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Der Untergang des Stefan K.
Wilfried Köbler sitzt an seinem Schreibtisch. Er muss Verwaltungarbeiten erledigen. Er hasst diese Arbeit. Dieses niedere Geschäft. Sein Chef hat jemanden dafür. Ein tiefer Neid überkommt ihn bei dem Gedanken an diese Person. Er selbst hat, obwohl er regelmäßig Sport treibt und seine Frau ihn ausgewogen, fettarm und gesund ernährt, eine wässrig aufgedunsene Figur aus deren Haut viel zu wenig und ungünstig verteilt, furchtbar helle Haare wachsen. Außerdem hat er Hängebacken, die sofort die Assoziation mit der allseits bekannten beleidigten Leberwurst hervorrufen und seine Augenpartie, die ebenfalls die Schwerkraft sehr deutlich erkennen lässt, verleiht ihm den Anblick eines hilflos bettelnden Hundes.
Sein Chef dagegen ist ein attraktiver Mann, sportlich schlank, mit grau meliertem Haar und gut platzierten Falten. Um ihn scharen sich sie wertvollsten Frauen, saugen sein so treffend gewähltes Eau de Toilette und mühen sich in aufwendig durchdachter Garderobe, hervorragend gestikulierend und mit verführerischer Mimik um seine Aufmerksamkeit. Köblers Chef genießt dieses Spiel. Er lässt die Schönheiten zappeln, registriert jeden ihrer Fehler und lässt ihn herablassend auf die Grazien niederprasseln. Die flehentliche Anbetung, die Köblers Chef erhält, wird keine der Frauen im gleichen Maß in einer Kirche aufbringen.
Köbler selbst hat nie einen ähnlichen Auftritt von einer Dame diesen Kalibers erhalten. Dabei giert er nach ihnen. Was hat er mit sich gehadert, bis er damals die adrette Kleine aus seiner Parallelklasse angesprochen hat. Bis heute hasst er sich in diesem Moment, wie ihn dieses Mädchen so genervt und kühl abblitzen lässt. Er spürt, wie er von diesem elenden Gefühl und von Selbsthass durchdrungen wird und vor ihm liegt diese widrige Arbeit.
Draußen vor der Tür macht Köblers Frau den Haushalt. Sie pfeift dabei. Der Frohsinn seiner Frau steigert seine Aggression noch. Er versucht, sich krampfhaft auf seine Arbeit zu konzentrieren. Erfolglos. Aus jeder Pore steigt ihm jetzt die Wut.
Und seine Frau pfeift. Wie kann sie nur bei dieser Drecksarbeit pfeifen? Wie kann sie sich dabei gut und heiter fühlen? Seine ganze Wut verlagert sich auf seine zufriedene Frau. Energisch steht er auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Wie er an seiner Frau vorbei geht, fordert er sprachlos, dass sie zu ihm aufblickt. Doch seine Frau ist tief entspannt in ihre Arbeit versunken und bemerkt ihren Mann nicht.
"Pfui, wie scheußlich grau und faltig du geworden bist" schreckt er sie jetzt aus ihrer unerträglichen Zufriedenheit. Und da spürt er schon, wie dieses leichte Glück, das eben seine Frau verlassen hat, ihn bezieht. Er bemerkt die Blumen, die sie gekauft hat, um es schön zu machen. Er riecht den Duft eines liebevoll zubereiteten Essens und er
sieht seine Frau, wie sie da steht, mit diesem verwundeten, enttäuschten, leeren Blick.
Ohne ein Wort zu sagen, aber mit einer deutlich wahrnehmbaren Schwere setzt sie ihre Arbeit fort. Viel langsamer als vorher, stumm und mit hängenden Schultern.
Wilfried Köbler geht in die Küche. Während er Wasser in ein Glas laufen lässt, pfeift er.
