Was ist neu

Der Schatten des Krieges

Challenge 3. Platz
Challenge 3. Platz
Seniors
Beitritt
08.07.2012
Beiträge
896
Zuletzt bearbeitet:

Der Schatten des Krieges

Es begann wie immer mit einem Pfeifen, hoch oben im wolkenverhangenen Himmel. Einer der Leutnants rannte umher, brüllte Befehle. Die Mannschaften stürzten aus den Zelten und warfen sich in die morastigen Schutzgräben. Dann trat ein eigenartiger Moment transzendenter Stille ein. Erik Brandt wusste nicht, ob er sich diesen Moment lediglich einbildete, aber es war, als käme noch einmal alles zur Ruhe, als gäbe das Universum den Menschen Gelegenheit, einen letzten Blick auf ihr Leben zu werfen und auf das, was sie verloren hatten.
Als die Sprenggeschosse einschlugen, erbebte die Erde unter der Wucht ihrer Detonationen. Das Bollern der Mörser mischte sich mit dem Fauchen der Granaten, die von Feldgeschützen in flachem Bogen heranzischten. Erdreich wurde meterhoch in die Luft geschleudert, prasselte auf die Sturmhelme der Infanteristen. Der Feind verstärkte das Artilleriefeuer, und das Getöse explodierender Zwei-Zentner-Wurfminen rollte mit solchem Druck über die Männer hinweg, dass einige von ihnen Blut spuckten. Maschinengewehrbeschuss fegte über die Stellung, zerfetzte die hölzernen Schanzbauten. Schrappnelle hagelten herab – Kreischen, Donnern, Blutgeruch. Rauchwolken, orangefarben angestrahlt vom Flackern der in Brand geschossenen Unterstände.
»Rückzug!«, gellte die Stimme des Leutnants durch das Chaos. »Sammeln bei letzter Verteidigungsposition.«
Die Männer sprangen auf. Brandt glitt aus, schlug der Länge nach in den Graben. Jemand riss ihn hoch. Flucht in gebückter Haltung, im Rücken, lauter werdend, das Knirschen berstender Schanzwände – ein Schauer von Holzsplittern jagte durch die Kampfstände.
»Rückzug! Rückzug!«
Und dann – die Männer sprangen, rollten, wälzten sich über die rückwärtigen Deckungswälle – der Feind. In breiter Schützenlinie heranrückend, aus Sturmgewehren und Repetierern feuernd. Brandt hob seine Waffe an die Schulter und schoss in stummer Verzweiflung.


Er umklammerte den Griff seiner Pistole, starrte auf die Tür und lauschte. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Zehn Minuten vielleicht. Oder auch eine Stunde. Er glaubte, noch immer das Echo der Schüsse zu hören. Er musste raus aus diesem Zimmer, raus aus der Siedlung. Er musste …
Als die Dämmerung einsetzte, trat Brandt ans Fenster und spähte hinunter auf die menschenleere Straße. Er schob die Fünfundvierziger in das Holster an seinem Gürtel, schaute sich um. Schränke und Schubladen standen offen, der Hausrat lag auf dem Boden verteilt. Bettwäsche, Handtücher, Kleidungsstücke und Geschirr.
Brandt zog das Messer aus dem Stiefel. Nachdem er ein Laken in Streifen geschnitten hatte, durchsuchte er eine hölzerne Truhe, einen Nachttisch, eine Kommode. Er schlich ins Badezimmer. Auch hier war bereits das meiste geplündert worden. Doch in einem Schubkasten des Spiegelschränkchens fanden sich zwei Aspirin, eine Nagelschere und ein Päckchen Heftpflaster.
Glasscherben knirschten unter den Stiefelsohlen, als er in den Flur trat. Im Obergeschoss des Hauses gab es drei Zimmer. Er würde sie durchsuchen, sich dann die untere Etage vornehmen und schließlich den Keller.
Im letzten Licht des Tages stand Brandt am Küchentisch und betrachtete die Dinge, die ihm das Leben retten konnten – darunter eine Taschenlampe, ein Kochtopf, Nähzeug, Panzerband, zwei Dosen grüner Erbsen.
Noch einmal ging er von Raum zu Raum, blieb vor einem Schrank stehen, den er bereits durchwühlt hatte. Es war ein abgewetzter Koffer aus Schweinsleder. Brandt holte den Koffer heraus, öffnete ihn, kippte den Inhalt aus: abgetragene Kleidung, eine Arbeitsjacke, zwei Herrenhosen mit Gürtel, Unterwäsche.
Er schnitt zwei Löcher in den Koffer, zog den Gürtel aus einer Hose, fertigte einen provisorischen Tragegurt und ging wieder in die Küche. Nachdem er alle Sachen verstaut hatte, hievte er sich den Koffer auf den Rücken, justierte den Tragegurt. Er öffnete die Haustür, schaute die Straße hinunter, und dann umgab ihn die Nacht.


Im Licht des Mondes wirkte die Welt wie erstarrt. Da war keine Bewegung, kaum ein Laut, nur das Geräusch des Windes, der durch die Blätter der Apfelbäume strich. Brandt kniete im Sickergraben neben der Straße und zitterte. Bis zum Waldrand mochten es zweihundert Meter sein. Zweihundert Meter über offenes Feld.
Er holte Luft, sprang auf und rannte los. Der Koffer auf seinem Rücken schlug ihm ins Kreuz. Die Stiefel sanken in den Ackerboden, jeder Atemzug brannte in der Brust. Still und abweisend stand der Wald wie eine schwarze Wand vor ihm.
Als der Schuss durch die Nacht krachte, kippte Brandt vornüber ins Feld. Eine Weile lag er bewegungslos im Mondlicht. Irgendwann hörte er Schritte, dann wurde es wieder still. Erst jetzt biss der Schmerz in seine linke Schulter.
Hinter ihm, nur ein paar Meter entfernt, knarrte das harte Leder von Stiefeln. Brandt wälzte sich herum und feuerte. Eine schlanke Gestalt sank zu Boden. Brandt stemmte sich hoch. Die Pistole im Anschlag machte er ein, zwei Schritte. Als er das blasse Gesicht des Jungen sah, hockte er sich zu ihm. Während seine Augen die Umgebung absuchten, tastete er an der Halsschlagader nach dem Puls. Nichts.
Brandt ergriff das Jagdgewehr, eine Repetierbüchse in schlechtem Zustand. Er entsicherte, öffnete den Verschluss. Keine Patrone in der Kammer, das Magazin der Waffe leer. Auch in Jacke und Hosen des Jungen fand sich keine Munition. Da war nichts bis auf eine Plastikflasche mit etwas Wasser, ein Päckchen Streichhölzer, ein wenig Tabak und zwei selbstgedrehte Zigaretten. Brandt nahm alles an sich, zog dem Toten die Strickmütze vom Kopf, und eine Minute später verschluckte ihn der Wald.


