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Der Schatz des Nordpols
Sie hatten alle Gänsehaut und eingefrorene Kleider am Körper, als der Tag gerade anfing und die Nacht sie mit kühlen Mondaugen verließ. Ganz still war es am Schiff, man vernahm nur den hastigen Atem der Ruderer, während die Frierenden langsam versuchten, ihre Finger zu bewegen. Sie reisten weiter vom Süden Spaniens auf dem Golf von Biscaya vorbei an Frankreich über den Atlantischen Ozean bis zum Europäischen Nordmeer und segelten bis zum kältesten Punkt der Erde über das Polarmeer.
Pedro García Díaz warf den Frierenden eine Decke zu und zog seine Handschuhe aus. Die Finger waren weiß und die langen gebogenen Nägel glanzlos. Pedro García Díaz’ Blick wandelte über sein Schiff. Die Reisenden hatten durchlöcherte Schuhe an den Füßen und Jacken aus Wildfell um den Körper geschlungen. Die Bewegungen der Ruderer glichen sich der Langsamkeit des Meeres an.
Der Gedanke der Ankunft schlich sich in die Gemüter der Frierenden ein und kribbelte in ihren tauben Gliedmaßen. Die stummen Lippen versteckten sie unter der Decke, nur ihre Augen waren von Unruhe bewegt.
Sie legten am weißen Hafen an und alle am Schiff mühten sich, Fässer heranzubringen. Zwei der stärksten Männer kurbelten an Rädern, die mit starken Tauen verbunden waren, wodurch eine breite Holzfläche ausgefahren wurde und sich dem vereisten Land entgegen bewegte. Ruhig legte sie sich auf die glatte Fläche. Die Fässer rollten herab und verteilten sich gleichsam wie kleine Punkte auf einer unendlichen Leinwand am weißen Untergrund.
Pedro García Díaz deutete mit zwei seiner weißen Fingerspitzen auf die Tür des Unterdecks. Die Frierenden holten Hacken heraus und betraten nun auch den weißen Hafen. Pedro García Díaz beobachtete sie, als sie zuerst in sichelförmigen Bewegungen ausholten, um dann das Eis zu spalten. Der Schnee fiel rein und weich auf die Rücken der Männer – welch beschauliche Last.
Alle Eisstücke wurden in die Fässer verfrachtet und wieder an Deck gebracht. Sie mussten eilen, um früh genug fortsegeln zu können. Nicht nur Pedro García Díaz’ Frau wartete auf ihre Ankunft und das Erscheinen der Ware, auch die Frauen der Reisenden und Frierenden saßen häkelnd oder strickend in Gärten, Küchen oder Wohnzimmern. Manch eine mochte vielleicht gerade das Kind zu Bette bringen oder aber auch mit einem Korb frischen Brotes in das Haus kommen und den Nachwuchs zum Frühstück rufen. Der Gedanke an ihre Frauen pulsierte hinter den Augen der Frierenden und ihre Hände rollten die gefüllten Fässer immer schneller zurück auf das Schiff.
Nun reisten sie weiter vom kältesten Punkt Erde auf dem Polarmeer, überquerten das Europäische Nordmeer, segelten weiter am Atlantischen Ozean vorbei an Frankreich auf dem Golf von Biscaya bis zum Süden Spaniens.
Grübchen flüchteten sich in braune Kindsgesichter und Frauenwangen. Der Augenblick des Umarmens und der Freudentränen verlief zu einer Weile.
Nun brachen sie die Fässer auf. Nicht mehr länger warten auf die Schätze des Nordpols, die Naturdiamanten aus bloßer Kälte. Pedro García Díaz küsste seine Frau und führte sie zu den Fässern. Sein Kind nahm er auf die Schultern; kleine Finger kreisten im schwarzen Haar. „Padre, der Schatz ist ertrunken!“ Das Kind kletterte von den Schultern und durchsuchte das Wasser, doch die Hände fanden den Schatz nie mehr.