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Köbler hat sich von klein auf minderwertig gefühlt. Nicht nur deshalb, weil er für seine Mitschüler immer die "Schwabbelbacke" war, was er stets tapfer mitlachend geduldet hat, sondern auch, weil er zu den weniger gut betuchten Kindern gehört hat. Er hat sich geschämt, die abgetragenen Kleider seines großen Bruders tragen zu müssen und auf das teure, tolle Spielzeug, dass die anderen Nachbarskinder besaßen, musste er verzichten. Seine Eltern wollten ihren Kindern, in ihrem streng religiösen Glauben, zum einen den Verzicht lehren, zum anderen hätten sie sich diese Dinge auch nicht leisten können.
Er hätte gerne mit den Kindern der besser gestellten Familien gespielt, aber weder seine Eltern noch er haben geschafft, mit ihnen anzuknüpfen. Immer hatte er das Gefühl von den anderen gemieden und ausgeschlossen zu werden. Über die Jahre hin hat Köbler gelernt, sein heimliches, inneres, mickriges Ich, hinter äußerer boshafter Provokation und schlagfertigem Wortwitz zu verbergen. Er weiß, dass er eine mehr abstoßend als attraktive Person ist. Aber mit seiner lauten, kalten und harten Art hat er es zu etwas gebracht. Er ist Abteilungsleiter in einer großen Firma, hat vierundzwanzig Leute unter sich und verdient eine ordentliche Summe Geld. Er ist sehr stolz auf sein dickes Auto und auf sein großes, modernes Haus.
Köbler ist verheiratet und hat einen Sohn. Stefan. Stefan ist seine große Hoffnung. Er soll all das werden und haben, was dem jungen Köbler immer gefehlt hat. Und eines bekommt Stefan zum Glück gleich mit in die Wiege gelegt, denn die Gene haben es gut mit ihm gemeint. Obwohl weder seine Frau noch Köbler selbst das zu bieten haben, erhält Stefan ein attraktives Äußeres. Köbler investiert viel in seinen
Sohn. Noch vor der Einschulung lernt Stefan Englisch. Und mit der Einschulung bekommt er zur Unterstützung bei den Hausaufgaben und zum Lernen eine für Köbler unerträglich hübsche, zwanzig jährige Studentin bezahlt. Außerdem schwimmt Stefan. Spielt Tennis und Trompete und macht Leichtathletik.
Stefan bemüht sich sehr, seinen Vater mit Erfolgen glücklich zu machen. Leider erreicht er trotzdem in allen Bereichen nur das Mittelmaß. Nach jedem Verlust spürt er die Enttäuschung seines Vaters. Aber trotz verzweifeltem, stundenlangem Training kann Stefan keine bessere Leistung erbringen.
Köbler erwartet tatsächlich, dass sein Sohn der Beste ist. Ein Vorzeige-Kind, mit dem er in seiner Firma prahlen kann. Zeitungausschnitte will er mit zur Arbeit bringen, mit Bildern und Artikeln von seinem Sohn, dem großen Sieger.
Die dauerhaft zweiten und dritten Plätze zermürben Köbler, schließlich zahlt er seinem Sohn die teuersten und bestqualifiziertesten Trainer. Stefan leidet unter dem Druck. Die ständigen Verluste rauben ihm Motivation, Antriebskraft und Selbstwertgefühl.
Einmal bringt es Stefan im Leichtathletik mit der Disziplin Hürdenlauf tatsächlich soweit, dass die städtische Tageszeitung ein Interview mit ihm wünscht. Bis zum geplanten Termin, umschwirrt Köbler seinen Sohn, mit euphorischem Hochmut. Er ist völlig aus dem Häuschen, spricht von Aufschwung und großen Durchbruch. Er schwimmt in völliger Glückseeligkeit. Stefan dagegen fühlt sich mit der Situation überfordert. Die Aufregung und Angst vor dem anrückenden Interview rauben ihm den Schlaf. In der Schule ist es ihm kaum möglich, sich zu konzentrieren. Müde grübelnd sitzt er da und lässt die Stunden an sich vorbei ziehen. Zu Hause zieht er sich zurück und versucht, mit lauter Musik und Computerspielen vor seiner Angst zu flüchten.