Harte Schatten und Kanten in Brandts Gesicht – im Schein des Reisigfeuers bandagierte er die Schusswunde. Nachdem er Kompressen auf dem Ein- und Austrittsloch der Kugel platziert hatte, zog er die in Streifen geschnittenen Stofffetzen fest um die Schulter.
Er streckte die Hände über dem Feuer aus, das in einer Erdmulde knisterte, und starrte in die Flammen. Seit dem ersten überraschenden Angriff hatte er nur reagiert, war gerannt, geflüchtet, hatte sich versteckt. Die Stimme in seinem Kopf, das war jetzt der Soldat, der Fernspäher, der Einzelkämpfer. Bring dich in Sicherheit, sagte sie. Überlebe!
Der Ruf einer Eule schreckte ihn auf. Doch es war nicht das Iuuh, Iuuh des Nachtvogels, das ihn beunruhigte. Es schien, als sei mit dem Schrei der Eule etwas erwacht - in den Tiefen des Waldes jenseits des Feuerkreises regte sich ein Wille.
Brandt sprang auf, zog die Waffe und machte ein paar Schritte weg vom Feuer, hinein in Dunkelheit. So stand er in der Kälte der Nacht, roch das Harz der Kiefern, ließ den Blick über die vom rötlichen Flackerlicht erleuchteten Bäume und Büsche schweifen. Das Visierkorn der Pistole strich über die Stämme von Föhren, Birken und Eschen, über Weißdornbüsche, über Schlehe und Ginster.
Das Lagerfeuer war beinahe erloschen. Tiefe Stille lag jetzt über allem, nur hin und wieder knackte ein Zweig in den letzten Flammen. Allmählich zerflossen die Konturen des Waldes. Brandt visierte über seine Waffe hinweg in die Finsternis.
Dann sah er die Kreatur. Im Glutschein des ausgebrannten Feuers trat sie aus der Schwärze und fixierte Brandt mit kaltem Blick. Er würgte, spürte, wie sich Wasser in seinem Mund sammelte, spürte den Brechreiz, das Rumoren in den Eingeweiden. Die Pistole krachte und – alptraumhaft verlangsamt – wankte er zurück, feuerte, sah, wie der Verschluss der Waffe eine Hülse nach der anderen herausschleuderte, hörte das dumpfe Hämmern der Fünfundvierziger.


Mit erhobenen Händen trat er aus dem Dickicht. Das blonde Mädchen hinter dem Ziehbrunnen richtete die Schrotflinte weiterhin auf ihn. Es wartete, bis er sich auf zehn Schritte genähert hatte und sagte dann mit fester Stimme: »Hinknien! Hände oben behalten.«
Brandt kniete sich ins Gras. Der Himmel lastete wie ein grauer Block über ihnen. Wolkenfetzen trieben niedrig dahin.
»Du siehst übel aus«, sagte das Mädchen schließlich. »Hast du gekämpft? Wirst du verfolgt?«
Brandt deutete mit dem Kinn auf den Brunnen. »Ich will nur etwas Wasser.«
»Folgt dir jemand?«, fragte das Mädchen erneut, diesmal mit mehr Nachdruck.
Brandt schüttelte den Kopf. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, sagte er: »Ich bin Erik, Erik Brandt. Wie heißt du?«
Er spürte, dass sich die Platzwunde über der rechten Schläfe wieder geöffnet hatte. Aus ihr sickerte warm das Blut, und ein Pochen hinter der Stirn setzte ein.
»Jenny«, sagte das Mädchen, und sie sagte noch mehr, doch ihre Worte vermischten sich mit einem Rauschen, das stärker und stärker wurde.


Als Brandt die Augen öffnete, blickte er in den Lauf einer Pistole.
»Die brauchst du nicht«, sagte er. »Ich werde dir nichts tun.«
Jenny saß rittlings auf einem Stuhl und richtete seine Fünfundvierziger auf ihn.
Brandt setzte sich im Bett auf und schaute sich in dem schäbigen Zimmer um. Außer dem Bett, dem Stuhl und einem niedrigen Tisch gab es keine Möbel. Die beiden Fenster waren mit Zeitungen und Lumpen verdunkelt, eine Gaslaterne, die in der Ecke am Boden stand, warf ein trübes gelbliches Licht in den Raum.
In diesem Licht wirkte Jennys Gesicht blass und schmal. Mit geröteten, müden Augen schaute sie Brandt an.
»Deine Wunde an der Schulter sollte genäht werden«, sagte sie.
»Hm.«
»Ich habe sie mit Salzwasser desinfiziert, auch die anderen Verletzungen versorgt ...«
»Danke.«
Brandt betrachtete Jennys Gesicht und fragte sich, ob sie ihn mit einer leeren Waffe bedrohte oder inzwischen nachgeladen hatte.
»Ich kann die Wunde nähen«, sagte er. »Aber ich habe mein Med-Kit verloren.«
»Ich werde sie nähen«, sagte Jenny. »Aber vorher müssen wir was klären.«
Brandt nickte.
»Ihr Männer glaubt, dass wir schwach sind.« Jenny presste die Lippen zusammen, und einige Minuten lang sagte niemand ein Wort.
»Wenn du irgendwas versuchst«, fuhr sie schließlich fort, »töte ich dich.«
»Okay«, sagte Brandt.
»Sag nicht okay«, erwiderte Jenny, und ihre Stimme klang rau. »Schau mich an.«
Brandt betrachtete ihre schmalen, grünlich schimmernden Augen. »Ich töte dich«, sagte sie noch einmal.


