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Der Tod des kleinen Bürgermeisters
Stefanies Fahrrad streifte einen Stein auf dem holprigen Pfad und sie kam ins Straucheln.
"Herrgott Sakra, verdammte Scheiße!" fluchte sie heiser und kickte den Kiesel vom Weg.
"Na Steffie, du bist heute so schräg drauf, was ist dir denn heute wieder über die Leber gelaufen?" fragte ihre Freundin Imogen.
"Ich könnte auf der Stelle im Amt aufhören, mir reicht’s wieder mal vollkommen!"
"Jo mei, was du wieder hast", schnaufte Imogen leicht genervt. "Ich hab leider net so viel Zeit für deine Probleme. Geht’s wieder um die beiden blöden Sumpfküh aus München, die sich für was Besseres halten?"
"Nein, wenn es nur das wäre!", seufzte Stefanie.
Die beiden erreichten eine Weide mit Pferde unterschiedlicher Rassen, die dort friedlich grasten. Stefanie und Imogen waren große Pferdenärrinnen, die nicht verstehen konnten, dass man das "Sportgerät Pferd" nach Gebrauch aussortiert und zum Pferdemetzger gibt. Die "Gnadenweide" hatten sie vor Jahren gepachtet und Rainer, Imogens Ehemann hatte zusammen mit einigen Kumpels und Stefanie Ställe auf dem Grundstück errichtet. Stefanie, die ausdauernd und muskulös war, weil sie viel Sport trieb, war dabei eine große Hilfe gewesen. Die Weide fand bei der Dorfgemeinschaft viel Anerkennung und tauchte auch Imogen und Rainer in ein besseres Licht. Als "Heavy Metall Fans" stieß das Ehepaar bei der konservativen Dorfbevölkerung öfters mal auf Ablehnung und Unverständnis.
Stefanie begrüßte ein mageres, fuchsfarbenes Pferd mit: "Hallo Hans!" und streichelte über seine weichen Nüstern.
Imogen schaute auf die Uhr: "So, was ging letzte Wochen im Büro ab? Spuck es schnell aus, ich muss vor dem Gottesdienst noch meine beiden Kids bei Muttern abholen. Vater ist noch beim Netze einholen am Walchensee. Ich hoff, er kommt nicht zu spät zur Kirchen!"
Stefanie lehnte sich gegen den Zaun und rollte die Augen nach oben: "Dieser depperte Typ, mit dem ich vor der Kantine aneinander gerasselt bin, ist unser neuer Arbeitskollege."
"Ach nein", stöhnte Imogen. "Warum hat es eigentlich zwischen euch gerasselt? Erzähl mal!"
"Mit einer großen Schüssel Obstsalat in den Händen, kam ich zur Kantinentür. Da sah ich so einen kleinen, dicken Mann in einem abgeschabten Lederjanker. Er blieb stur vor der Tür stehen und sah mich vergräzt an. Dann deutete er auf seinen Ellenbogen und sagte, dass man damit auch die Tür öffnen kann. Das tat ich dann auch mit einem Schwung, dass es ihm beinah die Brillen runter gefegt hätt'. Da rief er: 'Na endlich, warum nicht gleich so!' Ich sagte ihm, dass ich eigentlich erwartet hätt', dass er die Tür für mich öffnet, zumal er beide Hände frei hatte. Da sagte dieser Depp doch: 'Ab und zu halte ich mal einer Frau die Tür auf, aber nicht jeder Frau.' Daraufhin explodierte ich und sagte ihm ein paar nicht so nette Sachen."
"Wie heißt dieser verkorkste Machotyp, den du zukünftig ertragen musst?"
"Amberg heißt er. Mit Vorname Xaver. Einige meiner Kollegen kennen ihn offensichtlich gut. Sie haben sich teils sogar gefreut, ihn zu sehen."
"Amberg, der Name sagt mir was", sagte Imogen nachdenklich. "Ah, jetzt weiß ich's, das ist der Ortsvorsteher von Bischofsgrund! Er wird auch der 'kleine Bürgermeister' genannt. Ich kenn ihn zum Glück nicht näher, hab aber gehört, dass er auch sehr nett und charmant sein kann."
"Bei den richtigen Frauen wohlgemerkt", bemerkte Stefanie sarkastisch.
Sie war zwar schlank, hatte aber wegen ihrer breiten Hüften und dem schmalen Oberkörper, eine birnenförmige Figur. Ihre braunen Haare, die sie meistens mit einer Spange zurückhielt oder zu einem Pferdeschwanz bändigte, waren schulterlang. Das gefiel einigen Männern, aber ihr Gesicht entsprach nicht dem gängigen Schönheitsideal. Obwohl sie erst Mitte dreißig war, zeigten sich auf ihrem hageren Gesicht tiefe Nasobialfalten. Ihre Haut war durch den häufigen Aufenthalt im Freien grob und gerötet und neigte zu Unreinheiten. Ihre Nase war groß und hatte einen leichten Höcker. Die Lippen waren schmal und sie hatte etwas Überbiss. Jedoch ihre grünen Augen waren hübsch anzusehen. Die versteckte sie aber gern hinter ihrer großen Brille. Als Imogens Kinder sie zum ersten Mal sahen raunten sie ihrer Mutter zu: "Die schaut ja aus wie ne' grausliche Hexen."
Ein Hupen erklang, und die Pferde spitzten die Ohren. Es war Rainer, der Imogen ungeduldig aus einem blauen Fiat heraus zuwinkte und rief:
"Komm, beeil dich, wir müssen noch bei deiner Mutter vorbei!"
Er hatte seine überschulterlangen, hellbraungelockten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und für den Kirchenbesuch einen Trachtenjanker angezogen.
"Ciao Steffie, was machst denn noch mit dem angebrochenen Tag?"
"Ich werde erst mal eine Runde joggen, um mich abzureagieren und danach mit "Gandolf" trainieren."
"Mei, hast's gut! Kein Kind, kein Rind", seufzte Imogen.
Imogen und Stefanie beneideten sich gegenseitig, um das was sie nicht hatten. Stefanie wäre gerne in einer festen Partnerschaft, aber das hatte sich nicht ergeben. Imogen beneidete Stefanie um ihre Freiheiten. Sie konnte für Reitturniere trainieren oder auch mal einen Nachmittag in einem Café verbummeln, ohne dass sie ungeduldig von ihrer Familie zu Hause erwartet wurde.
