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Der Tag am Meer

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30.04.2003
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Der Tag am Meer

Ihr staunender Blick glitt von dem tiefen Blau des Ozeans über das reine Weiß eines endlosen Strandes hinein das strahlende Hellblau des wolkenlosen Himmels. All diese wunderbaren Farben sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben, und nun wusste sie nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte. Schließlich verharrte ihr Blick in den Wellen, in denen lustig das Spiegelbild der Sonne tanzte, und ein fröhliches Lächeln spielte um die schmalen Lippen des Mädchens. Sie hatte wirklich Glück, an diesem besonderen Tag schienen gleich zwei Sonnen für sie. ‚Mirnava.’, hörte sie ihren Vater aus einiger Entfernung rufen. ‚Wir müssen ins Hotel.’
Sie drehte sich enttäuscht um und sah ihre Eltern von den Dünen winken. Die Armbewegungen ihres Vaters erinnerten an die Flügel einer Windmühle. Mirnava seufzte, bevor sie langsam den Spuren ihrer Eltern durch den weißen Sand hinauf in die grünen Dünen folgte.
‚Habt ihr dieses Blau gesehen?’, fragte sie ihre Eltern atemlos.
Von dem höchsten Punkt der Düne warf sie sehnsüchtige Blicke zurück zum Meer. Ihre Mutter drückte sie fest an sich, als befürchtete sie, der Wind könnte ihre Tochter davon wehen. Ihr Vater lächelte.
‚Wir kommen später noch einmal hierher zurück.’, versprach er ihr, und seine Worte beruhigten Mirnava.
Sie brauchte keine Angst zu haben, dass sie diese wunderbaren Farben vielleicht nie wieder sah. Ihr Vater hielt immer, was er versprach.

In der Eingangshalle des kleinen Hotels roch es stark nach Holz und nach etwas, das Mirnava nicht erkannte.
‚Mh, Fisch.’, murmelte ihr Vater, und seine Augen leuchteten plötzlich wie zwei Diamanten.
Während sie die dämmrige Halle durchquerten, hielt er Mirnava fest an der einen Hand, seine Frau an der anderen. Ein dicker bunter Teppich schluckte ihre Schritte. Dann blieben sie vor einem seltsam geformten Holztisch stehen. Der junge Mann dahinter trug eine dunkelblaue Uniform und lächelte freundlich. Mirnavas Vater unterhielt sich mit ihm, doch von dem, was sie sagten, bekam sie kaum ein Wort mit. Neugierig sah sie sich in der Halle um, in der von Zimmern jede Spur fehlte. Wo sie wohl schlafen würden?
‚Zimmer 145’, sagte der Mann und reichte ihrem Vater einen Schlüssel.
Mirnava vergaß ihre Suche und beobachtete atemlos, wie ihr Vater den Schlüssel entgegennahm, ohne dafür zu unterschreiben. Stolz schwellte ihre Brust. Hier war er wirklich jemand.
‚Haben Sie sonst noch einen Wunsch?’, fragte der uniformierte Mann.
‚Nein, danke, aber im Moment nicht.’, sagte ihr Vater und schulterte den Seesack, der beinahe alles enthielt, was sie in diesem Leben besaßen.
Der Mann hinter dem Holztisch nickte und lächelte, als würde er nie etwas anderes tun.
‚Wenn es doch etwas gibt, was wir später für Sie tun können, sagen Sie einfach Bescheid.’, bot er an.
Ihr Vater nickte, drehte sich um und lief ihnen den Weg bis zur Treppe mit schnellen Schritten voran. Mirnava schaute ein letztes Mal zurück. Der fremde Mann hinter dem komischen Holztisch zwinkerte ihr zu, und sie winkte ihm.
‚Können wir nicht hier bleiben?’, fragte sie in den Rücken ihrer Mutter.
Dort, wo sie lebten, gab es keine freundliche Menschen, und es wäre nicht schlimm, wenn sie nie wieder dorthin zurückkehrten. Doch ihr Mutter seufzte nur leise.