Am nächsten Morgen kontrollierte Jenny den Zustand der Wunde. Brandts Pistole steckte im Holster an ihrem Gürtel.
»Die Naht ist gut«, sagte sie und griff nach der Notfalltasche, die auf dem Tisch lag. »Das wird heilen, aber du darfst dich nicht zu viel bewegen.«
»Hm.« Brandt knöpfte das Hemd zu. »Als ich gestern beim Brunnen umgekippt bin, wie hast du mich hierher gebracht?«
Jenny kaute auf der Unterlippe und schwieg. Sie sortierte Bandagen, Kompressen und eine Rettungsschere in die Fächer des Med-Kits.
»Ist das ein Geheimnis?«, fragte Brandt.
»Ich hatte Hilfe«, sagte sie schließlich.
»Ja?«
Jenny schloss die Notfalltasche. »Wir reden später darüber«, sagte sie. Und dann: »Willst du rauchen?« Sie griff in die Seitentasche ihrer Cargohose und holte die Zigaretten und Streichhölzer hervor, die Brandt dem toten Jungen abgenommen hatte.
»Wo ist mein restliches Zeug?«
»Ist sicher verwahrt. Du kriegst es zurück.«
Brandt steckte sich eine Zigarette an und rauchte.
»Was soll der dämliche Koffer?«, fragte Jenny. »Gibt´s keine Rucksäcke mehr bei der Army?«
Brandt sah sie an, sagte aber nichts.
»War mir gleich klar, als ich dich gesehen habe: die Tarnklamotten, das Stiefelmesser, die Armeepistole … Bist du von der Front geflohen?«
»Von der Front?«, wiederholte Brandt.
»Von welcher Einheit bist du?«, fragte sie. »Pioniere? Fallschirmjäger?«
Brandt nahm einen Zug und blies Rauch unter die schimmlige Zimmerdecke
»Erst Fernspäher, dann Jagdkommando«, sagte er. »Du kennst dich in diesen Dingen aus?«
Jenny nickte. »Mein Vater war Sanitäter bei den Fallschirmjägern.«
»Hast du von ihm gelernt, wie man Wunden näht?«
»Nicht nur das.« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann schloss sie den Mund und schwieg.
»Wie alt bist du?«, fragte Brandt. »Sechzehn? Siebzehn?«
»Alt genug«, antwortete Jenny. Und mit einem sonderbaren Blick fügte sie hinzu: »Heute sind alle alt genug.«


Elias stand am gusseisernen Herd, als Jenny und Brandt die Küche des Hauses betraten. Der alte Mann begrüßte sie mit einem Nicken und sagte: »Setzt euch. Ich habe Tee gekocht.«
Tatsächlich. Das Aroma von schwarzem Tee hing in der Luft. Elias bemerkte Brandts Überraschung. »Jenny hat vor ein paar Tagen einen verlassenen Bunker entdeckt«, sagte er. »Die Vorräte werden sehr nützlich sein.«
»Das sollten Sie besser für sich behalten«, erwiderte Brandt.
»Tja«, sagte Elias, »da haben Sie wahrscheinlich recht.«
Ein wenig später, als sie zusammen am Tisch saßen und den mit Honig gesüßten Tee tranken, schaute Brandt überrascht auf. Im Herd knisterte das Kochfeuer.
»Was ist?«, sagte Jenny.
»Ich hatte vergessen …«, sagte Brandt, doch dann verstummte er.
Elias trank einen Schluck und räusperte sich. »Also, wir hören so gut wie gar nichts von der Front. Überhaupt vom Krieg. Oder von irgendwas.«
Brandt nickte.
»Die Netze sind zusammengebrochen«, fuhr Elias fort. »Kein Strom, kein Funk ...«
»Nicht mal Radio?«, fragte Brandt.
Elias schüttelte den Kopf. »Naja, anfangs schon. Aber jetzt nicht mehr.«
Brandt rieb sich die Stirn.
»Erzähl schon«, drängte Jenny. »Was ist da los?«
Brandt starrte in sein Teeglas. »Es gibt keine Front mehr«, sagte er. »Es gibt nur noch Chaos und Tod.«
Er berichtete, wie seine Einheit aufgerieben und zerstreut wurde, berichtete von seiner Flucht, dem wochenlangen Campieren im Wald und wie er sich auf der Suche nach einem Kommandoposten durch die Wildnis geschlagen hatte.
»Und dann, als ich eine unserer Siedlungen erreichte, wurde ich angegriffen«, sagte er. »Von unseren Leuten. Zivilisten. Ich warf den Rucksack ab, rannte und versteckte mich in einem Haus.«
Jenny nickte. »In den Städten herrscht Terror - jeder gegen jeden. Und hier ist es nicht viel besser. Keiner weiß, ob die Regierung …« Sie brach ab, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Dieser Krieg«, sagte Brandt gedankenversunken. »Das ist unser Ende.«


Brandt hob den Feldstecher vor die Augen. Jenny hatte ihn eine Stunde lang auf Schleichwegen durch den Wald geführt. Jetzt kauerten sie im Unterholz hinter Brombeersträuchern und schauten hinüber zu einer Scheune, in der bewaffnete Männer ihr Lager errichtet hatten.
»Nachts patrouillieren zwei Wachen«, flüsterte Jenny. »Das ist alles.«
»Wer sind diese Leute?«, fragte Brandt. Im schwächer werdenden Licht der Abenddämmerung konnte er Männer mit Sturmgewehren und Schrotflinten ausmachen. Sie saßen am Lagerfeuer und tranken, spielten Karten oder hantierten mit ihren Waffen. Auf dem Dach der Scheune stand ein Späher mit Fernglas und Repetiergewehr.
»Sie folgen Ruger, einem Mann aus dieser Gegend«, erwiderte Jenny. Plündern, töten, vergewaltigen.«
»Was hast du mit ihnen zu tun?«
»Sie halten Jonathan, meinen Bruder, fest.«
Brandt setzte das Glas ab und schaute Jenny an.
»Ich gehe zwei Mal in der Woche zu ihnen«, sagte sie. »Helfe bei der Versorgung ihrer Verletzten.«
»Und als Gegenleistung …«
»… lassen sie meinen Bruder am Leben.« Jenny schluckte. Dann sagte sie: »Ich gebe dir die Hälfte unserer Vorräte. Dein Zeug und deine Waffen natürlich auch. Hilf mir, meinen Bruder rauszuholen.«
»Dieser Ruger«, sagte Brandt, »ist der jetzt dort?« Er gab Jenny das Glas. Es dauerte nicht lange, bis sie Ruger gefunden hatte.
»Die drei Typen am Feuer«, sagte sie und gab das Fernglas zurück. »Der in der Mitte, das ist er.«
Brandt betrachtete ihn.
»Scheint betrunken zu sein.«
Jenny nickte. »Ja, sie trinken alle viel. Und Ruger ist besonders schlimm.«
Sie stieß Brandt leicht mit Ellbogen an. »Aber das ist unser Vorteil, nicht wahr? Sie sind unvorsichtig.«
Brandt rieb sich das Kinn. »Aber auch unberechenbar«, sagte er.


