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Der Sinn des Sisyphus

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29.11.2019
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Der Sinn des Sisyphus

Es war gestern, als ich wieder einmal abends auf der Bank unter der alten Birke saß und darauf wartete, dass etwas passiert. Vor mir lag die Sonne hinweg über Wiesen und Felder tief im Horizont. Als letzten Akt für diesen späten Herbsttag gab sie allen, die zuschauten, eine letzte Kostprobe ihrer Kraft und färbte den gesamten Himmel brennend rot und gelb. Die Schatten verbeugten sich tief vor diesem eindrucksvollen Spiel, während hinter mir tosender Applaus erschallte – das Treiben der Stadt, das zu seinem letzten Höhepunkt für diesen Tag anschwoll – ein Crescendo bestehend aus hupendem Feierabendverkehr und Stimmen von Kindern und Erwachsenen, die in ihre Häuser zurückkehrten.

Langsam hüllte sich der Himmel in Schwarz. Das Tageslicht schwand und die Stadt wurde leiser. Nichts, dass meine Augen und Ohren mehr ablenkte und so wurde mein Inneres wieder lauter und stellte seine unangenehmen Fragen.
„Warum sitzt du denn schon wieder hier?“, fragte es mich und ich antwortete verärgert:
„Weil ich es mag und jetzt lass mich alleine.“
„Immerzu machst du nur, was du magst. Wie wäre es, wenn du einmal etwas tust, das dir nicht gefällt?“
„Wozu denn?“, fragte ich zurück.
„Weil es dir dabei schlecht geht. Morgens schläfst du, mittags stehst du auf und abends sitzt du hier und den ganzen Tag dieses leere Gefühl im Bauch. Gib es zu, du bist erbärmlich“, peitschte es mir entgegen.
„Ja, bin ich, und? Lass mich doch!“, zischte ich zurück.
„O, du wirst mir noch danken dafür, dass ich mich immer beschwere. Ohne mich wärest du schon längst in der Gosse gelandet.“
„Bitte, geh doch einfach wieder weg“, flehte ich. „Und dann? Was dann? Endlich keine schmerzhafte Stimme mehr, die dir sagt, was du tun sollst? Endlich frei davon? Wie viel Freiheit willst du denn noch? Was hast du denn mit der bisherigen Freiheit gemacht? Du hast dich dazu entschieden, ein Häufchen Elend zu sein, und ich muss dir sagen, sich dafür zu entscheiden ist nicht gerade schwer“, warf es mir nun mit wütenden Tonfall entgegen.
„Aber sag mir doch“, begann ich mit bedrückter Stimme, „warum für etwas anderes entscheiden? Warum? Sag es mir bitte! Ich will doch nur endlich einen Grund!“ Mein Körper spannte sich an. Die Zähne pressten sich aufeinander. Die letzten Farben am Himmel verschwammen vor meinen Augen, als diese sich mit Tränen füllten. Ich begann zu weinen. Die Anspannung löste sich. Tröstend schmiegten sich die Tränen an meine Wangen, sammelten sich an der Spitze des schmächtigen Kinns und ließen sich dann vom Herbstlaub auffangen, an dem hängend, sie bereits an den Tau des Morgens erinnerten.

Die Stimme in mir war verstummt. Mein Kopf und meine Schultern waren mir schwer geworden und drückten mich nach unten. Mir war kalt. Ich wollte nach Hause. Ich saß so eine Weile, dann gingen die Laternen an und sogleich tummelten sich die Insekten in ihren Lichtkegeln. Ich starrte die Tierchen an, hatte keine Gedanken, sah nur ihren wilden Tanz im Laternenschein, als von nahem her das Knirschen von Kieselsteinen auf meine Ohren traf und mich aufhorchen ließ. Es waren Schritte und sie näherten sich mir von links. Ein großer, älterer Herr im grauen Anzug kam über den Kieselweg, an dem meine Bank stand, auf mich zu. Er hatte sofort meine Aufmerksamkeit. Das lag vielleicht an seiner Zielstrebigkeit mit der er ging, oder an seinem leichten und eleganten Gang, oder vielleicht auch daran, dass er mit seinem grauen Haar und Anzug aussah wie ein Gespenst, das mir plötzlich aus der Dunkelheit erschien. Erst, als er schon fast bei mir war, sah ich den Koffer in seiner rechten Hand, der aus so schwarzem Leder war, dass es schien, als wäre er Teil der Nacht. Ich machte Platz auf der Bank, da ich dachte, er möchte sich zu mir setzen, doch ging er vorbei, ohne mich auch nur anzusehen. Ich sah ihm hinterher, wie er unter den Laternen durchschritt, die Tänze der Insekten kurz, höflich unterbrach, während der Lederkoffer im Licht hell glänzte. Auch für mich wurde es Zeit zu gehen und da der Herr offenbar denselben Weg wie ich nehmen musste, folgte ich ihm zwangsweise.