Im ersten Stock lief Mirnava ihren Eltern voran. 145. Sie kannte diese Zahlen und studierte aufgeregt jede Tür. Doch die Messingschilder sahen alle gleich aus.
‚Hier ist es.’, sagte sie endlich, blieb abrupt stehen und zeigte stolz auf das Schild.
Ihr Vater lächelte mild und streichelte ihr sanft durch das dunkle Haar.
‚Fast, Schatz.’, meinte er und drehte sich zu der gegenüberliegenden Tür um.
Mirnava blinzelte verwirrt. Die Zahlen auf dem kleinen Messingschild sahen genauso aus wie auf dem, auf das sie immer noch zeigte. Als ihr Vater dann die andere Tür mühelos aufschloss, schossen ihr Tränen in die Augen. Betrübt schlurfte sie hinter ihren Eltern her.
‚Wenn ich zur Schule gehe, kann ich das!’, erklärte sie trotzig.
Ihre Eltern standen in einem geräumigen Zimmer, sahen sich an und wirkten einen Moment lang wie versteinert.
‚Natürlich, Mini.’, sagte ihre Mutter, die sonst fast immer nur schwieg, und drückte ihr Tochter erneut fest an ihre Brust.
Diesmal sagte ihr Vater nichts, trat an das große Fenster und schaute hinaus. Seine Schultern bebten, als würde er weinen. Doch dann sah er sie an und lächelte.
‚Hast du schon gesehen?’, fragte er. ‚Hier hast du dein eigenes Bett.’
Bei seinen Worten stockte ihr Atem. Jahrelang schon träumte sie von einer Nacht, in der sie nicht auf der Matratze zwischen ihren Eltern schlafen musste, denn immerhin war sie bereits elf. Jubelnd fiel sie ihrem Vater um den Hals und ließ sich dann von ihm auf das Bett fallen.
‚Tu dir nicht weh.’, warnte ihr Vater.
Ihre Mutter begann auszupacken. Sie nahm die Sachen aus dem Seesack, legte sie ordentlich zusammen und verstaute sie im Schrank. Danach nahm sie die Kleidungsstücke wieder heraus und legte sie in den Seesack. Vom Bett aus sah Mirnava ihrer Mutter dabei zu, wie sie die Kleidungsstücke hin und her räumte. Dann begann sie sich zu langweilen. Sie ging zu der Tür, durch die ihr Vater vor einer Weile verschwunden war, und legte eine Ohr an das Holz. Wassergeräusche drangen heraus. Mirnava trat ein und entdeckte hinter einer Glaswand die Umrisse ihres Vaters.
‚Was machst du?’, fragte sie neugierig.
Ihr Vater schob eine weitere Tür beiseite und sie sah ihn mitten im Zimmer im Regen stehen.
‚Du kannst ja zaubern!’, rief sie erstaunt.
‚Nein.’, sagte ihr Vater, und er lachte dabei über das ganze Gesicht. ‚Ich dusche.’
Das wollte Mirnava auch ausprobieren, und ohne zu zögern sie stieg zu ihrem Vater. Das Wasser prasselte auf ihren Körper, und sie japste überrascht. Ihr Vater starrte sie an.
‚Kind ...’, sagte er lachend, wobei er ihr hastig den Rücken zudrehte. ‚Eigentlich duscht man ... äh ... nackt.’
Mirnava ahnte auch, warum. Die Kleidung an ihrem Körper wurde so schwer, dass sie sich kaum noch bewegen konnte.

Am Abend dann lag ihr Vater neben ihr im Bett. Mirnava fühlte sich vom Abendbrot so satt, dass sie glaubte, nie wieder etwas essen zu müssen. Zufrieden schloss sie ihre Augen und hörte ihrem Vater dabei zu, wie er von seiner Zeit in einem anderen Land erzählte. Vor dem Fenster rauschte das Meer, und der Wind rüttelte an den Ästen der Bäume.
‚Wir wollten noch einmal zum Meer.’, sagte sie plötzlich.
‚Morgen.’, nickte ihr Vater und strich ihr lächelnd ein Haar aus der Stirn.
‚Bestimmt?’
‚Ja.’ Ihr Vater beugte sich über sie und küsste sie sanft. ‚Schlaf schön, Kleines.’