Am Tag des Interviews steht Stefan völlig neben sich. Er ist nicht in der Lage, die an ihn gerichteten Fragen aufzunehmen. Der Reporter reagiert freundlich und beruhigend, dringt aber nicht zu Stefan durch. Stefan kann sich nicht artikulieren und gibt nur unverständliche, unzusammenhängende Antworten ab. Alles kommt ihm vor wie im Traum.
Das Interview wird nicht gedruckt. Köbler redet daraufhin eine knappe Woche nicht mehr mit seinem Sohn. Er ist wütend und fühlt sich betrogen. Seinen Freunden und Arbeitskollegen hat er bereits von diesem Interview erzählt, dass jetzt nichts über Stefan erscheinen wird, ist ihm peinlich. Köbler selbst hat es nie einfach gehabt im Leben. Aber er hat verbissen durchgehalten und stets kämpferische Stärke und Härte bewiesen. Stefans Unfähigkeit, ordentlich und mutig hinzustehen, empfindet er als unerträglich und entwürdigend.
Köbler fühlt sich verleumdet von seinem Sohn, ihm gegenüber äußert er ernst und streng seine Erwartungen, aber Stefan bringt nichts.
Keinen ersten Platz, keinen Sieg und keinen Pokal. Ohne nennenswerte Erfolge ist Stefan inzwischen zu einem siebzehnjährigen Jungen herangereift. "Meinst du es macht deiner Mutter und mir Spaß, dich in der Gegend herum zu kutschieren für nichts und wieder nichts?" brüllt Köbler seinen Sohn an, wie sie von einem verlorenen Tennisturnier nach Hause fahren.
Eben auf dem Platz, hat Köbler zu seiner eigenen Belustigung und der seiner drei Arbeitskollegen, Stefan lachend den Kopf getätschelt und gesagt: "Junge, das hast du mal wieder ordentlich verpatzt." Köbler schaut in den Rückspiegel. Er denkt sich, wie jämmerlich sie aussieht diese Verlierergestalt, die sein Sohn sein soll. Heult er jetzt etwa auch noch, dieser Schwächling? Köbler spürt, wie die Wut ihm den Hals zudrückt, beim Anfahren steigt er heftig aufs Gaspedal, in den Kurven reißt er ruckartig das Lenkrad herum. Zu Hause sagt niemand ein Wort. Beim Abendbrot herrscht unerträgliches Schweigen.
Die Mutter wagt sich nicht, etwas zu sagen, sie spürt die Rage ihres Mannes. Sie versucht Stefan ein liebevolles Lächeln zu schenken, aber sie bekommt seinen Blick nicht zu fassen. Mit gesenktem Kopf hängt Stefan über seinem Teller. Seit einer Viertelstunde nagt er bekümmert an einer Scheibe Brot und hat noch nichtmal die Hälfte davon gegessen. Beklommen fragt er, ob er auf sein Zimmer gehen darf. Sein Vater rührt sich nicht. Seine Mutter nickt.
Zwei Wochen später sind die Eltern zu einem Gespräch in die Schule eingeladen. Stefans Lehrerin macht sich Sorgen. Stefan wirkt desinteressiert und unbeteiligt im Unterricht. Ihm fehlen Freunde und Anschluss an die Klasse. Wie apathisch erledigt er die von ihm geforderten Arbeiten, mit durchschnittlichem Ergebnis. Wenn es um Entscheidungen geht, verhält er sich gleichgültig. Gemeinsam mit Stefans Eltern versucht die Lehrerin Gründe für Stefans Verhalten zu finden.
