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Der Sprung
Vier Meter. Das ist nicht viel. Das ist zu schaffen. Gestern war er dort und hat nachgemessen. Hat einen Ast in den Boden gesteckt, ein Schnurende darum gewickelt, das andere Ende an einen Stein geknüpft, den Stein rüber zum anderen Ufer geworfen. Vier Meter von der einen Seite zur anderen. Das kann man schaffen. Scheisse, das hätten wir nicht gedacht, Lureng. Das werden sie zu ihm sagen, nachdem er gesprungen ist. Respekt, werden sie sagen.
Und wenn es doch nicht reicht? Nicht daran denken. Einfach durchziehen. Er wird abheben, fliegen, ihre offenen Münder sehen, wenn er über dem Wasser schwebt. Das war easy, wird er nach der Landung sagen. Oder: Keine Sache. Oder …
„Lureng?“, fragte Frau Giudici.
„Was?“
„Wie lautet die Antwort?“
„Entschuldigung, ich habe die Frage nicht gehört.“
„Also echt.“ Frau Giudici verschränkte die Arme. „Ich finde, man sollte dich mal abklären. Das ist doch nicht normal“, sagte sie. „Sitzt jeden Tag hier und bist doch nie da.“ Die Klasse lachte. Lureng senkte den Kopf und starrte auf die Zeichen, die einer in die Pultfläche geritzt hatte. LML. Keine Ahnung, was das bedeuten mochte. Er dachte nach. Vielleicht: Lebe mutig, Lureng. Frau Giudici schimpfte noch immer mit ihm. Wenn sie wüsste, was er vorhatte.
Nach der Schule machte er sich mit Pablo auf den Weg nach Hause. Es dämmerte, dabei war es noch nicht mal fünf. Der Schnee knirschte unter ihren Moonboots.
„Du willst über den Ribibach springen?“, fragte Pablo.
„Ja.“
„Auf einem Schlitten?“
„Ja.“
„Wie?“
„Ich baue eine Schanze. Oben beim Cladetsch-Hof. Neben der Brücke.“
„Du spinnst.“
„Ich schaff‘ das“, sagte Lureng.
„Du spinnst trotzdem.“ Pablo zog seine Handschuhe aus, griff in den Schnee, der am Wegrand lag, und formte daraus einen Ball. „Wer weiter wirft, gewinnt!“
„Du zuerst, Spanioggel!“, rief Lureng. Pablos Eltern kamen aus Spanien. Alle Spanier stinken, sagten die Jungs. Das war scheisse. Dennoch nannte Lureng seinen Freund manchmal Spanioggel. Weil Pablo ihn ja auch manchmal einen Spinner nannte.
„Whoaah!“, schrie Pablo und sein Geschoss verschwand in der Dunkelheit.
Am Samstag trafen sie sich beim Cladetsch. Pablo hatte eine Schaufel mitgebracht, Lureng eine leere Zweiliter-Colaflasche. Sie arbeiteten, bis die Sonne entkräftet hinter dem Ribihorn verschwand. Am Ende war die Schanze mehr als einen Meter hoch. Und sie hatten eine Piste hochgezogen, vorbei an zwei Rottannen, die alleine standen, und dann nach oben, bis fast zum Waldrand. Hatten den Schnee festgeklopft und mit dem Schlitten gespurt, Meter für Meter. Hatten die Flasche hundert Mal in den Bach getaucht, um die Sprunganlage zu wässern und über Nacht gefrieren zu lassen.
„Und jetzt?“, fragte Pablo.
„Unbemannte Testfahrt. Morgen Vormittag.“ Lureng grinste und klatschte in die klammen Hände. Pablo hüpfte auf und ab. Aus Vorfreude oder weil ihm so kalt war.
Nach dem sonntäglichen Gottesdienst blieben zwei Stunden bis zum Mittagessen. Lureng band eine Kartonschachtel, die er auf dem Dachboden gefunden hatte, auf den Schlitten und zog los. Seine Eltern hatten nichts mitgekriegt. Mutter stand in der Küche und Vater rauchte in der Stube seine Pfeife. An den letzten Häusern des Dorfes vorbeigekommen, dauerte es noch zehn Minuten bis zum Cladetsch-Hof. Dort angelangt, machte sich Lureng auf die Suche nach Steinen. Als sein Freund auftauchte, war die Schachtel schon fast voll.
„Soll ich helfen?“, fragte Pablo.