Stefanie wartete mit Magengrimmen auf eine Begegnung mit Herrn Amberg.
"Eigentlich müsste er sich wegen seines ungehobelten Benehmens bei mir entschuldigen", überlegte sie.
"Hallo Steffie, kannst du mir noch mal erklären, welches Schreiben zum Fax und welches zur Ablage kommt?" riss Doreen, ihre Auszubildende, sie aus den Gedanken.
"Der Chef hat mir das mit der Post, leider so schnell erklärt, dass ich fast alles wieder vergess'n hab." Doreen, klein und pummelig, sah Stefanie mit ihren runden Augen an, wie ein krankes Meerschweinchen.
"Da schau her, das ist ganz einfach, du ..."
Stefanie wurde durch ein hartes, schnelles Klopfen an der Bürotür unterbrochen, die gleich darauf mit Schwung aufflog. Ins Zimmer kamen der Abteilungsleiter und der "kleine Bürgermeister" Diesmal trug er anstatt seines schäbigen Jankers einen dunklen Anzug und Krawatte.
"Grüß Gott, darf ich Ihnen unseren neuen Mitarbeiter in der Gebietsausweisung, Herr Amberg, vorstellen? Das sind Frau Meyer und Frau Roland", erklärte der Abteilungsleiter.
"Grüß Gott, meine Damen!" grüßte Herr Amberg jovial.
Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht gab er erst Stefanie, dann Doreen die Hand.
"Da schau her, was für eine niedliche Azubiene haben wir da! Da hat unser Chef 'ne gute Wahl getroffen."
Doreens Gesicht wurde von einer dunklen Röte überzogen.
Herr Ambergs Blick glitt zur Wand hinter Stefanies Arbeitsplatz, die verschiedene bunte Reitturnierwimpel zierte. Sein Blick blieb an einem Autogramm von Ludger Beerbaum hängen.
"Ach, der Ludger! Und das ist seine Wunderstute Rasina Z. Sie reiten auch?"
"Ja. Ab und zu nehme ich auch an Wettkämpfen teil", antwortete Steffie irritiert.
Herr Amberg nickte mit einem schmallippigen Lächeln und verließ zusammen mit dem Abteilungsleiter das Büro.
Entweder hatte er dem Eklat bei der Kantine nicht so viel Bedeutung beigemessen oder er nahm sich in Anwesenheit seines Chefs zurück. Stefanie kam sich schäbig vor. Sein flegelhaftes Benehmen hätte eigentlich mit einer flapsigen Bemerkung ihrerseits gekontert werden müssen. Warum war sie immer so steif und humorlos? Sie konnte dem Herrgott danken, dass "der kleine Bürgermeister" wenig mit ihrem Aufgabengebiet zu tun hatte.
Die Kollegen, die mit ihm zusammenarbeiteten, waren voller Lob auf ihn zu sprechen. Er war gesellig, humorvoll und hatte sich in Überschallgeschwindigkeit in sein Aufgabengebiet eingearbeitet. Ein richtiger Überflieger.
Erfreut schaute Stefanie auf den Bildschirm. Sie wurde von ihrem Reitsportverein angeschrieben, dass sie am Pfingstturnier teilnehmen könnte. Diese Meldung tat ihrem angekratzten Selbstbewusstsein gut. Schnell leitete sie das Mail weiter, denn es gab einige Pferdefreunde, die Interesse an der Veranstaltung hatten.
Fröhlich, mit den Gedanken bei dem kommenden Reitturnier, schritt Stefanie über den Flur. Anka und Madeleine, die beiden "Münchner Sumpfküh", erwiderten Stefanies fröhlichen Gutenmorgengruß nicht. Stattdessen zog Anka ihr Stuppsnäschen hoch und sagte zu Madeleine:
"Ey, wenn ich das sehe, könnte ich nur noch kotzen!"
Madeleine drehte ihren Kopf, ihre blonden Locken flogen über die Schulter, und schaute naserümpfend auf Stefanies Fußknöchel mit den kaki-rot gemusterten Strümpfen in den klobigen Schuhen. Leise Bosheiten zischelnd verschwanden sie in Ankas Büro.
Stefanie müsste sich eigentlich an das Verhalten der beiden gewöhnt haben. Die Eltern der beiden Gören waren in den idyllischen Wallgau gezogen um in Stille und schöner Landschaft zu wohnen. Aber letztendlich war ihnen die Gegend zu hinterwäldlerisch und die Leute zu bodenständig. Diese Haltung hatte sich auf ihre Töchter übertragen. Stefanie, die nie Wert auf schicke Markenkleidung legte, war ihnen ein Dorn im Auge.
"Die sieht wieder einmal aus, als ob sie direkt vom Pferdestall kommt", war ihr beliebtester Ausspruch, wenn sie sich außer Hörweite in Höhe ihres Bürozimmers wähnten.
Wütend und frustriert ging Stefanie in die Teeküche und spülte ihr Geschirr. Sie sehnte den Feierabend herbei, die Arbeit mit den Pferden und ein Ritt über die Wiesen zum Walchensee. Eigentlich wäre es nicht schlecht, wenn sie in Richtung Reitprofi umsattelte und sich nur noch dem Turniersport widmete, aber die Arbeit in der Behörde war wiederum sicherer.
"Hallo, Frau Meyer! Vielen Dank auch für Ihre Einladung", wurde Stefanie aus ihren Gedanken gerissen. Sie drehte sich um, im Türrahmen stand der "kleine Bürgermeister" und zeigte ihr ein Lächeln, das sie an Jack Nicholson in "The Shining" erinnerte.
"Herr Amberg, hab ich Sie eingeladen?" fragte Stefanie und versuchte sich zurückzuerinnern, ob sie in der Eile versehentlich "Verteiler alle" aktiviert hatte.
Herr Ambergs Grinsen wurde breiter.
"Ich mag alles was mit Damenreiten zu tun hat, Herrenreiten mag ich nicht so", sagte er und lachte dabei über seinen zweideutigen Spruch.