Warum ist er so unsicher? Warum wirkt er so abwesend und bedrückt? Wo hat er seine Stärken und was macht ihm Freude? Die Mutter äußert sich kaum. Köbler dagegen berichtet ausführlich über die vielen Hobbys und Aktivitäten seines Sohnes. Mit wie viel Engagement und Leidenschaft er sich da einbringe. Lachend mutmaßt er, dass seinem Sohn die sportliche Betätigung vielleicht mehr liege als die geistige. Zu Hause jedenfalls falle ihm nichts Seltsames auf, da verhalte sich sein Stefan völlig normal. Auf Bitten der Lehrerin hin, versichert Köbler offen zu sein, mit seinem Sohn über dessen Probleme zu reden und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Auf der Heimfahrt kocht Köbler vor Wut. Er hasst diese Weicheierart. Das kann nicht sein Sohn sein. Er schämt sich für ihn. Das kann er nicht länger durchgehen lassen. Jetzt reicht es. Er war lange genug geduldig, jetzt aber wird ihn sein Sohn kennenlernen. Die Mutter legt zärtlich und vorsichtig ihre Hand auf die ihres Mannes um ihn zu besänftigen. Bestimmt und grob stößt Köbler sie weg. Zärtlichkeit findet er jetzt unpassend und lästig. Zu Hause angekommen, geht Köbler gleich zu seinem Sohn. Er hat das Gefühl explodieren zu müssen, wenn er sich nicht sofort entlädt. Halb ohnmächtig vor Wut steht er vor Stefans Zimmertür, die Klinke hält er so fest umklammert, dass ihm die Hand blau anläuft. Er atmet noch einmal tief ein, dann öffnet er die Tür.
Die Ohrfeige brennt, aber noch schmerzhafter sind die Worte seines Vaters. "Du dämlicher Versager. Weißt du wie sehr sich deine Mutter und ich für dich schämen?" Immer wieder hallen diese Sätze dumpf nach in Stefans Kopf. Leise schleicht Stefan sich aus dem Haus. Kaum ist er draußen, fängt er an zu rennen. Die Verzweiflung hinter ihm her. Er spürt, dass sie ihn gleich einholen wird und rennt noch schneller. Da stolpert er und stürzt zu Boden.
In dem Moment bricht auch die gesamte Verzweiflung über ihm zusammen. Er schaut sich kurz um, ob niemand zu sehen ist, dann rollt er sich zusammen und umschlingt mit den Armen feste seine Beine. Er fühlt, wie ihn die Verzweiflung durchdringt, wie sein ganzer Körper anfängt zu beben. Was hat seine Lehrerin nur über ihn erzählt? Ja, er ist nicht so sehr bei der Sache im Unterricht und ruhig und unauffällig ist er auch, aber trotzdem dachte er, sie mag ihn. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie eine gewisse Sympathie verbindet. Aber dann wäre sein Vater nicht so durchgedreht. Er muss sich getäuscht haben.
Es gibt niemanden, dem er Vertrauen kann. Er versucht nicht zu denken, denn seine Gedanken schmerzen. Er wünscht sich hier und jetzt auflösen zu können. Einfach weg zu sein von seinem Vater, der Schule, dem Sport und dem Leben. Konzentriert lauscht er auf das Beben in seinem Körper. Langsam wird es ruhiger. Er weiß nicht wie lange er so am Boden gelegen ist. Irgendwann ist die ganze Anspannung von ihm abgefallen. Er kann nichts mehr spüren, kein Gefühl ist mehr da. Er ist wie eine leere Hülle.
So taub begegnet er zu Hause seinem Vater, der ihn lächelnd begrüßt. Für das Wochenende hat Köbler spontan eine Party für Stefan geplant.
Für dieses Fest lädt Köbler alle die Jungs aus Stefans Klasse und Vereinen ein, die ihm besonders gut gefallen. Er lässt seine Frau Knabberkram und Alkohol besorgen und den Hobbyraum herrichten. Die Party soll richtig klasse werden, keiner soll sich langweilen müssen, dafür wird er schon sorgen. Bei den betreffenden Eltern versichert sich Köbler, ob ein Schluck Alkohol für ihren Sohn an diesem Abend in Ordnung ist. Mit dem Großteil der Eltern ist er längst per du und natürlich bekommt er die Zusage.