Elias saß Brandt gegenüber und beobachtete, wie dieser einen Filzstopfen auf das Ende des Putzstocks setzte und die Kontermutter anzog. »Eine schöne Waffe«, sagte er und tippte mit den Fingerspitzen auf den Vorderschaft des Jagdgewehrs.
Brandt nickte. »Aber in erbärmlichem Zustand.«
»Der Vorbesitzer hat es mit dem Reinigen wohl nicht so genau genommen«, sagte Elias. Einen Augenblick lang schauten sie einander in die Augen.
»Es war ein Junge«, sagte Brandt. »Keine sechzehn Jahre alt.« Er beträufelte den Stopfen mit ein wenig Öl, führte den Putzstock durch die Kammer in den Lauf und begann, die Jagdbüchse zu reinigen.
Elias erhob sich, füllte Wasser in den Teekessel, stellte ihn auf die Kochherdplatte.
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte er. »Ich meine, aus dem Jungen?«
Brandt wechselte den Filzstopfen gegen eine Messingbürste, schraubte sie am Putzstock fest und fuhr schweigend mit dem Säubern der Waffe fort.
»In diesen Zeiten ist es schwierig, das Richtige zu tun«, sagte Elias. » … die Werte bewahren, die wir …«
»Ich habe den Jungen erschossen«, sagte Brandt und hielt inne. »Er versuchte, mich zu töten, also erschoss ich ihn.«
Einige Minuten sagte niemand ein Wort. Als das Wasser im Teekessel zu brodeln begann, erwachte Brandt aus seiner Erstarrung, griff nach dem Putztuch und wischte die Patronenkammer der Repetierbüchse aus.
Elias brühte schwarzen Tee auf, ließ ihn ziehen. Nachdem Brandt das Putzmaterial zusammengelegt und verstaut hatte, saßen sie am Tisch und rührten in ihren Tassen.
»Ich hatte vergessen, wie Tee mit Honig schmeckt«, sagte Brandt.
»Ja«, erwiderte Elias. »Geht mir auch so. Es ist nicht mehr viel übrig von der Welt, die wir kannten.«
»Noch mal wegen des Jungen«, sagte Brandt. »Ich wollte das nicht. Töten oder getötet werden, das war´s.«
Elias schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ist es so einfach?«
»Was meinen Sie damit?«
»Als Jenny mich bat, Sie vom Brunnen hierher ins Haus zu schaffen, wusste ich nicht, wer Sie sind.«
»Das ist etwas anderes«, wandte Brandt ein.
»Offen gesagt, Sie machten keinen vertrauenswürdigen Eindruck.«
»Ich war verletzt.«
»Stimmt. Aber wäre es für uns nicht sicherer gewesen, Sie da einfach liegen zu lassen?«
Brandt trank einen Schluck und schwieg.
»Jedes Leben ist kostbar, Erik. Gerade Sie sollten das verstehen, nachdem, was Sie im Krieg erlebt haben.«
Brandt erhob sich. Er ging ein paar Schritte in der Küche auf und ab.
»In der Nacht bevor ich Jenny traf«, sagte er, »da bin ich im Wald einer Kreatur begegnet.«
Elias schaute auf. »Einer Kreatur?«
»Ja, einem schrecklichen … Ding. Einem Monster.«
»Ein Tier? Was war so schrecklich daran?«
Brandt schüttelte den Kopf. Er starrte ins Leere. »Kein Tier. Eine Kreatur mit zerfetztem Gesicht, kalten, grausamen Augen, bösem Blick. Sie … schaute mich an.«
»Und dann?«
»Ich schoss das ganze Magazin leer. Wir kämpften. Dann verschwand das Ding in der Finsternis. Vielleicht habe ich es getötet. Bin nicht sicher.«
Schweigen erfüllte den Raum. Lange Zeit sprachen sie nicht.
»Kann es sein, dass der Krieg Sie verfolgt?«, sagte Elias irgendwann.
»Was meinen Sie? Dass ich Wahnvorstellungen habe?«
»Ich meine, dass der menschliche Geist manchmal besondere Wege geht, um die Welt in der Balance zu halten.«


Jenny zog die Pistole aus dem Holster und legte sie vor Brandt auf den Küchentisch.
»Nimm sie, ist ja deine«, sagte sie. »Wollte sie dir schon gestern geben.«
Brandt ergriff die Waffe, drückte die Magazinentriegelung und zog das Magazin heraus. Eine Patrone. Er entsicherte die Pistole, schob den Verschluss ein wenig zurück und schaute in die Kammer der Fünfundvierziger.
»Ist das alles?«, fragte er. »Zwei Schuss?«
»Tut mir leid, mehr habe ich nicht«, erwiderte Jenny.
»Und deine Schrotflinte?«
»Drei Patronen.«
Brandt schüttelte den Kopf. »Damit schaffen wir es nicht.« Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte.
»In der Scheune gibt es Munition«, sagte Jenny.
»Du willst sie stehlen? Zu gefährlich.«
Jenny griff nach Brandts Zigarette. Sie nahm einen Zug, blies den Rauch langsam aus. »Ich versuche es«, sagte sie.


Stechmücken umschwirrten Brandt, als er seinen Beobachtungsposten am Waldrand bezog. Die Sonne stand bereits im Südwesten, von der Siedlung jenseits des Scheunencamps wehte Fäulnisgeruch herüber.
Brandt schaute durch das Fernglas zum Lager von Ruger und seinen Männern. Von Jenny wusste er, dass Jonathan im hinteren Teil der Scheune festgehalten wurde, wo sich auch zwei von Rugers verletzten Leuten aufhielten.
Auf dem Dach stand wieder ein Schütze mit Jagdgewehr, und zwei weitere Wachen patrouillierten in der näheren Umgebung. Drei oder vier Männer saßen am Feuer.
Brandt verfolgte, wie sich Jenny dem Camp näherte. Sie trug ihre Notfalltasche. Eine der Wachen sprach sie an, und sie wechselten ein paar Worte. Jenny ging weiter, verschwand in der Scheune.
Sie hatten verabredet, dass sie sich beeilen sollte. Nur kurz nach Jonathan und den Verletzten schauen, unbemerkt zwei Schachteln aus der Munitionskiste nehmen, und dann nichts wie weg.
»Wenn du nicht sicher bist, dann lass es«, hatte Brandt ihr eingeschärft. »Dieser Mann …«
»Ruger kann nicht auf mich verzichten«, erwiderte Jenny. »Wer soll seine Leute behandeln, wenn er mich tötet?«
Die Sonne bewegte sich nicht vom Fleck. Die Zeit schien still zu stehen. Brandt schaute vom Tor der Scheune zum Schützen auf dem Dach, zu den Männern am Feuer, zur Sicherungspatrouille und wieder zum Scheunentor. Mücken zerstachen ihm Gesicht und Nacken. Schweiß biss in die Augen.
Endlich! Jenny trat heraus und ging mit leichtem Schritt an den Wachen vorbei. Brandt sah, wie ihr blonder Pferdeschwanz im rötlichen Licht der Sonne wippte. Sie hatte sich fünfzig Meter oder mehr von der Scheune entfernt, als Ruger herausstürzte. Er brüllte etwas, fuchtelte mit seinem Gewehr.
Brandt stockte der Atem. Lauf, flüsterte er. Lauf um dein Leben!
Ruger schwankte. Er riss seine Waffe hoch und feuerte. Das Sturmgewehr knatterte, und Brandt sah, wie hinter Jenny Erde hochspitzte. Sie rannte los.
Die Männer der Sicherungspatrouille hatten noch nicht verstanden, was hier passierte, doch jetzt schrie Ruger ihnen etwas entgegen. Zögernd hoben sie die Gewehre. Auch der Schütze auf dem Dach legte an. Einige Sekunden lang zielte er durch das Glas seiner Repetierbüchse.
Feuerstöße zuckten aus den Sturmgewehren, bereits die ersten Schüsse trafen Jenny, und sie stürzte. Brandt sah, dass sie sich noch bewegte. Dann krachte das Jagdgewehr des Schützen auf dem Dach. Die Kugel zerschmetterte Jennys Hinterkopf.
Brandt ließ den Feldstecher sinken. Das Blut rauschte in seinen Schläfen, als er durch das Dickicht zurück in den Wald kroch. Irgendwann stemmte er sich hoch, es dämmerte schon. Brandt wankte, machte eine paar Schritte, dann setzte er sich wieder, lehnte seinen Rücken an den glatten Stamm einer Buche. Er fuhr sich mit der Hand über das zerstochene Gesicht und wartete auf den Anbruch der Nacht.


