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Der Schrei
„Sie müssen aufpassen, dass Ihnen die Sache mit Ihrem Hobby nicht aus dem Ruder läuft. Warum entspannen Sie sich nicht mal? Verreisen Sie, gehen Sie wandern. Das wird Ihren Nerven guttun“, hatte mir meine Psychologin geraten, und da war ich nun, in einem Örtchen an der Westküste Irlands.
In den ersten Tagen kam ich allmählich zur Ruhe. Morgens hielt ich ein Schwätzchen mit Mrs. O’Donnell bei einem deftigen Irish Breakfast mit Rührei, Bacon, Sausages und Porridge. Danach wanderte ich Kilometer um Kilometer die malerische Küste entlang und durch stille Orte abseits des Weltgeschehens. Ich erinnere mich an einen dreibeinigen Hund, der mir entgegenhumpelte. Ein Radfahrer hielt an, als ich auf einer Steinbrücke rastete. „Oh, from Germany, great! Welcome to Ireland!“ Ich entdeckte eine kleine Bucht, wo ich nachmittags gerne auf einem Felsbrocken saß und meine Beine ins Wasser baumeln ließ. Die Tage klangen im „Old Henry“ mit Live-Musik bei einem Guinness aus. Die Nächte waren angefüllt mit tiefem, traumlosem Schlaf und morgens fühlte ich mich, als wäre ich gerade einem Jungbrunnen entstiegen. Doch nach ein paar Tagen wurde ich wieder rastlos.
Im Stillen verfluchte ich meine Sammelleidenschaft, oder sollte ich sie nicht besser Sucht nennen? Ja, eine Sucht ist es, dieses zwanghafte Suchen nach Menschen mit merkwürdigen Passionen, um die Begegnung mit ihnen für meine Sammlung zu dokumentieren. Wie im Fieber streifte ich durch die Küstenorte und beobachtete abends im Pub die Gäste.
Vorbei war es damit, meine freien Tage unbeschwert zu genießen, aber ich fühlte auch gleichzeitig mein Blut schneller in den Adern pulsieren. Es war dieses Gefühl, das mich bisher noch nie getäuscht hatte. Ich stand kurz vor dem Moment, in dem ich fündig werden würde.
Dieser Moment kam eines Tages, als ich an der Steilküste des „Ring of Kerry“ entlangwanderte. Bleigraue Wolken bedeckten den Himmel und hingen tief herab, als wären sie entschlossen, auch die wenigen noch vorhandenen Farben auszulöschen. Linker Hand begrenzte steiler Fels den Weg, rechter Hand erstreckte sich tief unter mir die spiegelglatte See. In der Ferne konnte ich im Dunst die Plasketts ausmachen. Mit ihren kahlen Rücken wirkten sie wie abtauchende Meeresungeheuer. Nur einige dicke Steinbrocken trennten mich vom Abgrund. An einem dieser Steinbrocken bemerkte ich hinter einer Biegung einen alten Mann. Er trug derbe Stiefel, Regenhose und -jacke und die unvermeidliche Schirmmütze. Damit sah er wie ein Fischer aus, aber das blasse Gesicht passte nicht zu seinem Aufzug.
Ich blieb stehen.
Der Mann stand dem Meer zugewandt da und hatte die Hände in die Seiten gestützt. Seine Stirn war gerunzelt, der Mund weit aufgerissen. Die Augen hielt er geschlossen. Er stand reglos und seine ganze Erscheinung machte den Eindruck völliger Selbstversunkenheit. Die Selbstversunkenheit eines Klaviervirtuosen in den Sekunden, bevor der erste Ton durch den Saal hallt.
Es fiel mir schwer, den Mann zu stören, aber ich musste einfach. Nach einigen Minuten des Schweigens räusperte ich mich.
Der Mann reagierte nicht und so sprach ich ihn an: „Entschuldigen Sie bitte.“
Endlich erwachte er aus seiner Versunkenheit und drehte sich zu mir. Ärger spiegelte sich in seiner Miene.
„Darf ich fragen, was Sie da tun, Mister?“, fragte ich.
Der Alte schwieg und ich dachte schon, er würde nicht antworten, doch schließlich entgegnete er: „Geht Sie zwar nichts an, Mister, aber ich stelle einen Schrei her.“
Meinen Körper überlief es prickelnd wie von tausend Ameisenbissen. Da war es wieder, dieses Gefühl, das ich brauchte wie ein Süchtiger die Nadel. Aber ich musste mehr wissen!
„Einen Schrei? Das ist doch ganz einfach“, sagte ich und stieß einen Schrei aus.
Der Mann verzog seine Lippen zu einem abfälligen Lächeln. „Das kann jeder. Keine Seele, kein Gefühl! Nichts daran ist echt!“
„Aber wie soll denn Ihr Schrei aussehen, ich meine aushö..., äh – sich anhören?“ Vor lauter Aufregung verhaspelte ich mich.
Der Alte reckte sich. „Schreie zu produzieren, das ist Kunst, Mister“, sagte er. „Und ich will ein Meisterwerk herstellen, eine Mischung aus Angst und Überraschung. Und einer kleinen Prise Wut. Nicht zu schrill, sonst wäre es ein Entsetzensschrei. Aber auch nicht zu dumpf. Es soll ja kein Stöhnen sein. Aber das Allerwichtigste: Er muss vollkommen echt wirken – wie jedes gute Kunstwerk. Ich versuche schon seit Stunden, das hinzukriegen.“
Der Alte war richtig aus sich herausgegangen. Ich merkte ihm die Leidenschaft des Künstlers an. Wieder einmal hatte ich gefunden, wonach ich gesucht hatte. Aber etwas fehlte. Einen möglichst echten Schrei wollte er herstellen? Ich könnte ihm helfen, schoss es mir durch den Kopf.
Ich sah mich zu ihm treten, ihm einen kräftigen Stoß versetzen …
… und hätte es um ein Haar getan. Erschrocken stand ich vor dem Abgrund, der sich plötzlich in mir auftat. Hatte ich wirklich mit der Möglichkeit gespielt, nur um einen möglichst echten Schrei zu erzeugen? Das war doch verrückt! Was würde meine Psychologin dazu sagen?
Stattdessen stellte ich mich neben den Alten, drehte mich zum Meer und stemmte wie er die Hände in die Seiten. Ich konzentrierte mich. Die Wespe, die mich neulich gestochen hatte, fiel mir ein.
„Was halten Sie davon?“, fragte ich und stellte einen Schrei her, der in meinen Ohren sehr echt klang.
Der Alte wiegte den Kopf. „Ein Schmerzensschrei, oder nicht?“, meinte er. „Short and sweet. War das ein Mückenstich? Sie müssen mehr Inbrunst in den Schrei legen, die Tonlage variieren. Hören Sie mal!“
Sein Schrei klang gehaltvoller, das konnte selbst ich mit meinem ungeschulten Ohr hören. Ja, das war der Stich einer Wespe, wenn nicht sogar der einer Hornisse.
Ich versuchte es ihm nachzumachen und wir übten eine Weile. Dann hatten wir beide genug. Zusammen machten wir uns auf den Weg in den nächsten Pub, um unsere Kehlen für noch mehr Schreie zu ölen.
Sein Meisterwerk hat der Alte an diesem Tag nicht hergestellt. Doch manchmal, nachts in meinen Träumen, reißt er die Augen weit auf, stolpert einen Schritt zurück und sein Fuß tritt ins Leere. Er rudert mit den Armen, verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich stehe erschrocken vor dem Abgrund. Dann höre ich den Schrei – eine aufregende Mischung aus Angst, Überraschung und Wut – und so echt.