Köbler ist freudig aufgeregt, wie es am Tag der großen Party für Stefan, endlich an der Tür klingelt. Etwas verhalten steht Stefan neben seinem Vater, der jeden eintreffenden Gast, mit einem lässigen, kumpelhaften Schulterklopfer begrüßt. Stefan fühlt sich unbehaglich und fremd in dieser, für ihn zusammengestellten Runde, mit der er nun im Hobbyraum seines Vaters sitzt. Er versucht sich so gut es geht zu beteiligen und dankbar zu verhalten. Viel muss er nicht sagen, denn sein Vater hat bereits überglücklich eine Zeitreise zurück in die Jugend unternommen und glänzt nun in dieser Rolle.
Die sichtliche Bewunderung der Gäste für seinen Vater, lässt ihn erst recht zur Hochform auflaufen. Stefan ist erschrocken und peinlich berührt über die Widerwärtigkeiten, die sein Vater an diesem Abend mit sich brüstender Begeisterung an den Tag legt.
Über Frauen redet er, als könnten sie ihren einzigen Nutzen an gewissen Körperrundungen und -öffnungen festmachen. Auch passendes Filmmaterial hat sein Vater parat und so manchen seiner Lieblingsausschnitte, die an Entwürdigung nicht zu überbieten sind, stellt er den amüsierten Gästen vor. Stefan muss bei so viel demütigender Abfälligkeit mitleidig an seine stille, unauffällige, liebevolle Mutter denken. Wie gerne würde er aufstehen und zu ihr hochlaufen, sie jetzt in den Arm nehmen und ohne seinen Vater mit ihr sprechen.
Das darf er sich aber nicht wagen. Seine Mutter fürchtet Köblers Wutanfälle genauso wie er selbst. Stefan hat keine andere Möglichkeit, als den Abend hier unten durch zu stehen. Also hört er sich noch viele weitere derbe Geschichten und Witze an. Ein exstatisches Gelächter erntet Köbler für seine Darbietungen, als grasfressender Türke oder saufender Russe. Prahlend listet er eine Menge Tiere, die er mit seinem viel zu schnellen Auto schon überfahren hat, weil er nicht einsieht zu bremsen, wenn die Tiere so dumm sind in sein Auto zu laufen. Mit der Ausnahme, das Tier hat eine Größe, die seinem Auto schaden könnte. Dann entscheidet er sich doch fürs Brems- statt fürs Gaspedal, erzählt Köbler laut lachend. Alle um Stefan herum sind ausgelassen und heiter, während er sich immer wieder versucht dem Abend zu entziehen. Er lässt seinen Blick durch den Hobbyraum schweifen, sieht das leere Regal, das sein Vater für Stefans Pokale gekauft hat und die Fotowand, die ihn bis ins Alter von ungefähr acht Jahren zeigt, als man noch auf ihn gehofft hat und Stolz auf ihn war.
"Dein Vater ist echt saucool" verabschieden sich die Jungs endlich von Stefan. Der liegt in dieser Nacht stundenlang wach im Bett. Er fühlt sich unendlich einsam, unverstanden und abartig. Warum ist es ihm nicht möglich, mit zu lachen an so einem Abend, alle um ihn herum scheinen sich so einig zu sein, wunderbar zu verstehen und zu amüsieren? Ist er so launisch und humorlos? Er ist ein Fremder, zu Hause, in der Schule und im Sport. Stefan kommt sich hilflos und verloren vor.