Stefanie war ratlos. Sie wusste nicht, wie sie Herrn Amberg einordnen sollte. Sie beschloss in der Mittagspause ein paar Kollegen zu besuchen, die mit dem "kleinen Bürgermeister" näher bekannt waren. Gleich vorne am Kantinentisch, den Turnbeutel mit ihren Yogasachen über den Stuhl gehängt, saß Renate. Sie lächelte versonnen. Durch ihren Entspannungssport war sie meist ruhig und ausgeglichen. Sie konnte aber auch sehr kühl und unnahbar wirken, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Neben Renate saß Vroni, eine ältere Dame, die eine regelrechte Plaudertasche war. Anton, genannt Toni, ein Beamter im mittleren Dienst, schaute streng und kühl durch seine Designerbrille.
"Hallo Steffi, hier sind wir, setz dich zu uns!", rief Renate ihr zu.
"Ich komm gleich. Super, heute gibt es wieder mal Minestrone! Ich hab vielleicht einen Hunger, kann ich euch sagen!", rief sie durch das Stimmengewirr der Kantine und stellte sich in der Schlange vor der Essensausgabe an. Aus dem Blickwinkel heraus, sah sie Elsa zur Tür hereinkommen und den Leuten am Tisch zuwinken. Diese elegante Frau Mitte Vierzig war zwar nett und leutselig, aber Stefanie hatte bei ihr das Gefühl, dass man ihr nicht so trauen konnte.
"Na, wie findet ihr unseren neuen Kollegen Amberg?" fragte Stefanie gerade heraus, als sie mit der dampfenden Terrine Suppe am Tisch Platz genommen hatte.
"Ach der Xaver, der ist ein guter Typ", antwortete Renate. "Wir haben uns mittlerweile das 'Du' angeboten. Der ist echt gut fürs Büroklima. Er hat immer einen coolen Spruch drauf."
"Ich find ihn fachlich sehr kompetent", sagte Toni. "Er hat sich sehr schnell in sein Sachgebiet eingearbeitet."
"Ja und was der Xaver so alles drauf hat", staunte Vroni. "So wie ich mitbekommen hab, ist er in Bischofsgrund schwer aktiv. Er ist inzwischen der erste Vorsitzende im Faschingverein. Dann ist er Ehrenvorsitzender bei der Heimatbühne. Beim "Schmied von Kochel", hat er sogar eine kleine Nebenrolle. Er ist schon ganz eifrig am Texte lernen. Auch bei unserer Fußballmannschaft SG Bischofsgrund ist er im Vereinsvorstand. Fehlt nur noch der Karnickelverein."
"Im Wassersportverein ist er nicht", lachte Toni. "Aus einer mir bekannten Quelle habe ich erfahren, der Xaver ist Nichtschwimmer und dazu auch noch wasserscheu."
"Wasserscheu! Der Xaver! Dös hätt i net gedacht! So a gestandenes Mannsbild", prustete Vroni und wischte sich die Lachtränen aus den Augen.
"Hat er vor, auch in unserem Reitsportverein aktiv zu werden?" fragte Stefanie alarmiert, als das Gelächter allmählich verebbte. Vroni schien Stefanies Nervosität gar nicht bemerkt zu haben und antwortete:
"Was noch nicht ist, kann noch werden. Dieser Xaver ist schon mal ein Pfundskerl."
Elsa sah ihre langen, rosa getönten Fingernägel nachdenklich an und sagte dann:
"Die Musi, die er allweil im Radio hört, gefallt's mir gar net. I bin bekennender Classic Rock Fan und mog Pink Floyd und Deep Purple. Aber vom Nachbarzimmer kommt immer so a bleede Dickebackemusi rüber. Dabei ist der gar kein richtiger Bayer. Zumindest spricht er nicht mal bayrisch."
Eine große, rothaarige Frau schlängelte sich mit einem vollbeladenen Tablett durch die Reihen und klopfte mit ihren Fingerknöcheln dreimal auf den Tisch.
"Hallo miteinander! Ihr seit's ja heute gut drauf! Kann ich noch dazu?", fragte sie.
"Hi Fritze! Logisch. Des basst schon", antwortete Renate. "Wir sind voll in der Diskussion über unseren neuen Arbeitskollegen, und hätten dich doch glatt übersehn'."
"Ihr könnt ja fein lästern, der Amberg is ja net do. Der hockt immer noch in seiner Besprechung."
"Wir lästern nicht, wir loben!" empörte sich Vroni gespielt.
"Na, lasst des mit der Lobhudelei. I bin ehrlich. I mog den net."
Alle am Tisch schauten sie an. Ein großes Fragezeichen mit "Warum" stand im Raum.
"Warum denn so kritisch Franzi? Der Mann ist nett, intelligent hat Geld und ist noch zu haben", empörte sich Elsa gespielt.
"Jo mei, zu haben is der nimmer. Der is geschieden und lebt jetzt mit seiner Freindin zusamm'n", erklärte Fritzi. "Dös arme Ding. Die hat er allweil nur genommen, weil er knapp bei Kasse war, als sei Frau ihn geschnickt hat. Die Tina hat nach Vaters Tod einen ganzen Batzen Geld geerbt."
"Ist Herr Amberg jetzt am Ziel seiner Wünsche?" fragte Stefanie und hielt sich eine Serviette vor den Mund. Die Minestrone stieß ihr unangenehm auf.
"Na, wirklich glücklich san die net", bedauerte Vroni. "Der Xaver betrügt die Tina öfters mit jungen Weibsbildern. Der kann's halt net lass'n".
"Ey, was bildet sich dieser Saubazi bloß ein!" rief Fritzi empört. "An Adonis is der doch net. Eher so a Mischung aus Danny DeVito und Dirk Bach."
"Ha, ha, ha, das ist eine coole Definition!" lachte Stefanie laut heraus. "Eine Mischung aus Danny DeVito und Dirk Bach!"
Sie hielt abrupt im Lachen inne, denn sie hatte das Gefühl, jemand stand unbeweglich draußen vor der Kantinentür. Beim näheren Hinsehen erblickte sie einen kleinen, dicken Mann, der intensiv den Speiseplan studierte. Leider konnte man durch die Milchglasscheibe nicht erkennen, wer es war.
Elsa sah sich in der Kantine um, die sich gegen Ende der Mittagszeit langsam geleert hatte. Einzig die beiden Servicekräfte werkelten noch hinter der Theke.
"Ich darf’s ja net so laut sagen", raunte sie. "Aber mir ist zu Ohren gekommen, dass beim Xaver und seinen vielen Ämtern nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Da .." Sie brach das Gespräch ab und schaute erschrocken nach links.
