur Mutterfigur (@Isegrims, bernadette): Es hat mich weniger interessiert, ob die Figur realistisch ist, sondern welche Arten von Mütterfiguren es in anderen Texten gibt, mit denen ich in meiner Geschichte arbeiten kann (das wollte ich auch in meiner Erklärung andeuten).

Liebe Grüße,
Douki

 

Friedrichard,

ja, ich kenne die Architektur in älteren Mietshäusern. Es geht hier um ein Mitte des 19. Jahrhunderts erbautes Haus. Die Decke ist 3,20 m hoch, das Klo ist am Gang ("... sie [...] auf den Gang hinaus und ins Klosett, das sich direkt neben ihrer Wohnungstüre befand."). Im Hof gibt es auch eines, aber das gehörte der Hausmeisterin. Das Rohr sollte das kleine Mädchen aushalten. Wenn der Kasten abrisse, wäre das natürlich schlecht, aber ein Glück, dass er gehalten hat. Das Fenster ist zwar klein aber nicht winzig, so dass sie sich da gerade noch hinsetzen kann (nicht für Blümchen, aber die Wand ist ja dicker als das Fenster, dadurch ergibt sich ein kleiner Vorsprung).

Liebe Grüße,

Douki

 
Zuletzt bearbeitet:

Es geht hier um ein Mitte des 19. Jahrhunderts erbautes Haus. Die Decke ist 3,20 m hoch, das Klo ist am Gang ("... sie [...] auf den Gang hinaus und ins Klosett, das sich direkt neben ihrer Wohnungstüre befand."). ... Das Rohr sollte das kleine Mädchen aushalten. Wenn der Kasten abrisse, wäre das natürlich schlecht, aber ein Glück, dass er gehalten hat. Das Fenster ist zwar klein aber nicht winzig, so dass sie sich da gerade noch hinsetzen kann ...

Hallo Douki -

"hinsetzen könnte" wäre die korrekte Formulierung, denn es klingt fantastisch, geradezu artistisch, wenn ein Kind mit dem Gesicht zur Wand (Innenwand, direkt gegenüber der schmalen Tür - wie denn auch anders?), an der die Spülung hängt und das Fallrohr verläuft, hochklettert, sich erst auf dem Klodeckel abstützen kann und hernach mit den Füßchen - barfüßig wäre da die günstigste Kombination - sich am Fallrohr klammern muss. Etwa auf Höhe des Spülkastens ist das Fenster an der Außenwand, nicht zu klein und eben gerade noch groß genug, dass sich Mathilde hineinsetzen könnte, hätte sie denn eine Hand wenigstens frei und könnt sich auf der anderen Seite der "Fensterbank", also außen, festhalten mit einem ängstlichen Vogel direkt daneben, der auch picken wird und wahrscheinlich einem Herzschlag erliegt ... Bei dem Versuch

wäre sie rücklings in die Klomuschel gestürzt,

Bissken surrealistisch die Szene, findet der

Friedel

 

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