Am nächsten Morgen wacht er viel zu früh auf. Eine furchtbare Schwere macht sich über ihm breit. Er verflucht sich, überhaupt aufgewacht zu sein. Er hasst sein Leben und den Beginn jedes neuen Tages. Trotzig schließt er seine Augen wieder, er will jetzt noch nicht wach sein. Da sieht er seinen breit grinsenden Vater vor sich, er wirkt riesen groß und mächtig. Er steht da und schaut Stefan direkt in die Augen. Sein Grinsen wechselt von Stolz, über hämisch zu vernichtend boshaft. Stefan schreckt hoch, sein Atem geht schnell, sein Herz klopft wild. Er zieht langsam den Rollladen nach oben und schaut aus dem Fenster.
Draußen spielt wieder das kleine Nachbarsmädchen Lena mit ihren Puppen. Stefan ist gerührt von Lenas kindlicher Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Schon häufig hat Stefan Lena mit zum Einkaufen genommen. Sie erzählt ihm dann immer voller Begeisterung Geschichten aus der Schule, von ihren Eltern, Tanten und Tieren. Lena liebt Stefan und freut sich immer, wenn sie ihn sieht. Und Stefan liebt Lena. Ihre Offenheit, Leichtigkeit und unverdorbene Heiterkeit tun ihm gut. Mit keinem anderen Menschen fühlt sich Stefan so tief verbunden, wie mit diesem kleinen Mädchen. Er braucht sie jetzt. Schnell zieht er sich an und geht zu ihr hinaus. Lena springt ihm sofort entgegen, wie sie ihn sieht. Stefan fragt, ob sie eine Runde mit ihm spazieren gehen möchte und Lena willigt fröhlich ein. Wie gewohnt erzählt Lena unaufhörlich und lacht dabei. Stefan aber fühlt sich erschöpft und leer. Heute fällt es ihm schwer Lena zu zuhören.
Stefan verspürt ein plötzliches Verlangen nach körperlicher Nähe. Er schaut auf Lena hinunter, die immer noch redet und lacht. Er wartet ungeduldig einen Moment ab, an dem sie eine Pause macht. Aber die kleine Lena findet immer neue wichtige und interessante Dinge. Schmetterlinge da, Käfer dort, sie springt von links nach rechts um nichts zu übersehen. Alles saugt sie mit großer Begeisterung auf. Sonst ist Stefan von ihrer Art hingerissen, aber heute ist da nur dieses Verlangen, wahrgenommen und in den Arm genommen zu werden. Wie sie ihm gerade einen goldenen, großen Käfer zeigen will, bittet er sie, ihn doch ganz kurz zu umarmen, aber Lena will nicht. Sie muss sich erst mal um ihren goldenen Käfer kümmern. Stefan spürt, dass er etwas sauer darüber ist. Angespannt wartet er, bis sie ihren Käfer versorgt hat. Wie Lena zurückkommt, bringt sie schon die nächste Idee mit. Jetzt will sie schnell zu Bauer Huber, der im Dorf nebenan wohnt und die kleinen Kälber streicheln.
"Aber erst nimmst du mich in den Arm, Lena, dann gehen wir Kälber streicheln." sagt Stefan jetzt ungeduldig zu dem kleinen quirligen Mädchen. Dabei nimmt er ihre Hand. Lena versucht sich los zu reißen, sie hat viele Pläne und alles schon so schön zurecht gelegt, was sie Stefan heute noch zeigen will, sie kann sich jetzt unmöglich ausbremsen lassen. Da packt Stefan sie fest am Arm und wiederholt etwas ernster und bestimmter seinen Wunsch. Lena aber schreit ihn an "lass mich los, Stefan, ich will nicht, ich hab keine Lust"!
Stefan, der noch müde und taumelig ist, vom gestrigen Abend und der kurzen Nacht, erschrickt über Lenas Geschrei. Er packt sie, hält ihr den Mund zu und zieht sie hinter einen dichten Busch. Lena strampelt wild und schlägt wütend um sich. Stefan fleht sie an, sich zu beruhigen. Aber Lena wird stattdessen immer wilder. In seiner Verzweiflung wirft Stefan Lena zu Boden. Er setzt sich auf sie, will sie bremsen, anhalten, beruhigen, aber Lena kämpft mit aller Kraft gegen ihn an.