„Schon gut. Das sollte reichen.“
Gemeinsam setzten sie den Schlitten in die Spur und zogen ihn nach oben. Die Piste war vereist, zwei oder drei Mal rutschten sie aus und hätten dabei das Gefährt, das zusammen mit den Steinen ganz sicher mehr als vierzig Kilo wog, und das sie mittlerweile auf den Namen Sputnik getauft hatten, beinahe losgelassen.
„Und wenn Sputnik im Wasser landet?“, schnaufte Pablo.
„Ich hab‘ Gummistiefel dabei.“
Oben angelangt, stellten sie den Schlitten quer und setzten sich in den Schnee. Im dichten Nebel konnte man den Bach fast nicht mehr sehen. Aber man konnte sein Rauschen gut hören.
„Auf geht’s“, sagte Lureng. Sie hievten den Schlitten zurück in die Spur, Lureng zählte auf drei, und sie schoben Sputnik kräftig an. Die ersten Meter ging alles gut. Doch dann kam er von der Bahn ab. Er brach nach rechts aus, dorthin, wo die Tannen standen, und hinter dem nebligen Schleier konnten sie sehen, wie Sputnik in den vorderen Baumstamm krachte.
„Heilige Scheisse“, rief Pablo.
Sputnik war hin. Drei Latten der Sitzfläche waren zersplittert und, schlimmer, die linke Kufe ruiniert. Der Metallstreifen hatte sich vom Holz gelöst und war so deformiert, dass man ihn in Frau Giudicis Garten hätte stellen können, wo seltsame Skulpturen standen, über die ihre Lehrerin sagte, das sei Kunst.
„Heilige Scheisse“, sagte nun auch Lureng.
„Und jetzt?“, fragte Pablo.
„Kann ich deinen Schlitten haben?“
Pablo besass bloss einen Bob. Einen orangen aus Plastik. Das wäre auch gegangen, wahrscheinlich sogar besser. Aber Lureng hatte den Jungs gesagt, er springe mit einem Schlitten über den Ribibach. Also musste ein Schlitten her. Bis der Zorn seiner Eltern verraucht war und sie ihm einen neuen kauften, das konnte dauern. Als Lureng darüber nachdachte, von wem er sich einen leihen konnte, kam ihm nur Livia in den Sinn.
Livia war nett. Sie war gleich alt wie er, besuchte die Parallelklasse, trug einen schwarzen Pony und wenn sie ihn sah, lächelte sie meistens. Viel miteinander gesprochen hatten sie allerdings noch nicht, dafür war sie viel zu hübsch und Lurengs Knollennase zu gross.
Vor einiger Zeit hatte er ihr einen Stein geschenkt. Auf dem Schulweg gefunden. Der hatte ausgesehen wie kein anderer Stein, dunkelgrün und mit feinen Rissen drin. Livia hatte sich bedankt. Mehr nicht.
Lureng atmete erleichtert auf, als Livia und nicht ihr Vater öffnete, nachdem er geklingelt hatte.
„Du willst meinen Schlitten? Was ist denn mit deinem?“, fragte sie.
„Kaputt.“ Livia sah ihn fragend an. „Lange Geschichte“, sagte er.
„Dann komm rein und erzähl‘.“
„Muss gleich wieder nach Hause. Erster Advent. Gemeinsam Kerzen anzünden.“
„Ach so.“
„Also wenn du vielleicht …“
„Jetzt?“
„Wäre super.“
„Wozu brauchst du denn heute Abend einen Schlitten?“
„Nicht heute Abend, aber morgen …“
„Ja?“
„Da geh ich nach der Schule mit Pablo …“
„Weshalb lügst du, Lureng?“ Livia schüttelte den Kopf. So erinnerte sie ihn an Frau Giudici. Nur tausendmal schöner.
„Wieso?“, stammelte er.
„Die ganze Schule redet davon.“
„Ach ja?“
„Wieso willst du so was machen?“
Ja, warum eigentlich?
„Damit sie dich das nächste Mal einladen, wenn es ein Geburtstagsfest gibt?“, fragte Livia. „Gehörst du dann zu ihnen? Weil du mit einem Schlitten über einen Fluss springst?“
Das war fies. Lurengs Herz klopfte. Nur ja keine Tränen.
„Damit sie aufhören, meine Schuhe zu verstecken. Und Kaugummi in mein Etui zu kleben“, sagte er leise.
„Und das soll funktionieren? Ich versteh euch Jungs echt nicht.“ Etwas mehr Mitleid hätte Lureng schon erwartet. Immerhin war Livias Stimme jetzt etwas sanfter.
