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Der Schneckenbaum
„Ach ja!“, seufzt Erwin und streicht Greta liebevoll über den Arm. „Das waren gute Zeiten damals.“
Greta schaut kurz auf, nickt, lächelt versonnen. „Ja, Erwin. Das waren sie.“ Mit einem verzagten Lächeln widmet sie sich wieder ihrer Arbeit und schält weiter die Kartoffeln. Lose verstreut liegen die noch zu schälenden auf dem Tisch unter dem Apfelbaum. Erdklümpchen fallen von ihnen ab.
Einige Schnecken sind in der Nacht am Baumstamm hochgekrochen und suchen nun Schutz in der schattigen Krone. Sanft, im Rhythmus des Windes, tanzen die Schatten der Blätter auf der Tischdecke. Es ist ein ruhiger Vormittag. Friedvoll. Die Luft ist schwer vom Duft des Flieders und es ist zu erahnen, dass es wieder ein sehr heißer Tag wird.
Erwin beobachtet eine Biene. Lauscht ihrem Summen. Damals, als er Greta kennenlernte, trug sie ein zitronengelbes Kleid mit kleinen hellblauen Blüten bedruckt über ihrem Badeanzug. Ihr helles Lachen war über den ganzen See zu hören. Ihr Haar leuchtete in der untergehenden Sonne golden. Es lag ein Zauber über allem. Keiner der Freunde wollte nach Hause gehen, obwohl es bereits dämmerte. So wurde ein Lagerfeuer entzündet und alle versammelten sich darum. Schon bald fanden sich ihre Blicke und ließen einander nicht mehr los. Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich fort. Ihre Haut roch nach Sonnenmilch, der Badeanzug nach Seewasser.
Das ist fast ein halbes Jahrhundert her.
Greta legt die nächste Kartoffel in den Topf mit Wasser. Sie ist nur halb geschält und Reste der Erde lösen sich langsam im Wasser ab. Es ist schon ganz braun. Erwin wendet schnell den Blick ab. „Ich mache uns einen Tee, Greta!“
Er geht in die Küche und bereitet das Teegeschirr vor. Tassen, Löffel, Filter in die Kanne. Wasser kochen. Früher hat Greta das immer getan. Er stützt sich am Herd ab.
Damals, als ihr Kind viel zu früh geboren wurde. Als die Ärzte sagten, er würde es nicht schaffen, ihr Sohn, der Peter. Damals saß sie wochenlang neben seinem Bettchen, mit all den Schläuchen und Apparaten. Klein, rosa und unfertig lag er da. Und sie wachte über ihn. Tag und Nacht. Sie gab ihn nie auf, dachte nicht mal daran, kämpfte um ihn. Bis dieses Würmchen, ihr Peter, wohl eines Tages beschloss, eben doch ein fertiges Baby zu sein und überlebte.
Er blickt durch die Fensterscheiben in den Garten, wo eine alte Frau Kartoffeln schnitzt. Seine Nase wird rot und er muss sich heftig die Augen reiben. Einen verzweifelten Schluchzer kann er nicht unterdrücken. Tränen tropfen auf die Tassen.
Nächtelang hat er wachgelegen und darüber nachgegrübelt, ob es richtig sei.
Der Arzt hatte ihnen den Verlauf der Krankheit genau geschildert. Sie wussten, was sie erwartet. Er gab ihr sein Versprechen.
Er liebt sie so sehr! Doch dieser hilflose, ängstliche Blick: das ist nicht seine Greta. Das ist sie nicht!
Das Pfeifen des Teekessels holt ihn aus seinen Gedanken zurück. Er reibt sich das Gesicht trocken. Heute erst hatte er ihm geschrieben, seinem Sohn, dem Peter, der inzwischen mit eigener Familie glücklich im Westen lebt. Auch ihn liebt er.
Mit leisem Klappern stellt Erwin das Teegeschirr auf einem Tablett zusammen. Es ist ein helles Klappern, klingt fast fröhlich. Er hat alles vorbereitet.
Zurück im Garten umfängt ihn wieder dieser Frieden. Die Blätter rascheln im Wind. Die Schnecken haben einen kühlen Platz am Baumstamm gefunden und sich ins Häuschen zurückgezogen. Greta schält emsig die Kartoffeln. Es sind nur noch wenige übrig. Erwin stellt dass Tablett zwischen die Erdklümpchen, die von den Kartoffeln abgefallen sind, auf den Tisch und schenkt beiden ein.
Dann lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, so dass ihm die Sonne ins Gesicht scheinen kann und schließt die Augen. „Ich habe Peter einen Brief geschrieben", murmelt er müde.
„Wer ist Peter?“, fragt Greta mit überraschtem Blick.
„Trink noch einen Schluck Tee, mein Liebes!“, beflissen wie ein braves Kind nimmt Greta die Tasse und trinkt sie leer.
Die Schatten tanzen über die Tischdecke. Eine kleine Schnecke fällt vom Baum.
Greta sackt ganz leise neben Erwin zusammen. Ihre Hand öffnet sich, und das Schälmesser fällt zu Boden. Erwin schließt sie in seine Arme und streicht ihr wie einem schlafenden Kind über die Wange. Dann trinkt er den letzten Schluck aus seiner Tasse.