"Eine wunderschöne Mittagpause, meine Damen", grüßte Herr Amberg und zeigte sein breites Lächeln.
"Xaver, wo kamst du so schnell her?" fragte Renate verwundert. "Man könnt grad meinen, du wärst 'Pan Tau'."
Herr Amberg lachte vergnügt.
Stefanie hatte keine große Lust, die Mittagspause im Beisein vom "kleinen Bürgermeister" zu verbringen und ging zurück in ihr Büro.
Als Stefanie einen Tag später mit ihrer Abrechnungstabelle für den Monat März beschäftigt war, klopfte es an ihre Bürotür. Draußen stand Anka.
"Wir können den Vorgang 'Himmelsacker' nicht finden. Kann es sein, dass die Akte bei Ihnen gelandet ist?" fragte Anka in gereiztem Tonfall und schaute sie mit ihren hellgrünen Augen kalt an.
Stefanie wollte antworten, dass "Naturschutzgebietsausweisungen" bekanntermaßen nicht in ihren Bereich gehörten, aber dann wurde sie stutzig. "Himmelsacker", so war doch der Flurname der von Imogen und ihr gepachteten Gnadenweide.
"Nein", antwortete sie und spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. "Da hab ich nichts mit zu tun. Da müssen Sie sich an die Gebietsausweisung wenden, da ..."
"Oh, Frau Meyer, sagt Ihnen der Name 'Himmelsacker' wirklich nichts?" wurde sie von Anka unterbrochen. "Da haben Sie doch Ihre ollen Klappergäule drauf stehn. Vielleicht ist der Vorgang ganz zufälligerweise in Ihren Papierkorb gefallen?"
"Frechheit!" Stefanie schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. "Was soll diese Bemerkung? Und wo ist überhaupt Madeleine, Ihre siamesische Zwillingsschwester? Normalerweise seid ihr erst zu zweit richtig gut."
"Wegen Madeleine komme ich später noch mal vorbei", sagte Anka knapp und verließ das Zimmer. Die Tür fiel lautstark ins Schloss.
Stefanies Herz raste. Sie hatte diese Akte niemals zu Gesicht bekommen. Dass ihre Gnadenweide auf einem Gebiet stand, für das sich die Naturschutzabteilung interessierte, verhieß nichts Gutes. Sie griff nach dem Telefonhörer und wählte das zuständige Naturschutzdezernat an. Da erfuhr sie, dass auf der Pferdeweide eine seltene Lichtnelkenart wuchs, die Trockenböden bevorzugte und zu den streng geschützten Pflanzenarten gehörte.
Wenige Minuten später klopfte es wieder an Stefanies Bürotür und Anka stand mit einer Sammelbüchse davor.
"Madeleine wird nun wohl für längere Zeit im Krankenhaus bleiben müssen, und die Bürogemeinschaft möchte ihr Genesungswünsche und einen Blumenstrauß überreichen."
Anka gab Stefanie eine kitschige Genesungskarte zur Unterschrift, die mit einem Kätzchen mit dickverbundener Pfote illustriert war. Die Münzen in der Sammelbüchse klirrten. Stefanie hatte durch Mitarbeiter erfahren, dass Madeleine nach einer Sportverletzung, Schmerzen im Knie beim Laufen hatte. Wahrscheinlich war ihr Meniskus beschädigt - eine ärgerliche Sache, aber nicht so gefährlich und dramatisch. Steffanie kramte eine 20 Cent Münze aus ihrem Geldbeutel und warf sie ein.
"Danke", sagte Anka knapp und warf ihr einen Blick zu, der ihr durch Mark und Bein ging.
"Hallo", Herr Amberg stand in der Tür. "So ein schöner Frühlingstag und so böse Gesichter. - Ach ich sehe, es wird gesammelt. Für mich? Hahaha!"
Er warf einen Blick auf Stefanies Schreibtisch und fragte: "Haben Sie zufälligerweise die Akte 'Himmelsacker' in greifbarer Nähe?"
"Mir ist eine Akte mit diesem Namen nie und nimmer untergekommen", antwortete Stefanie eisig.
Mit gespieltem Erschrecken wich Herr Amberg zur Tür zurück und zwinkerte Anka zu. Vom Flur her hörte Stefanie Anka und "den kleinen Bürgermeister" in hörbarer Lautstärke spotten.
"Was hat denn diese Frau Meyer? Die ging mir ja beinahe an die Kehle, nur weil ich sie nach einem Vorgang gefragt habe."
"Wissen Sie nicht? Auf diesem Grundstück hat die Frau Meyer ihre Klappergäule stehen."
"Ich weiß, Frau Meyer ist eine Pferdenärrin und reitet gern. Wenn ich sie so ansehe, hahaha, da muss ich immer daran denken: mit der Zeit ähneln sich Reiter und Pferd immer mehr."
"Da müsste Frau Meyer aber ein richtig alter, vertrockneter Klepper sein. Da hab ich so ein bestimmtes Pferd vor Augen, diese Stute von Don Quijote. Wie hieß die?"
"Rosinante", sagte Herr Amberg. "Genau, Frau Meyer erinnert mich an Rosinante."
Nun hatte sie ihren Namen weg.
Stefanie versuchte sich wieder zu beruhigen und vertiefte sich in ihre Tabelle, da tauchte am unteren linken Bildschirmrand ein gelbes Briefchen auf, ein Zeichen für eine neue E-Mail. Sie versuchte die Mail zuerst zu ignorieren, wenn sie jeden Schrott las, der den Tag über gesendet wurde, kam sie keinen Schritt in ihrer Arbeit weiter. Aber dann siegte ihre Neugier. Die Nachricht war von Herrn Amberg. Sie hielt den Atem an, schluckte. Die E-Mail enthielt einen Spendenaufruf für eine Knochenmarkspende für Madeleine. Sie litt unter einem Leukämierezidiv. Als kleines Kind war sie an Blutkrebs erkrankt, galt aber letztendlich als geheilt. Und nun kam diese Krankheit mit voller Wucht zurück. Die Hitze stieg ihr in die Wangen als sie den kleinen Beisatz am Ende der Nachricht las: "PS leider gab es bei der Blumensammelaktion eine Mitarbeiterin, der das Leid ihrer Kollegin keinen Euro wert war."
