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Der treue Sohn
„Hör zu“, sprach der alte Handlanger zu seinem Sohn, als dieser in die Burschenjahre kam. „Aus dir soll etwas werden, so gehe hinaus in die Welt und versuche dich.“
„Aber, lieber Vater“, zögerte der Sohn, „wer kümmert sich um das Grab der Mutter, hält es sauber und rein?“
„Es wird schon sein“, entgegnete der Vater und schob das Kind zur Tür hinaus.
Der Sohn wanderte eine Weile, da kam der Hunger über ihn. Er dachte bei sich: „Ein Stück Brot, das ist immer fein. Ein Bäcker will ich werden, das will ich sein.“
Und als er in die Stadt kam, nahm ihn ein Bäcker zur Lehre. Des Handlangers Sohn machte ihm Ehre. Er wog und knetete, er maß ab und buk. Am Grab der Mutter der Vater seinen Kuchen aß.
„Danke, Herr Meister“, sprach der Bursche, „ihr habt mir genug gelehrt, ich will mich weiter versuchen.“
Und so zog er weiter, durch Tage und Nächte. Da wurde ihm kalt, und er dachte bei sich: „Ein Hemd und ein Rock, das ist immer fein. Ein Schneider, das will ich sein.“
Und als der Morgen anbrach, klopfte er an die Tür des Schneiders, und der nahm ihn zur Lehre. Des Handlangers Sohn machte ihm Ehre. Er säumte und maß, er nähte und trennte. Und am Grab der Mutter der Vater seinen Rock anzog.
Wieder sprach der Sohn: „Danke, Herr Meister, ihr habt mich genug gelehrt, weiter will ich mich versuchen.“
Und so zog er weiter, Jahr um Jahr. Das Herz wurde ihm schwerer und schwerer. Er ließ sich auf einen Stein sinken und dachte ganz leise: „Ein Mensch bei mir, das wäre fein. Nicht mehr einsam, das will ich sein.“
Und da klopfte es an sein Herz: „Komm, ich will dich lehren, wieder glücklich zu sein.“
Und sie tanzten und sangen, pflanzten die schönsten Blumen und erfreuten sich an ihrer Pracht.
Und am Grabe der Mutter der Vater eine Rose abbrach.