Elias und Brandt saßen in der Küche am Tisch. Die eiserne Feuertür des Kochherds klirrte leise im Luftzug. Lange sprach niemand ein Wort.
»Ich werde sie alle töten«, sagte Brandt, als bereits der Morgen dämmerte.
»Rette nur den Jungen«, sagte Elias. »Das ist alles, was zählt.«
Brandt ballte die Fäuste. »Ich muss mich in der Gegend umsehen, ein paar Häuser durchsuchen.«
»Weshalb?«
»Ich brauche Munition, zumindest ein paar Schuss für den Repetierer.«
Elias nickte. »Es gibt eine Jagdhütte in den Wäldern, ein paar Kilometer nördlich von hier. Ich kann es dir auf der Karte zeigen.«
»Warum habt ihr mir davon nichts gesagt?«
Elias zuckte die Schultern. »In der Hütte ist nicht mehr viel zu holen, Jenny war schon ein paar mal dort. Aber sie könnte etwas übersehen haben. Du solltest es versuchen.«
Als Brandt am nächsten Abend zurückkehrte, schaute Elias ihn erwartungsvoll an. »Und?«
Brandt legte seine Sachen ab und griff in die Brusttasche der Armeejacke. Er stellte die Patrone auf den Tisch. Die Messinghülse glänzte golden im Licht der Gaslampe.
»Nur ein Schuss?«, fragte Elias.
»Das wird reichen«, erwiderte Brandt.


Am Morgen war Elias früh auf den Beinen. Brandt hörte, wie er von Zimmer zu Zimmer ging.
»Was tust du?«, rief er durchs Haus.
»Ich packe unsere Sachen«, gab Elias zurück. »Wir werden hier nicht mehr sicher sein.«
»Und wohin sollen wir gehen?«
»Vielleicht zur Jagdhütte, das wäre ein Anfang.«
Etwas später, Elias legte im Herd gerade Holzscheite nach, trat Brandt in die Küche und stellte den Schweinslederkoffer auf den Tisch. Er öffnete ihn, holte die Plastikwasserflasche und das Panzerband hervor.
»Kannst du mir kurz helfen?«, fragte Brandt.
»Sicher.« Elias wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. »Was soll ich tun?«
Brandt schloss den Koffer, stellte ihn zur Seite und legte das Jagdgewehr auf den Küchentisch. Er löste ein paar Streifen vom Panzerband und klebte sie an die Tischkante.
»Schieb die Flasche über die Laufmündung. Ja, so ist es gut. Halte sie gerade.«
»Was soll das werden?«, fragte Elias. Er verfolgte, wie Brandt die Flasche mit dem Klebeband zunächst am Lauf des Gewehrs fixierte und sie dann kreuzweise umwickelte.
»Wird halten«, sagte Brandt, und als er sah, dass Elias ihn noch immer verständnislos anschaute, fügte er hinzu: »Das dämpft den Mündungsknall.«


Nebel lag über der nächtlichen Landschaft. Feuchtigkeit kroch in die Kleider, beschlug das Glas des Zielfernrohrs. Brandt lag frierend im Dickicht des Waldrandes und ging noch einmal alle Schritte seines Plans durch. Als die patrouillierenden Männer hinter der Scheune verschwanden, lud er die Patrone in das Jagdgewehr. Das Zielfernrohr hatte er bereits justiert. Er schätzte die Entfernung auf hundertfünfzig Meter.
Als sich das Fadenkreuz über die Silhouette des Schützen auf dem Dach der Scheune schob, hämmerte der Puls in Brandts Schläfen. Er atmete durch und wartete. Allmählich beruhigten sich seine Nerven, und dann war er bereit.
Er presste den Gewehrkolben in seine Schulter, zielte auf den Kopf des Schützen, in Höhe von Nase und Ohren, sein Finger suchte den Druckpunkt des Abzugs. Der Kolben stieß ihn mit scharfem Ruck, als die Waffe knallte. Der Späher auf dem Dach der Scheune brach zusammen.
Brandt legte das Gewehr ab, ergriff die Schrotflinte und lief los.
Die beiden Wachen der Patrouille mussten etwas bemerkt haben. Die Gewehre im Anschlag näherten sie sich der Scheune. Sie standen dicht beieinander, verständigten sich mit Handzeichen.
Brandt umging sie in weitem Bogen und schlich sich dann von hinten an. Als er den ersten Schuss mit der Flinte abfeuerte, war er kaum zehn Meter von ihnen entfernt. Die Schrotgarbe streckte einen der beiden Männer sofort nieder, der zweite taumelte, machte noch ein paar Schritte und fiel dann ins Gras.
Brandt sprang auf, lief zu ihm, entwand dem Toten das Sturmgewehr. Er warf sich zu Boden, bettete den Vorderschaft der Waffe auf der Leiche und zielte. Als Sekunden später drei Männer aus der Scheune stürzten, zerfetzte sie das Dauerfeuer das Sturmgewehrs.
Brandt griff zum Magazinhalter am Gürtel des Toten, schleuderte das leere Magazin aus der Waffe und lud nach. Wenige Augenblicke später war er in der Scheune, schoss, sprang von Deckung zu Deckung. Dann wurde es still.
Als er mit dem Jungen auf dem Arm wieder ins Freie trat, dämmerte im Osten bereits der neue Tag.