Ich war einige Meter hinter ihm, genug, um nicht bemerkt zu werden oder um den Verdacht zu erregen, dass ich ihn überfallen möchte. Obwohl ich zugeben muss, dass es anfing mich zu interessieren, was sich in dem Koffer befand und wohin er zu dieser Uhrzeit noch ging. Der Weg führte nämlich zu einer kleinen Altbausiedlung am Rande der Stadt und dahinter war nur Wald. Zwar wohne ich noch nicht lange dort, aber es wäre mir bestimmt aufgefallen, wenn jemand wie er dort leben würde. Meine Neugier wuchs mit jeder Abzweigung, die er nicht nahm, mit jedem Meter, den wir uns dem Haus näherten, in dem ich wohne und mit jedem Aufblitzen des Koffers unter Laternenschein. Nebel kam auf. Zusammen mit seinem grauen Äußeren und dem leichtfüßigen Gang sah er nun wirklich aus wie ein Geist, der vor mir durch die Dämmerung schwebte. Es waren nur noch drei Häuser, bevor er an meinem vorbeikommen würde, einem alten, recht verfallenem, aber billigem Häuschen am Ende der Straße. Und als es so weit war, blieb er nicht stehen oder kehrte um, wie ich es vermutet hätte, nein, er ging einfach weiter, stapfte mit seinen Lackschuhen durch das angrenzende Feld auf den dahinterliegenden Wald zu. Eine Weile blieb ich bei meinem Haus stehen, beobachtete sein Verschwinden im Nebel, bevor ich zur Tür ging, kurz überlegte und dann doch, von Neugier gepackt, mich umdrehte und ihm wieder folgte. Im dichter werdenden Nebel fand ich ihn nicht mehr, also ging ich seinen Fußspuren im gepflügten Feld hinterher. Die feuchte Erde blieb an meinen Schuhen hängen und erschwerte das Gehen – ich begann zu schwitzen. Dann wurde Feld zu Wiese und Wiese zu Wald – die Spuren des Mannes fand ich nicht mehr. Jeder Rest Licht wurde verschluckt von den mächtigen Tannen und Eichen, Kiefern und Birken, die sich vor mir in den Abendhimmel streckten und mit strengem Blick auf mich niederblickten. Ein kühler Wind kam auf. Wie ein Löwe seine Mähne schüttelt, so schüttelten jetzt die Riesen des Waldes, alle zusammen, ihr letztes Laub, um jeden der darin war, daran zu erinnern, wem der Wald gehört. „Den find ich nicht mehr“, flüsterte ich und wollte schon umkehren, als ich durch die Vielzahl von Stämmen vor mir Licht blitzen sah. Ich vergaß meinen Plan, nach Hause zurückzukehren, und ging auf das Licht zu. Bald erkannte ich ein Stück Lichtung, das hell erleuchtet war. Und als ich schließlich ganz aus dem Wald schritt, kein Baum mehr, der mein Sichtfeld einschränkte, sah ich, dass es nicht nur eine Lichtung war, sondern ein riesiger, steiler, grasbewachsener Hügel. Er war hoch wie die höchsten Bäume und strahlend hell. Aber das verwunderlichste war, dass überall verteilt am Hügel, emsig wie Ameisen, dutzende Männer und Frauen hochstiegen, hochkrochen oder im Gras liegend sich ausruhten. Alle trugen irgendeinen Koffer, Rucksack oder Tasche und was auch darin war, es schien schwer zu sein. Auch den Mann in grau erkannte ich unter ihnen, er war noch am Fuße des Hügels und kämpfte sich im rutschigen Gras die ersten Meter hoch.