Aufgebracht hastete Stefanie über den Flur.
"Das war ein Irrtum, das habe ich nicht gewusst, das habe ich nicht mit Absicht gemacht", hämmerte es in ihrem Kopf. Kurz und schnell klopfte sie bei ihrer Kollegin Renate an.
"Ohmmmmm", summte diese und saß ohne Schuhe im Lotussitz auf ihrem Bürostuhl.
"Was gibt es?", fragte sie leicht abwesend.
"Hast du auch die Mail von Herrn Amberg gelesen? Das mit der geringen Spende war ich. Ich wusste nichts von Madeleines Krankheit. Ehrlich!"
Renate warf ihr einen gereizten Blick zu.
"Ich habe so das Gefühl, die Kommunikation mit den Kollegen geht an dir vorbei", sagte sie in ruhigem aber kühlen Tonfall.
Stefanie konnte gar nichts anderes tun als sich mies fühlen. Aber gleichzeitig stieg auch eine große Wut gegen den "kleinen Bürgermeister" in ihr hoch. Er war ein gerissener Mensch, der immer am längeren Hebel saß. Kurzentschlossen wählte sie Elsas Nummer. Diese Frau war zwar eine "Klatschbase" aber für ihre Wut war sie zurzeit das beste Ventil. Aber Elsa hatte große Bedenken über diese Sache mit ihr am Telefon zu sprechen. Sie wollte ihr eine E-Mail schicken.
Gespannt las Stefanie, dass Herr Amberg, dank eines geerbten Vermögens, eifrig mit dem "Schmieren" von wichtigen Personen beschäftigt war. So konnte er unter anderem seine Position und seine Wiederwahl als Ortsvorsteher sichern.
Die Nachricht wurde nach dem Lesen sofort von Stefanie gelöscht. Voller Genugtuung vertiefte sie sich wieder in ihre Statistik und brachte danach die Post zusammen mit ihrer Auszubildenden ins Abteilungsbüro. Dort wurde Doreen, die etwas langsam in ihrer Auffassung war, noch mal ausführlich der Postablauf erklärt. Stefanie schaute ungeduldig auf ihre Uhr. Sie wollte raus aus dem stickigen Büro und mit Gandolf durch frühlingsgrüne Wiesen und Wälder reiten. Zurück in ihrem Büro stach ihr ein Brief ins Auge der schräg auf ihrer Tastatur lag. Verwundert und mit einer Vorahnung, die ihr ein flaues Gefühl im Magen verursachte, griff sie zum Brieföffner. Heraus flatterte ein Zettel auf dem in großen Buchstaben stand:
"Frau Meyer, an Ihrer Stelle würde ich mal ein bisschen aufpassen! Sie haben es ja nicht lassen können, Ihre große Nase in etwas hineinzuhängen, von dem sie keine Ahnung haben. Ich habe einiges gegen Sie auf der Hand, das Sie Kopf und Kragen kosten kann, sollte ich den Mund aufmachen. Damit Sie aus dieser Sache unbeschadet herauskommen, nehmen Sie einen Briefumschlag, füllen ihn mit 500 Euro und legen ihn mir innerhalb der laufenden Woche unauffällig auf den Schreibtisch. Wenn Sie es in Zukunft unterlassen, mich anzuschwärzen, haben Sie Ihre Ruhe. Sollten Sie mir nochmals Schwierigkeiten bereiten, drohen weitere Konsequenzen. Und zu Niemanden ein Wort, sonst kann es ein schlimmes Ende für Sie nehmen!"
"Tschüss Steffie, und viel Spaß nachher beim Reiten!", hörte sie Doreen aus weiter Ferne rufen.
"Ist dir nicht gut?" fragte Doreen besorgt, den Türknauf in der Hand.
"Danke, es geht schon", antwortete Stefanie mit heiserer Stimme. "Es ist nur der Föhn."
Stefanie trat ins Freie. Die Luft war lau und es roch nach Frühling. Auf dem Rasen hackte eine Amsel auf einen Regenwurm ein, der sich nicht aus der Erde ziehen ließ. In der Ferne lärmten Schulkinder. Alles war so unwirklich. Sie musste einen klaren Kopf bekommen. Es konnte doch nicht sein, dass man in einem ganz normalen deutschen Büro erpresst wurde.
"Hallo Steffie!" rief Michaela, die Sozialbetreuerin, die nebenamtlich im Personalrat tätig war, hinter ihr her. Stefanie drehte sich um und ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass sie diese Frau auch nicht um Hilfe bitten konnte. Sie hoffte, dass Michaela nicht sah, in welchem desolaten Zustand sie sich befand.
"Ich seh heut gefress'n aus", sagte sie in einem bewusst saloppen Tonfall. "Hab mich wohl mit einem Virus infiziert."
"Na, deswegen hab i di net angesproch'n", sagte Michaela und musterte verächtlich Stefanies ausgewaschene türkis-grau-gestreifte Sweatshirt, das viel zu weit war und über ihre rechte Schuler rutschte.
"Schlampert siehst de aus", sagte sie. "Du musst scho amol ab und zu an Blick in Spiegel werf'n. Stell di vor, der 'Mandel' am Markt hat so viel Klamott'n, dass er die sogar verkauf'n dud!"
Stefanie wurde rot: "Ich zieh morgens automatisch solche Klamotten an, die ich nachher auch bei den Pferden anlassen kann. Zum Umziehen reicht mir leider die Zeit nicht."
"Na, an deiner Stell würd i mal aufbass`n. Im Büro haben heit einige Leit gesogt, die Rosinante - wo zum Himmel hab'n die Kollegen diesen Namen her - kommt ja ganz schee ungepflegt daher. Die andren tratschen hinter deinem Rücken, aber i sog dir die Wahrheit."
"Rosinante", da war wieder ihr Spottname. Ihre Verzweiflung wich einer unbändigen Wut auf den Herrn Amberg.
"Nur weg und alleine für mich losreiten", dachte Stefanie. Auf dem Reiterhof ging es lebhaft zu. Imogen und ihre beiden Freundinnen hatten ihre Kinder dabei, die lautstark mit ihren Bobbycars Autorennen spielten.
"Webber, alte Socke, mach dich aus dem Weg, ich hab den schnelleren 'Red Bull'!" rief einer der Jungs. Sand spritze auf, Reifen knirschten und ein Knirps fuhr ihr schmerzhaft an die Wade.