Schwer atmend setzte Brandt einen Fuß vor den anderen. Immer wieder musste er daran denken, wie er vor Rugers Leiche gestanden hatte. Er wollte auf diesen Körper spucken, das Gesicht mit dem Stiefel zertreten, er wollte …
Doch Elias hatte recht. Alles, was jetzt zählte, war der Junge. Er wusste es, wenn er fühlte, wie sich das Kind an ihn schmiegte, wenn er das wilde Pochen seines Herzens an der Brust spürte.
Im Morgengrauen erreichte er das Haus. Die Tür stand offen. Brandts Hand zitterte, als er die Fünfundvierziger aus dem Holster zog. Er schaute in alle Räume, ging wieder nach draußen und nach hinten zum Hof. Bis zum Brunnen war es nicht weit.
Unwillkürlich fing er an zu laufen. Er presste Jonathan an sich und rannte. Rannte, bis jeder Atemzug in der Brust brannte.
Und dann sah er es. Die Leiche des alten Mannes lag im Gras. Über ihr, die bösen Augen starr auf Brandt und den Jungen gerichtet, hockte die Kreatur aus dem Wald, bleckte die Zähne.
»Nein«, stieß Brandt hervor und hob die Waffe. Er entsicherte, der Finger legte sich gegen den Abzug, doch dann erstarrte er und stand einfach nur da, mit erhobenem Arm, das Kind an sich gepresst. Brandt beobachtete, wie sich die Kreatur aufrichtete, umwandte und mit tierhafter Gewandtheit im Dickicht des Waldrandes verschwand. Bevor das Wesen ganz von den Schatten verschluckt wurde, blickte es noch einmal zurück und fixierte Brandt mit einem letzten drohenden Blick.
Brandt ließ die Waffe sinken, schob sie ins Holster an seinem Gürtel. Er drehte sich um, streichelte den Kopf des Jungen auf seinem Arm und ging zurück zum Haus.

 

Hallo Friedrichard, vielen Dank, dass Du nochmal geschrieben hast.

Schon der erste Satz meint ja nicht das Jubilieren himmlischer Heerscharen, sondern Produkte der Waffenindustrie, die da „pfeifen“, denn es ginge auch ohne Komma (am deutlichsten wird‘s durch einfaches Möbelrücken „Es begann wie immer hoch oben im wolkenverhangenen Himmel mit einem Pfeifen.“

Da hast Du natürlich recht, aber vom Klang her finde ich die Originalversion schöner.

Klar, schon die Kombination „als wäre“ lässt das Ganze als „unwirklich“ erscheinen, dass der Konjunktiv irrealis beibehalten werden muss. Also korrrekt „gäbe“ statt „gebe“

Vielen Dank, habe ich geändert.

Schrappnelle hagelten herab – Kreischen, Donnern, Blutgeruch. Blut riecht so wenig wie Metall (manche meinen sogar, Blut röche nach Kupfer, was gänzlicher Unsinn ist), was wir evtl. riechen ist Schweiß, vor allem aber Verwesung oder wie weiter unten

Das stimmt so nicht. Dass Blut »an sich« nicht geruchlos sein kann, wird allein deshalb klar, weil viele Raubtiere eine Blutfährte riechen können und so ihre Beute aufspüren. Nun haben Menschen nicht die Sinnesfähigkeiten von Wölfen oder Tigern, aber auch Menschen nehmen Blutgeruch wahr.

Wenn Du Dich mit Leuten unterhältst, die viel mit Blut zu tun haben, Metzger, Chirurgen, Leute, die auf Blutspendestationen arbeiten, wirst Du hören, dass Blut sehr wohl ein Geruch hat. Nicht nur verwestes Blut, das eindeutig stinkt, sondern auch frisches Blut.

Dabei gibt es zwei bemerkenswerte Details. Erstens ist der Geruch so schwach, dass es viel Blut braucht, bevor man es riecht. Zweitens – und damit komme ich zu Deinem anderen Punkt, der ebenfalls nicht ganz richtig ist, nämlich der Geruch von Metall – nehmen wir Blut besonders intensiv wahr, wenn es auf der Haut verrieben wird oder grundsätzlich mit Haut und Schweiß in Kontakt kommt.

Es ist auch Unsinn, dass Metall keinen Geruch hat, auch wenn dieser typische Geruch für uns erst bei Hautkontakt entsteht. Jedes Kind wird Dir bestätigen, dass Metall anders riecht als Schweiß, auch wenn der Hautschweiß den Geruch erst zum Vorschein bringt. In der Praxis fassen wir Metall (z.B. Kupfermünzen) ja nicht mit Handschuhen an und auch Kampf und Krieg sind ja keine sterile Sache.

(Exkurs früher Buddhismus: Schon sehr früh (historisch) haben buddhistische Meister darauf hingewiesen, dass Eigenschaften nicht Aspekte eines Objektes sind, sondern Aspekte einer Situation. Also: Metall und Blut riechen intensiv in der Situation, wenn sie mit Haut in Kontakt kommen.)

Und zwischen diesen beiden Themen gibt es einen Zusammenhang. Im Zeitartikel »Hat Metall einen Geruch?« schreibt Friedrich Reinhert: »Dass der Mensch Eisen 'riechen' kann, ist als ein Sinn für Blutgeruch zu interpretieren. Der Frühmensch konnte so wahrscheinlich verwundete Beute oder Stammesgenossen aufspüren.«

Übrigens wurde untersucht, welches chemische Molekül für den Blutgeruch verantwortlich ist. Man nennt es trans-4,5-epoxy-2(E)-Decenal oder kurz E2D.

Ach ja, das Scheinen der Sonne ist ein Spruch des Deutschlehrers aus der Realschulzeit. Konkret können einig Vollverben wie etwa „scheinen“ („die Sonne scheint“) und „brauchen“ („das brauch ich nicht“) als Modalverben genutzt werden, wobei sie ihre ursprüngliche Bedeutung ändern und den Infinitiv mit „zu“ des Vollverben verwenden („Friedhofsruhe schien über dem Schlachtfeld zu liegen/herrschen/sein“, „xy braucht gar nicht erst zu kommen“)

Genau in der Funktion tritt hier „scheinen“ auf, „es schien so zu sein, als ...“ Der Duden umgeht dieses Problem i. d. R. mittels der Vorsilbe „er“, „es erscheint“, einige Buchstaben einsparen zu können.


Okay, habe ich verstanden. Aber worauf willst Du damit hinaus?

Ich finde, Du machst Dir manchmal ziemlich schwer. Sag doch einfach klar heraus, was Sache ist.

Seltsam, „Hannibal“ (an sich André S.) hat‘s – wie ich gerade seh – schon bei Wikipedia vor den karthagischen Schrecken Roms geschafft, wogegen ich eher Adressen wie …

Ah, okay. Mann, in dem Beitrag warst Du ja sehr assoziationsfreudig. Also ich hatte gehört, dass es ein Problem mit Nazis beim KSK gibt. Und ehrlich: Wen wundert es? Allein von der Gesinnung her ist klar, dass die Rechten ein Faible für alles Militärische haben, insbesondere wenn es um Elitetruppen geht. Und dass es umgekehrt schwierig ist, die Gesinnung von Soldaten zweifelsfrei zu überprüfen, dürfte ebenso klar sein. Ich finde das im Einzelfall allein noch nicht so bemerkenswert. Ich würde mir allerdings Sorgen machen, wenn das die Regel wäre. Jedenfalls ein guter Grund, da mal genauer hinzuschauen.