„Guten Abend!“, ertönte eine Stimme neben mir am Waldrand. Eine junge Frau, vielleicht 25, kam mit lächelndem Gesicht auf mich zu. Nicht nur sie war hier am Rand, mindestens vier weitere Personen standen rechts von mir, etwa 40 Meter entfernt, unter den letzten Bäumen. Ein kleines Zelt war dort aufgestellt worden und grelle Scheinwerfer, die den gesamten Hügel beleuchteten.
„Was ist denn das alles hier?“, fragte ich etwas stammelnd, als die Frau vor mir stand.
„Was genau meinen Sie?“, fragte sie immer noch freundlich lächelnd zurück.
„Die Leute, warum klettern die den Hügel hoch?“, fügte ich hinzu.
Sie sah mich ein paar Sekunden lachend an und sagte dann: „Wenn Sie herausfinden wollen, was ganz oben ist, müssen Sie schon selbst hinaufsteigen.“
„Können Sie es mir nicht einfach sagen?“
„Ich weiß es leider auch nicht und kenne auch niemanden, der es weiß.“
Das alles wurde mir etwas zu seltsam. Mir war zwar nicht nach Anstrengung, aber zugeben wollte ich das nicht und neugierig war ich auch, also meinte ich halbherzig:
„Na gut, dann klettere ich eben hoch.“
„Sehr schön! Aber wo ist denn ihre Tasche?", bemerkte sie mit einer Stimme, so herablassend, wie die, wenn man zu Kindern spricht.
„Welche Tasche?“, wunderte ich mich.
„Sie brauchen eine Tasche, Koffer, Rucksack oder etwas Ähnliches – das ist die Regel!“
„Und was soll da drin sein?“
„Was sie möchten, Hauptsache schwer. Je schwerer, desto besser.“
„Das ist doch Blödsinn. Warum denn das Zeug da hoch schleppen?“, fragte ich nun genervt.
„Tut mir leid, aber das ist nun einmal die Regel“, antwortete sie, ohne auch nur einmal ihr Lächeln zu verlieren.
„Ohne mich! Da hab ich besseres zu tun“, meinte ich trotzig und drehte mich von ihr weg, in die Richtung aus der ich kam, schaute nochmal zum Hügel, schüttelte verärgert den Kopf und machte mich auf den Weg zurück.
„Auf Wiedersehen!“, rief die Frau mir hinterher, was ich im Wald kaum mehr hörte, doch ich war mir sicher, dass sie dabei lächelte.

Ich weiß nicht mehr, wo ich öfters fluchte, im Wald, in dem ich mich mehrfach verlief, bis ich endlich rausfand oder auf dem matschigen Feld, das gefühlt zur Hälfte an meinen Schuhen klebte, als ich zu Hause ankam. Auf jeden Fall war ich erschöpft und da es schon spät war, beschloss ich Schlafen zu gehen. Ich zog mich aus, stellte die Schuhe in eine Ecke, in der noch Platz war, wusch mich und kämpfte mich durch Mengen von Abfall, Kartons, Kleidung und Zeug, von dem ich nicht einmal sicher war, was es ist, bis ich bei meinem Bett angelangte und mich sogleich reinfallen ließ. Ich dachte, ich würde schnell einschlafen können, doch lag ich wieder einmal stundenlang wach. Nur dieses Mal war es nicht meine innere Stimme, die mich durch ihr Klagen wachhielt. Dieses Mal war es dieser seltsame Hügel, der mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte.
„Was ist denn nur da oben?“, flüsterte ich in die Dunkelheit. Ich wusste selber nicht warum, aber ich wollte es unbedingt wissen. Ich grübelte und grübelte. „Das ist doch alles dumm“, sagte ich dann plötzlich unerwartet laut, sprang auf, und machte Licht. Ich kramte einen alten Koffer unter meinem Bett hervor und blies den Staub runter. „Was soll’s, morgen gehe ich da hoch und dann habe ich meine Ruhe wieder“, presste ich wütend durch die knirschenden Zähne hindurch und packte, wie im Rausch, alles Mögliche, was mir zwischen die Finger kam, und steckte es in den Koffer. „Dummes, grinsendes Mädchen!“, dachte ich mir. „Und dummer, alter, grauer Mann!“ Ich steckte leere Flaschen rein, dreckige Kleidung, Bücher von der Universität, die ich kaufte und nie las, die Beatles-CD, die ich seit meiner Kindheit so gern hörte, das Armband, das ich meiner Freundin schenken wollte, bevor sie mich verließ, die Süßigkeiten vom letzten Ostern, das Sterbebild meines Vaters, das immer noch neben meinem Bett auf dem Nachtkästchen lag, die gerissene Gitarrenseite, das Holzkreuz, das noch vom Vorbesitzer an der Wand hing, und den Pullover, der mir zu klein wurde. „Das muss reichen“, keuchte ich und stopfte verschwitzt den Koffer zu, warf ihn vor die Tür und konnte kurz darauf endlich einschlafen, mit dem Gedanken im Kopf, dass ich morgen auf den Hügel steigen würde.