„Ich eigentlich auch nicht.“ Lureng versuchte zu lächeln.
„Hör zu“, sagte Livia. „Du kriegst den Schlitten. Weil ich dich mag. Aber ich werde morgen nicht dort oben sein und dir dabei zuschauen, wie du diese Idioten beeindrucken willst. Weisst du, was ein Boykott ist?“
„Nein.“
„Eben das“, sagte Livia. Danach führte sie ihn zum Schuppen, wo der Schlitten stand.
Lureng rannte nach Hause. Er verschwendete keinen Gedanken an die Frage, was ein Boykott war, obwohl er das noch immer nicht ganz verstanden hatte. Weil ich dich mag. Weil ich dich mag.
Er konnte nicht einschlafen. Vier Meter. Wieder und wieder stellte er sich den Sprung vor. Nur nicht mit den Füssen abstossen. Einfach sitzen bleiben. Wenn du versuchst, mit den Füssen abzuspringen, bist du tot! Aber das war es nicht, was ihn wach hielt. Wenn er hätte wählen können, ob alle Jungs im Dorf ihn springen sehen oder bloss Livia, er hätte Livia gewählt. Aber die wollte das ja gar nicht sehen. Das war wirklich verwirrend.
Montagnachmittag. Dicke Skihosen, zwei Skijacken. Knieschoner. Ellenbogenschoner, Skibrille, der schwarze Mofahelm seines Grossvaters. So sass er auf dem Schlitten. Sputnik Zwei. Die Sitzfläche war viel zu klein, er fand keine Position, die sich richtig anfühlte. Als er seine Beine anwinkelte und die Füsse auf die schmalen Kufen stellte, spürte er einen stechenden Schmerz in seinen Hoden. Doch es gab kein Zurück. Er schlug mit der flachen Hand dreimal gegen seinen Helm, so wie Pablo es ihm geraten hatte, tock, tock, tock, und gab ein entschlossenes Knurren von sich. Unten, hinter dem Bach, standen die Jungs und johlten. Mach schon, Knolli!
„Los!“, schrie Lureng.
Pablo gab dem Schlitten einen Stoss und Sputnik Zwei setzte sich in Bewegung, langsam zunächst, dann schneller und immer schneller. Vor den Tannen war die Schneedecke dünn, dort musste er links halten, um den Wurzeln auszuweichen. Geschafft! Jetzt ging es nur noch geradeaus, steil hinunter zur Schanze. In der Nacht hatte es geschneit und auch jetzt fiel Schnee. Weisser Staub legte sich auf Lurengs Brille, er konnte kaum mehr etwas sehen. Damit hatte er nicht gerechnet. So würde er die Schanze nicht erwischen. Er riss sich die Skibrille vom Kopf und warf sie in den Schnee. Nun sah er klar, nun sah er, wie die Schanze näher kam, grösser wurde, eine Nase in der Piste, nur nicht verfehlen, nur nicht die Füsse bewegen, still halten, keine Panik, Lureng, keine Panik.
Und da blieb die Zeit stehen. Schneeflocken schwebten in der Luft. Lureng sah die Jungs. Sie bewegten sich nicht. Standen da wie Bäume. Der Himmel war grau und alles war still. Lureng atmete ein, und er glaubte, ein leises Pfeifen zu hören. Dann sah er Livia. Sie stand auf der Brücke und hatte ihren Arm erhoben, als winkte sie ihm zu. Sie trug eine rote Jacke. War es wirklich Livia? Manchmal sah er Dinge, die waren gar nicht da. Und jetzt? Weshalb war sie gekommen? Weil sie ihn mochte?
Lureng gab Sputnik einen Ruck und der Schlitten sprang aus der Spur. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren, aber er hatte Glück. Lureng streckte seine Beine und bremste die Fahrt. Kurz vor der Brücke blieb er stehen.
„Hallo Lureng.“ Livia lächelte.
„Hallo Livia.“ Er hörte die Jungs schreien. Knolli, du Feigling! Wie peinlich! Buuh!
„Du warst ziemlich schnell. Das war unheimlich“, sagte Livia.
„Ja, das war heftig.“
„Hattest du Angst?“
„Eigentlich nicht.“
„Schön, dass du nicht gesprungen bist.“
„Mhm.“
„Die werden dich ganz schön ärgern.“ Sie blickte zu den Jungs, die näher kamen.
„Ich weiss.“
„Schlimm?“
„Nö.“
„Hauen wir ab?“
„Ja!“