"Platz, da! Lass mich vorbei!", rief er mit seiner lauten Kleinenjungenstimme.
Stefanies Kopf dröhnte und sie sah vor den Augen kleine Lichtblitze.
Verständnislos sah Imogen, die vermeintlich durch die Kinder gestresste Stefanie an.
"Lass doch den Jungs ihren Fun! Bei dem Wetter können sie endlich mal raus. Sonst sitzen sie ja immer in der Stub'n und ochsen für die Schule oder kleben vor dem PC."
"Sorry, mir geht heut alles etwas auf den Wecker."
"Du bist immer noch so schlecht drauf, was ging diesmal ab?"
"Oh, nichts besonderes, ich hatte nur so eine dumme Nachricht erhalten", antwortete Stefanie ausweichend.
"Ach geh", antwortete Imogen vergnügt. "In meinem Postfach, da kommt auch andauernd so an dammischer Spam zusammen. Ich wurde doch mal mit Viagrawerbung überschüttet. Am besten sprichst du mal deinen Administrator an."
"Na, was haltet ihr vom Reitturnier?" ,fragte Stefanie als Imogens Freundinnen Kathleen und Ines sich zu den beiden gesellten. "Ich hoff, ich bekomm diesmal eine höhere Startnummer."
Sie bekam keine Antwort. Die drei schauten unbeteiligt in die Luft und Kathleen stöhnte: "Wenn ich mir vorstell, was ich alles noch an Choreographie für meine Volltigiergruppe vorbereiten muss, wird mir ganz anders. Die Zeit läuft mir davon."
"Ja, die Zeit läuft einem davon", sagte Stefanie und schaute zu Imogen. "Wenn wir nicht aufpassen und Einspruch einlegen, ist unsere Gnadenweide wegen so ein paar geschützten Lichtnelken weg."
"Ich denk, wenn das Amt wegen so ein paar 'Pissnelken' den langen Arm auf unsere Weide hat, da können wir nicht viel ausrichten", antwortete Imogen. Wo war ihr Elan und Engagement geblieben?
Seufzend ging sie zu den Ställen um Gandolf zu satteln. Als sie auf den Hof zurück kam, traute sie ihren Augen nicht. Da stand doch der "kleine Bürgermeister" zusammen mit einem breitschultrigen Mann mit einem gezwirbelten Schnauzbart und Trachtenjanker und sagte zu diesem in breitem bayrisch:
"Des basst scho, Ulli!"
Herr Amberg schwang sich auf sein Fahrrad und winkte dem Mann fröhlich nach.
"Wer war das bei dem Amberg?", fragte Stefanie.
"Ei, das ist der Angerhofer Ullrich, dieser Großbauer aus Jachenau. Der hat grad seine Tochter für das Reitturnier angemeldet", erklärte Ines.
"Das kann nicht sein!", rief Stefanie. "Soweit ich weiß, waren doch alle Startnummern vergeben. Und seit wann nimmt der Amberg die Anmeldungen entgegen?"
"Weißt du noch nicht, er ist kürzlich bei uns in den Reitverein eingetreten und hat das Amt des ausgeschiedenen Herrn Danner übernommen", belehrte sie Ines. "Vielleicht wurde Angerhofers Tochter genommen, weil sie einfach die besseren Springleistungen bringt."
"Nein, weil dieser Bauernmogul mit Geldscheinen gewinkt hatte", dachte Stefanie bei sich, hütete sich aber ein Wort zu sagen.
Stefanie schwang sich in den Sattel und rief: "Ciao, ich reit mal los!"
Mit schnellem Galopp ging es den Reitweg am Seeufer entlang. Der Himmel war blau, nur der Gipfel des Herzogstands lag in einer hohen Wolkendecke. Der See hatte eine smaragdgrüne Farbe und reichte bis zu den Ufern.
Stefanie genoss den schnellen Galopp. Gangolf war außerhalb von Wettkämpfen besser in Form. Bei Reitturnieren hatte sie öfters mit Zeitfehlern zu kämpfen.
Glucksend schlug das Wasser über die abgerundeten Kiesel. Stefanie lockerte die Zügel und ließ Gandolf trinken. An dieser Stelle waren damals die jungen Novizen aus dem nahen Kloster mit ihrem Tretboot gekentert und ertrunken. Ein Gedenkstein am Hang erinnerte daran. Stefanie vernahm das Surren von Rädern auf dem Kies. Sie straffte die Zügel und führte Gandolf wieder zum Uferweg. Ein Fahrrad bog um die Ecke und im Sattel saß - der "kleine Bürgermeister". Als er Stefanie erblicke, setze er ein breites Grinsen auf. Seine dunklen Augen glitzerten hinter seiner Brille. Sein Gesicht offenbarte reinste Schadenfreude und Geringschätzung. Stefanies Herz raste, ihre Hände ballten sich zu Fäusten und verkrallten sich in den Zügeln. Mit kurzen, wütenden Tritten in die Seite, trieb sie Gandolf an. Das Pferd bäumte sich kurz auf und preschte dann nach vorne. In ihr brodelte Hassgefühl und Zerstörungswut. Gandolfs Hufen sollten ihn zertrampeln und sein fieses Lächeln auslöschen.
Das Gesicht von Herrn Amberg verzog sich zu einem ungläubigen Entsetzen, als die junge Frau wie ein Pfeil mit ihrem Pferd auf ihn zugeschossen kam. Er versuchte auszuweichen. Gandolfs Hufe trafen die Speichen seines Rades. Er verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und stürzte die steile Böschung hinab. Stefanie zügelte an der Kurve ihr Pferd und schaute zurück. Vom "kleinen Bürgermeister" war nichts mehr zu sehen, denn hier ging das Wasser schon ab dem Ufer abrupt in die Tiefe. Stefanie bildete sich ein, kleine Wasserblasen aufsteigen zu sehn. Ihr wurde übel. Sie band Gandolfs Halfter an einem Pfosten vor einer Urzeller Gaststätte, tätschelte ihn und sagte: "Ich komm gleich wieder" und trank in der Toilette das kalte Wasser direkt aus dem Wasserhahn. Ein bleiches Gesicht mit roten Flecken auf den Wangen und übergroßen Pupillen sah sie aus dem Spiegel an. Sie war entsetzt über sich selbst.