Ja und heute bin ich hier, neben all den anderen auf dem Hügel. Von hier sehe ich auch den Mann in grau, der seine Last etwas über mir noch immer schleppt. Zugegeben, es ist anstrengend, ich schwitze in der Herbstsonne sehr. Aber ich denke, ich verstehe es jetzt. Ich will nicht einmal wirklich wissen, was sich ganz oben befindet. Ich trage meinen Koffer, um meinen Koffer zu tragen – nicht mehr, nicht weniger. Und ich muss sagen, so gut habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Endlich ist die Leere in meinem Bauch weg. Das einzige, was ich vielleicht etwas bereue, ist, dass ich nicht noch mehr eingepackt habe.

 
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Hallo lakita,

es freut mich, dass dir Teile der Geschichte gefallen!

Insoweit kannst du dir sicherlich vorstellen, dass mich das Ende also die Auflösung nicht soooo vom Hocker gehauen hat. Aber immerhin reicht die Spannung ziemlich weit.

Stimmt, die Auflösung ist sehr kurz und sagt wenig. Dann hat es wohl nicht funktioniert, der Geschichte etwas Mysteriöses und Symbolisches dadurch mitzugeben?! :D

Heutzutage kennt ja praktisch jeder jeden Ort und da muss nicht mehr erklärt werden, wie ein Berg aussieht oder ein Strand sich anfühlt.

Guter Punkt!

Muss ich deinen Titel so wortwörtlich verstehen? Dass du deinem Ich-ERZÄHLER einen Lebenssinn verpasst, womit er sich aber nur ausstatten kann, wenn er etwas Sinnloses tut?
Netter Umkehrschluss in deiner Geschichte.

Interessanter Gedanke! Aber trifft nicht ganz das, auf was ich hindeuten wollte (aber wohl nicht gut genug gemacht habe). Mit Sinn hat es zu tun, aber auch spielt die eigene Last und das Bergaufkämpfen mit der Last eine wichtige Rolle, und auch der Gedanke, dass das Sinnlose nie wirklich sinnlos ist.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob es für oder gegen meine Geschichte spricht, dass jeder eine andere interessante Interpretation hat und ich vielleicht doch, in diesem Aspekt, genug die Hand des Lesers geführt habe (zumindest für diesen Zweck). Doch könnte man das wahrscheinlich auch über jede noch so kryptische Geschichte sagen und sie damit schönreden. :D

Gruß zurück

Brom

 
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Hallo GoMusic!

Hat mir gut gefallen.

:)

In manchen Kritikpunkten von dir erkennt man, wie aufmerksam du die Geschichte gelesen hast.
Hier:

Ich dachte, es sei schon alles dunkel?

Oder auch hier:
"aber" passt nicht, weil es ja auch jedoch" bedeutet. "verfallen, jedoch billig" beißt sich.

Nimm es mir nicht übel, dass ich nicht zu jeden deiner Anmerkungen etwas kommentiere, denn sonst würde da zu oft "stimmt", "guter Punkt" oder "wie doof von mir stehen". :D

Aber lass dir gesagt sein, dass ich sehr dankbar für deinen großen Zeitaufwand bin, und dafür, dass du mir hilfst, mein Schreiben zu verbessern. Doch auch dafür, dass du zwischendurch Dinge anmerkst, die dir gefallen haben, um mich aufzuheitern, oder mich nicht ganz doof dastehen zu lassen. :D

Grüße zurück

Brom

 

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