Im Affekt packt er sie am Hals und drückt sofort mit aller Kraft zu. Er schaut in ihre angsterfüllten, verständnislosen Augen. Spürt, wie sie verzweifelt kämft, vor Panik bebt. Endlich wird Lena ruhiger, ihre Bewegungen erlahmen und plötzlich ist es still. Wunderbar ruhig und still, als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen. Als hätte alles in diesem Augenblick den Atem angehalten.
Ruhig und friedlich liegt Lena am Boden, Angst und Anspannung sind verschwunden. Stefan hebt sie an und nimmt sie in den Arm. Er streichelt vorsichtig ihren noch sehr erhitzten Körper und spürt ihre zarte, weiche Haut. Er möchte Lena sehen, alles an ihr, die Kleider stören ihn. Ganz langsam zieht er sie aus. Ihre unschuldige Schönheit, die glatten weichen langen Haare und die friedliche Ruhe, die von dem leblosen Kind ausgehen, erregen Stefan. Zärtlich lässt er seinen Blick über jeden Zentimeter von Lenas Körper wandern. Er wird von einer tiefen, innigen Liebe durchströmt, die er noch nie kennengelernt hat.
Dann legt er sie unter den großen Busch und deckt sie liebevoll mit ihren Kleidern ab. Ein paar Minuten sieht Stefan Lena noch an und saugt den Frieden der von ihr ausgeht. Dann setzt er sich neben sie, zieht sein Taschenmesser und schneidet sich der Länge nach mehrere sehr tiefe Rillen in seine beiden Unterarme. So kann er sicher sein, dass er die Pulsadern gut erwischt hat. Dann legt er sich zurück und schlingt die Arme um Lena. Er spürt wie das Blut feucht und warm aus seinen Armen strömt und lächelt. Er sieht noch einmal seinen Vater vor sich, seine Mutter, seine Klassenkameraden und Sportkollegen. Er ruft sich den herrlichen Moment in Erinnerung, wie er bei einem sehr hohen Sprung von einem Kirschbaum, das Gefühl hatte fliegen zu können und wie wunderbar frei und leicht er sich dabei gefühlt hat....
Die Zeitung schreibt:
Schrecklicher Fund am Berglespfad in Mullen
Ein Spaziergänger entdeckte gestern Nachmittag gegen 16.00h zwei Kinderleichen auf dem Berglespfad in Mullen. Bei den Toten handelt es sich um den siebzehnjährigen Stefan K. und seine sechsjährige Nachbarin Lena M. Man geht davon aus, dass Stefan K. am frühen Morgen mit Lena einen Ausflug machen wollte. Auf dem Weg hat er Lena M. hinter einen Busch gezogen und sie dort ermordet. Nach der Tat nahm sich Stefan K. am Tatort selbst das Leben. Eltern, Nachbarn und Freunde der Familie sagen aus, dass Stefan K. ein stets ruhiger, freundlicher, unauffälliger junger Mann gewesen ist. Allen ist diese furchtbare Tat ein Rätsel.
"Das hätte ich ihm nie zugetraut" sagt Wilfried Köbler und schließt seufzend die Tür hinter den beiden Polizeibeamten. Er geht durchs Wohnzimmer. Vorbei an seiner, auf dem Sofa schlafenden, mit Beruhigungsmitteln vollgestopften Ehefrau, in sein Arbeitszimmer. Noch einmal liest er die Anzeige in der Tageszeitung durch. Neben dem Gefühl der Fassungslosigkeit, taucht noch ein weiteres auf. Er entdeckt eine, ihm bis dahin unbekannte Sympathie zu seinem Sohn. Nie war er so stolz auf seinen Stefan gewesen, wie in diesem Augenblick. Was für ein mutiger, kleiner Held, denkt er lächelnd. Köbker lehnt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in seinem Arbeitsstuhl zurück und denkt an seinen wunderbaren Jungen.