"Ich hab ihn umgebracht!", hämmerte es in ihrem Kopf. Ihr Herzschlag ging immer noch schnell. Okay, der "kleine Bürgermeister" war nicht mehr und damit war auch der Terror vorbei. Krampfhaft überlegte sie ob sie gesehen wurde. Aber soweit sie sich zurückerinnern konnte, waren außer ihr und Herr Amberg keine Leute an dieser Uferseite unterwegs gewesen.
Mit zitternden Knien stieg Stefanie wieder auf. Diesmal wählte sie den Rückweg über die gegenüberliegende Seeseite durch den Ort Walchensee und an der Halbinsel Zwergen vorbei. Die Sonne stach, graublaue Wolkentürme bauschten sich auf. Stefanie trieb Gandolf zu einem schnellen Galopp an, denn sie wollte nicht in einen Regenschauer kommen.
Später im Stall, als sie Gandolf abrieb, fielen dicke Tropfen auf das Stalldach. Sie wollte gern dort bleiben, hier in diesem Stall, sich in die karierte Pferdedecke wickeln und nie wieder einen Schritt nach draußen tun.
Am nächsten Morgen blieb Herr Amberg unentschuldigt vom Dienst fern, was bei ihm ungewöhnlich war. Toni rief bei ihm zu Hause an, aber nur seine Freundin Tina war zu erreichen und erklärte ihm, sie wüsste auch nicht, wo der Xaver steckte.
Der Regen hielt an. In unzähligen Rinnsalen lief das Wasser über Stefanies Bürofenster. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren und beschloss früher nach Hause zu gehen. Den ganzen vergangenen Abend und am Morgen darauf hatte sie sich eingeredet, das alles sei ein Irrtum. Sie hatte sich getäuscht, dem "kleinen Bürgermeister" ist nichts passiert. Er ist irgendwo die Böschung wieder herauf gekraxelt und erscheint am nächsten Tag mit einer Stinkwut im Büro. Aber nun wurde sie mit der Wirklichkeit konfrontiert. Einerseits war es eine Erleichterung, diesen Kollegen und diese Bedrohung nicht mehr ertragen zu müssen, andererseits war ihr angst und bange. Sie hielt es nicht länger aus, ging zum Stall, sattelte Gandolf und ritt los, als der Regen abflaute.
"Es zieht mich zum Tatort zurück", sagte Stefanie leise zu ihrem Pferd, als sie den Walchensee erreichten. Sie zügelte Gandolf und veranlasste ihn zum langsamen Gehen, als eine Gruppe Radfahrer vor ihr auftauchte und sich im Halbkreis um einen drahtigen, kleinen Mann gruppierten.
"Na, der Walchensee sieht gar nicht so schön aus, der hat so wenig Wasser", bemerkte ein Radfahrer.
"Da hat jemand den Badewannenstöpsel herausgezogen", lachte der Kursleiter. "Nein im Ernst, das Wasser wurde bei dem wolkenbruchartigen Dauerregen zum Walchenseekraftwerk abgeleitet, damit es keine Überschwemmung gibt. Aber das werden wir ja alles morgen sehen, wenn wir das 'Waldschlösschen', wie es im Volksmund heißt, besichtigen."
Stefanie stieg von ihrem Pferd ab und führte Gandolf an der Seminargruppe vorbei. Ihr Mund war trocken und ihr Herz klopfte schnell. Sie traute sich auf dem Weg nach Urzell nicht auf den See zu schauen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den "kleinen Bürgermeister" vom Wasser dick aufgequollen auf den graubraunen Kieseln liegen. Mit einem vorsichtigen Blick schaute sie zur Seite, als sie auf der Höhe des Mandls für die ertrunkenen Nonnen ritt. Ein freudiges Erstaunen packte sie: Da war nichts, nur steilabfallendes Ufer!
Im Büro wurde inzwischen wild spekuliert, ob der Xaver Ärger mit dem Finanzamt oder die Nase voll von seiner Lebensgefährtin hatte und sich jetzt auf eine einsame Südseeinsel abgesetzt hatte. Einige Mitarbeiter schienen sich ernsthaft Sorge um ihn zu machen.
"Er wird sich doch nichts angetan haben?" fragte der ansonsten so nüchtern und rational denkende Toni.
"Ach geh!", lachte Fritzi. "Den Xaver hat wohl der große Walchen verputzt."
Die Kollegen lachten über die Anspielung auf die Sage um den Riesenwels im Walchensee, der ab und zu mal zuschlägt und arme Wanderer und Freizeitsportler verschlingt. Stefanie zuckte bei dem Wort "Walchensee" zusammen.
Als sie das Bürogebäude verließ, hörte sie lautes Brüllen und aggressives Lachen. Ein Auto, vollgepackt mit 'Bayern München Fans' fuhr vorbei. Sich vor Lachen schüttelnd, riefen sie ihr Unverschämtheiten zu. Sie waren so schnell vorbei, Stefanie konnte ihnen nicht einmal mehr den Stinkefinger zeigen. Verbittert überlegte sie, Xaver Amberg hätte gut zu denen gepasst. Dieser Mann, der sie wegen ihrer spröden Art und ihres wenig attraktives Äußern verachtet hatte. Ansonsten war er ein Machotyp, so ein richtiges Alpha-Männchen, das seine Machtgelüste ausleben wollte. Vor Frauen hatte er keine Achtung und er verwechselte Taktlosigkeit mit Humor.
Xavers Familienangehörigen und seine Lebensgefährtin hatten in der Zwischenzeit eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Stefanie hoffte, dass die Kriminalpolizei nicht auf die Idee kam, den Walchensee mit Tauchern und Netzen nach dem "kleinen Bürgermeister" abzusuchen. Am dritten Tag, nach Herrn Ambergs Verschwinden, standen zwei ernst dreinblickende Kriminalbeamte in ihrem Büro und wollten ihr ein paar Fragen bezüglich Herrn Amberg stellen. Stefanie versuchte ihre Angst zu verstecken. Auf die Frage:
"Wussten Sie, wo sich Herr Amberg zuletzt am Donnerstag, den 7. April aufgehalten hat?", antwortete Stefanie mit bewusst fester Stimme: "Herr Amberg fuhr zur Heimatbühne nach Kochel. Da wird fast jeden Tag für den 'Schmied von Kochel`geprobt. Herr Amberg spielte auch mit."