Friedrichard, vielen Dank für Deine Mühe und auch Dir einen guten Rutsch!

Gruß Achillus

 

Hm, war zwar das letzte Mal (jenseits des Gesundheitsunwesens) Januar 1980 in einem chemischen Labor (nicht als Akademiker, sondern gelernter Chemielaborant), aber wie die alten Römer schon sagten, stinkt Geld so wenig wie Metall. So weit ich weiß, riechen Raubtiere ein Aldhyd (wie wir Schweiß).

Aber da werd ich eine Generation später nicht drauf bestehn, dass der eine oder die andere auch mal was anderes riechen kann.

Wie dem auch sei,
ein gutes neues Jahr wünscht der

Friedel

 

Hallo Fliege, vielen Dank für Deinen Kommentar zu meiner Geschichte. Hab mich sehr gefreut, von Dir zu lesen.

… auf jeden Fall war es spannend! Ich habe die Geschichte in einem Rutsch durchgelesen, war bei Dir und den Figuren, obwohl Krieg und Waffen ja nun nicht zu meiner Komfortzone gehören und die Fragen, die in den Kommentaren aufkamen, habe ich mir während des Lesens nicht gestellt …

Freut mich, dass Du es empfunden hast. Krieg und Waffen sind wohl für kaum jemanden eine Komfortzone, und auch wenn ich viele solcher Geschichte lese, schreibe und anschaue, stellen sie auch immer eine Belastung dar. Spannung ist ja kein durchweg positiver Aspekt, weder in der Literatur noch sonstwo. Spannung ist immer auch Stress, Unbehagen, Irritation.

Ich habe in den letzten Wochen 9 Staffeln von »The Walking Dead« angeschaut, und es hat mich belastet. So ging es mir kürzlich auch beim Lesen von »Tage der Toten« (Don Winslow), und man könnte fragen, weshalb man sich das antut.

aber die Frage, warum sie da nicht doch erst Munition suchen, bzw. warum man sie nicht festhält, sondern den Jungen, ja, stimmt, die könnte man sich stellen.

Ja, dazu hatte ich schon meine Gedanken erläutert.

Oh, je! Das sind so Momente, die wird man nie wieder los im Leben, selbst wenn man weiß, man hat sein eigenes gerettet.

Im Grunde erleiden Figuren in solchen Szenarios permanente Verletzungen. Ich denke viel darüber nach. Dass das Leben jeden Menschen verändert, ist klar. Aber ab wann werden aus Veränderungen Verletzungen und wann werden daraus Deformationen?

Diese Kreatur finde ich ein sehr schönes Bild für sein Inneres, das "Schrecken" was ihm folgt, was sich nicht töten lässt. Es wird ihn ganz sicher sehr lange verfolgen.

Ja, so sehe ich es auch. Das Monströse steht ja allgemein nicht nur für das Grauen sondern auch für das Gefährliche, das verborgen ist. Monster laufen nicht auf der Straße herum. Sie ängstigen uns, weil sie ein geheimes Leben führen. Ich fand es interessant, dass so etwas wie Krieg eine geheime Seite haben könnte.

Ich war mir sicher, das Ding wird wiederkommen.

Gut getippt!

Ja. Und diese psychologische Schiene hat mich total interessiert. Ist eher mein Fahrwasser.

Ja, das fand ich auch eine schöne zweite Ebene.

Ja. Die Rettung des einen Jungen macht die Tötung des anderen nicht ungeschehen. Auch, wenn die Kreatur sich erst mal zurückzieht. Es wird noch den ein oder anderen Moment in Brandts Leben geben. Wenn er sein erstes eigenes Kind im Arm hält, wenn er ...

So sehe ich das auch. Ich glaube, wenn Geschichten zumindest in ihrer Grundaussage ehrlich sein wollen, dann beinhalten sie unter anderem auch die Botschaft, dass es Entscheidungen im Leben gibt, mit denen wir nie ganz ins Reine kommen können. Nur Narren sind ganz und gar mit sich selbst im Reinen.

Eine wirklich gute Geschichte. Mehr habe ich gar nicht beizutragen.

Vielen Dank, Fliege! Wünsche Dir einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Gruß Achillus

 

Hallo Proof, vielen Dank für Deine Rückmeldung zum Text. Habe mich sehr darüber gefreut.

… ich mag dieses dreckige, Schnörkellose. Brandt, Krieg, Gebeutelte, gib ihm. Auch das phantastische Element, die Kreatur, hat mir natürlich gefallen, hätte ich gern mehr von gehabt. Immerhin ist sie ja titelgebend.

Ging mir auch so. Ich hätte das gern vertieft. Aber bei dieser Challenge saß mir die Zeit im Nacken. Ich habe das Ding ja wirklich erst ein paar Stunden vor Torschluss rübergeschoben.

Den Tod von Jenny fand ich stark, was wohl heißt, dass sie bis dahin ganz gut charakterisiert war. Dieses zeitlich und geografisch nicht Exakte gibt der Geschichte etwas Allgemeingültiges zum Thema Krieg und darauf willst du ja glaube ich auch hinaus. Aus irgendeinem Grund musste ich an Ex-Jugoslawien denken. Etwas sehr drunter und drüber geht es mir, wenn er Erik Brandt heißt und dann von der "Army" die Rede ist.

Das ist sicher richtig. Der Text haut ein paar disparate Elemente zusammen. Da werde ich zukünftig sicher mehr drauf achten.

Größte Schwäche aus meiner Sicht: So manches ist mir zu flach, da würde ich nochmal ran, wenn es meine Story wäre. Nicht als Thema flach, sondern, wie es angesprochen wird. Zu direkt. Das fängt beim Titel an. Worum wird's gehen? Krieg und Psyche und die Spuren. So viele andere Möglichkeiten gibt es da ja nicht. Danach kommt nur noch "Schrecken des Krieges". Ach watt, Krieg ist schrecklich? Dass das, was die Gewalt mit dem Kopf macht, als Monster im Wald hockt, ist dann wieder originell - bis eine Figur dem Leser diese Metapher so dick aufs Brot schmiert, dass er "Stopp!" schreien will.

Ich finde den Titel nicht so eindeutig, wie Du es darstellst. Hieße das Ganze »Der Schrecken des Krieges«, klar, dann wäre ich ganz bei Dir. Aber das Symbol des Schattens spannt ja ein wesentlich weiteres Bedeutungsfeld auf.