‚Mirnava, aufstehen.’
Jemand rüttelte sie leicht an der Schulter. Schlaftrunken zwinkerte sie und sah ihren Vater an.
‚Wir gehen ans Meer, ja?’
‚Ans Meer?’, fragte ihr Vater überrascht. ‚Nein. Wieso?’
Sofort schossen ihr Tränen in die Augen, als sie begriff, was passierte. Sie war nicht mehr am Meer, sondern lag auf der alten Matratze in der Mitte ihres dunklen Wohnraumes. Wie immer roch es nach Bohnensuppe und starkem Kaffee, und durch die undichten Fenster drang das Rauschen des Straßenverkehrs.
‚Du hast es aber versprochen!’, schluchzte sie.
Hilflos stand ihr Vater neben der Matratze. Eigentlich machte er nie Versprechen, die er nicht halten konnte.

 

Hallo Anja,

Ich kann mich meinem Vorredner nur anschliessen. Tolle Geschichte, die mich sehr berührt hat und am Ende mit einem bitteren Nachgeschmack zurückgelassen hat (in positivem Sinn), auch wenn ich schon fast befürchtet hatte, dass es am Ende noch tragischer werden würde.
Man hat Mitleid mit der Kleinen und fühlt mit ihr und ihrem Vater mit.

Mir ist nur eine Kleinigkeit aufgefallen:

Ihr staunender Blick glitt von dem tiefen Blau des Ozeans über das reine Weiß eines endlosen Strandes hinein das strahlende Hellblau des wolkenlosen Himmels

Hier fehlt ein "in" zwischen "hinein" und "das".

Liebe Grüße,
gori

 

Hallo, ihr beiden.

Danke für eure positiven Kritiken und auch für die Korrekturen. Es freut mich, daß euch die Geschichte gefallen hat. Der Gedanke, es schlimm enden zu lassen, kam mir auch. Aber das war nicht die Intention der Geschichte. Auch Kinder, die in Armut leben, können nette Eltern haben ... was ein bißchen Hoffnung gibt.

Liebe Grüße

 

Hallo Anja,
auch mir hat Deine Geschichte gut gefallen. Man konnte sich gut in die Gefühle und Träume der Prot hineinversetzen.
Am Anfang hatte ich mich zwar erstmal gewundert, warum das Mädchen die für uns alltäglich scheinenden Dinge wie zum Beispiel eine Dusche nicht kannte. Aber am Schluss wird ja klar, warum.
Warum hast Du bei der wörtlichen Rede keine richtigen Anführungszeichen benutzt? Hat das einen besonderen Grund?

Liebe Grüsse
Blanca :)

 

Hallo, Blanca.

Auch dir vielen Dank für den netten Kommentar!

>Warum hast Du bei der wörtlichen Rede keine richtigen Anführungszeichen benutzt? Hat das einen besonderen Grund?<
Nö, ich wollte mich mal "ausprobieren" ;) Hab es aber schon wieder abgeändert.

Liebe Grüße

 

Hallo Anja,

Der Gedanke, es schlimm enden zu lassen, kam mir auch. Aber das war nicht die Intention der Geschichte.

Gott sei Dank! Ich war erleichtert als ich deinen Schluss gelesen habe und gesehen habe, dass du ein anderes Ende gewählt hast.

 

Hi Anja,

Deine Geschichte gefällt mir an sich ganz gut. Ich hab da noch einen kleinen Fehler gefunden. Ich kopier's Dir mal rein.

"ohne zu zögern sie stieg zu ihrem Vater"

Ich finde Deine Erzählung süß, wie Du die Eindrücke Deiner kleinen Protagonistin schilderst, die Reaktionen des Vaters. Allerdings ist mir nicht ganz klar, wie sie sich im Traum z.B. die Dusche erklären kann, wenn sie sie gar nicht kennt. Wieso sie mit Klamotten in den "Regen" springt, und sich dann doch erklären kann, daß man es so nicht tut. Das sind allerdings nur so meine persönlichen, kleinen Mißempfindungen.

LG Lilith

 

Hallo, Lilith,

danke für deinen sehr guten Hinweis. An dieser Stelle werde ich noch einmal arbeiten, denn sie ist wirklich ein wenig unlogisch.

Liebe Grüße

 

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