Danach hoffte sie sehnlichst, dass die Polizisten nicht Imogen und deren Freundinnen befragten, die den "kleinen Bürgermeister" an diesem Tag zuletzt gesehen hatten.
"Hallo Steffie", hörte sie Imogen rufen, als sie mit einem Schubkarren Futter ihre Pferde besuchte. "Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen."
"Viel Stress auf der Arbeit", antwortete sie. "Und freizeitmäßig muss ich sehen, wie ich das alles auf die Reihe bekomme. Nettes T-Shirt hast du an."
Stefanie schaute auf Imogens Brust, die vier gutaussehende, langhaarige Musiker zierte.
"Das ist das neue Tourshirt von Rhapsodie. Die hatte ich zuletzt als Support von Manowar gesehen. Echt gutes melodisches Speed-Metall."
Imogen hätte Stefanie auch von dem neuesten chinesischen Dorf und seinen Ortsteilen erzählen können, sie hätte genauso viel verstanden.
"Wollen wir zur Entspannung an den Walchensee reiten und uns ein Boot mieten?" , fragte Imogen.
Stefanie zuckte unmerklich zusammen. Seit ihrem letzten Ritt hatte sie den See gemieden, aber sie wollte sich vor ihrer Freundin nichts anmerken lassen.
Stefanie fror. Sie wickelte sich in ihre Strickjacke und schaute angespannt über die stahlblaue Fläche des Sees. Imogen hob fröhlich das Ruder um ihren Vater zu grüßen, der ein paar Meter weiter in einem länglichen Ruderboot saß. Die Fischer holten die Netze ein, sie schienen sehr schwer zu sein.
"Boa, was haben die einen Fang gemacht!", staunte Imogen.
Das Netz wurde hochgezogen. Mit Algen und Wasserpflanzen bedeckt hing darin ein klumpiges Etwas, das nur noch im Entferntesten an ein menschliches Wesen erinnerte. Stefanie erblasste und bekam das Bedürfnis Hals über Kopf aus dem Ruderboot zu springen.
"Herrgott Sakra, dös is ja der Vermisste!", rief ein Fischer.
"Der 'Försters Schorch' wurde über eine Woche vermisst, und nun scheinen sie seine Überreste gefunden zu haben", erklärte Imogen.
"Lass und umkehren. Mir wird schlecht. Mir reicht’s für heute" rief Stefanie schaudernd. Sie wollte nicht dabei sein, wenn die Wasserleiche letztendlich als Xaver Amberg identifiziert wurde.
Zu Hause angekommen, fühlte sich Stefanie wie unter Strom. Jedes Geräusch schreckte sie und als letztendlich das Telefon klingelte, wollte sie es am liebsten abschalten, obwohl ihr das auch nichts nützten würde, wenn ein Anruf von der Kripo kam. Ihr Anrufbeantworter sprang an und eine fröhliche Frauenstimme tönte: "Hallo Frau Meyer, ich sprech doch mit Frau Meyer? Ich hab ein Superangebot für Sie! Drei Wochen kostenlos Telefonieren zu ...". Ja, das war wieder so ein dummer Werbeanruf aus einem Callcenter. Danach blieb das Telefon zu Stefanies Erleichterung für den Rest des Abends stumm. Trotzdem hatte sie einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen. Sie ruderte über den See, die Wellen schimmerten hellblau. Sie stieß mit ihrem Ruder auf einen Widerstand und die Wellen entpuppten sich als Computerbildschirme, die auf dem See dümpelten. Das laute Rasseln des Weckers riss sie aus dem Schlaf. Sie schaute in den Spiegel. Nein, schön war sie noch nie gewesen, aber jetzt sah sie verheerend aus. Das Gesicht blass und spitz, die Augen, die unter tiefen Schatten lagen, starrten sie dunkel aus dem Spiegel an. Stefanie war zwar keine Freundin von Make Up, aber nun nahm sie eine beige Grundierung und einen Abdeckstift, um die dunklen Augenringe zu vertuschen. Zum Schluss kam noch Rouge auf die Wangen, um ihrem bleichen Gesicht etwas Farbe zu geben. Ihre alte Levis Jeans, die eine Zeit lang zu eng an den Hüfte saßen, passte wieder hervorragend. Sie hatte in den letzten Tagen so gut wie keinen Appetit, aß nur ab und zu mal ein Stück Brot und trank große Mengen an Kaffee, weil sie nach den meist schlaflosen Nächten, im Büro auf der Stelle hätte einschlafen können.
"Grüß di Steffi!", riefen ihr Michaela und ihr Freund Bernd fröhlich zu. Er drehte sich um und sah Stefanie bewundernd an.
"Was willst du denn, mit dieser dürren Goaß", antwortete Michaela missmutig. Als Stefanie ihr Büro betrat, hörte sie die beiden miteinander tuscheln und Satzfragmente wie:"... die wird sich noch wundern!" "... das hätte ich nie von ihr gedacht!"
Mit einem flauen Gefühl im Magen fuhr Stefanie ihren Computer hoch, öffnete ihr Postfach und las: "Frau Meyer, Sie haben noch Briefe im Fach liegen."
Die Nachricht kam von Toni. Stefanie war sich jedoch ziemlich sicher, dass sie die Post am vergangenen Tag vollständig verteilt hatte.
"Seltsame Sache", dachte sie als sie den Postverteilerraum betrat.
In ihrem Fach lag schräg ein großes, weißes Kuvert. Ihr Herz schlug bis zum Hals, das gleiche Format, das damals als Erpresserbrief auf ihrer Computertastatur gelegen hatte. Sie nahm sich nicht die Zeit, einen Brieföffner zu nehmen und riss den Umschlag mit den Händen auf. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Inhalt und las:
"Hallo Frau Meyer! Das letztens am Walchensee war gar nicht nett. Ich werde es vergessen, wenn Sie mir einen Umschlag mit 500 Euro auf den Schreibtisch legen."
Stefanie würgte, schluckte krampfhaft. Die Aktenregale schwankten vor ihren Augen.
"Da gucken Sie!" rief Toni triumphierend, der unbemerkt hinter sie getreten war.
"Haben Sie im Ernst gedacht, keine Menschenseele hätte sie am Walchensee gesehen? Ja, der 7. April war ein netter Tag zum Angeln."