Denn dass Krieg »schrecklich« ist, eine Weisheit, die man uns von Kindesbeinen an eingetrichtert hat, ist eben nur ein Teil der Wahrheit. Gerade wer sich Humanist nennt, sollte klar sehen, dass Krieg auch Lust bedeutet bzw. bedeuten kann. Natürlich nie den Opfern, aber eben den Tätern. Es ist eine Riesentäuschung, wenn wir glauben, all die Kriege, die seit Menschengedenken geführt wurden, hätten die Beteiligten stets unter größtem Widerwillen veranstaltet. Ganz im Gegenteil, es gab Millionen von Kriegern, die sich nichts Schöneres vorstellen konnten, als im Blut ihrer Feinde zu waten. Und ich glaube, das trifft auf so manchen Irren auch heute noch zu.

Der Einstieg ist stark, actiongeladen, allerdings habe ich das Gefühl, von Kriegsfilmen geprägte Bilder in meinem Kopf ablaufen zu haben. Keine Wertung, fällt mir nur an mir selbst auf.

Meine Orientierung ist eher Remarque und Jünger.

Ein Wort wie "transzendent" ist für mich ein Fremdkörper in dieser Geschichte.

Kann man so sehen. Das ist so ein Punkt, wo man als Autor die eigene Wortwahl gegen die vermeintlichen Vorlieben des Lesers abwägen muss. Für mich ist "transzendent" ein passender Begriff, denn er verdeutlicht, dass diese Menschen an einem Wendepunkt ihres Schicksals angelangt sind.

Das dumpfe Bollern der Mörser mischte sich mit dem scharfen Fauchen der Granaten …

Weniger Adjektive ist so eine schreiberische Binsenweisheit, aber ohne finde ich den Satz wirklich stärker.


Gut beobachtet, werde ich ändern.

Am Beginn des zweiten größeren Absatzes kommt etwas sehr oft "Er" am Anfang.

Werde ich mir noch mal genauer anschauen.

Es gibt keine Front mehr«, sagte er. »Es gibt nur noch Chaos und Tod.

Das klingt merkwürdig. Als würde man mit Front sonst Bienen und Blumen assoziieren.


Verstehe ich schon, dass man es so lesen kann. Aber gemeint ist die Front, als ein Ort des systematischen Kämpfens nach militärischen Regeln. Statt der Front gibt es jetzt eben nur noch ein heilloses Durcheinander.

Kein Tier. Eine Kreatur mit zerfetztem Gesicht, kalten, grausamen Augen, bösem Blick

Die Beschreibung klingt für mich nicht wie ein echter Dialog.


Stimmt, da muss ich noch mal ran.

Das ist halt auch so theatralisch für etwas, das ein echter Mensch sagen soll. "Kann es sein, dass der Krieg Ihnen folgt?" Er tippte sich an die Stirn. "Hier oben drin?" Oder "Ich glaub, das ist nur hier." Er tippte sich an die Stirn. "Vom Krieg."

Hab ich mittlerweile geändert, gekürzt.

Vielen Dank, Proof, Deine Hinweise waren wie immer sehr hilfreich.

Alles Gute fürs neue Jahr!

Gruß
Achillus

 

Hallo Isegrims, vielen Dank für Deinen Kommentar! Schön, dass Du geschrieben hast.

Du hast eine ähnliche Geschichte vor einer Weile eingestellt. Auch eine Dystopie, die von einem anarchischen Endzeitzustand erzählt, Grenzen verschwimmen lässt, Gewalt, Krieg als ultimative Lösung beinahe heroisiert, den Figuren Würde nimmt, um sie ihnen hinter den verhärmten Gesichtern wieder zurückzugeben.

Ja, ich umkreise das Thema »Endzeit« in vielen Geschichten, wahrscheinlich, weil ich so viele Fragen habe, die sich damit verbinden. Nehmen wir den von Dir angesprochenen Punkt des »heroischen Krieges«.

Charles Taylor setzt sich in »Das Unbehagen an der Moderne« mit dem Phänomen auseinander, dass nicht wenige Menschen die Entwicklung der modernen Gesellschaft seit dem zweiten Weltkrieg oder sogar seit dem Beginn der Neuzeit als einen Verfallsprozess betrachten. Als ein Aspekt dieses Verfalls kann der Verlust des Heroischen angesehen werden.

Das ist natürlich von der persönlichen Sichtweise abhängig, aber ich finde, dass Endzeitgeschichten diesen verloren gegangenen Aspekt zurückholen können. Und natürlich ist der Krieg eine Quelle für Heldengeschichten, nicht erst seit Homers Ilias. Wahrscheinlich wurden schon an den Feuern der Steinzeit Heldengeschichten aus Kampf und Krieg erzählt.

Dass wir heute Schwierigkeiten haben, das als heldenhaft anzuerkennen, hat ja gar nicht so viel damit zu tun, dass wir Tapferkeit nicht schätzen würden oder Mut, Ausdauer, Durchhaltevermögen usw. Es hat viel mehr damit zu tun, dass wir auf der Meta-Ebene den Sinn des Krieges, seine politische Funktion anzweifeln.

Obwohl ich Kriegs- und Blutgschichten nicht gerade oft lese, mich die technischen Details eher langweilen, habe ich den Text in einem Zug - und mit Spannung gelesen: eine große Qualität deines Schreibens!

Vielen Dank, das freut mich.

Trotzdem bleibt nicht viel. Ich lese den Text und fühle mich gut unterhalten, weil's obendrein gut geschrieben ist, Aber sonst? Will ich gar nicht als Generalkritik anbringen, liegt ja an mir und meinen Leseansprüchen-

Das verstehe ich.

diesen Moment vor dem Strum, gibt es den oder ist das ein Märchen? Wenn es ihn gibt, beschreibst du ihn sehr plastisch

Ich denke, das ist eine Frage der Weltempfindung. Viele Menschen mögen so einen Moment nicht bemerken, der Erzähler meiner Geschichte hält ihn für real.

hä? Warum schneidet er das Laken in Streifen, was ist mit da entgangen?

Das ist eine vorbereitende Maßnahme, er schneidet Verbände zurecht, weil er seine Erste-Hilfe-Tasche verloren hat. Eben ein Soldat, der es gewohnt ist, sich vorzubereiten.

klar, ein offenes Ende, aber wo ist der Ausblick, außer in der Wiederholung, weiterer Gewalt?

Du hast recht, die Entwicklung der Figur wird nur angedeutet. Brandt hätte die Möglichkeit, auf das Wesen zu schießen. Er tut es nicht, ob aus Einsicht oder Resignation bleibt ungewiss. Ich sehe darin eine Entwicklung, die mit dem Dialog zwischen Elias und ihm zusammenhängt. Der alte Mann erinnert ihn daran, dass es Werte gibt, die auch in dieser chaotischen Situation Bestand haben sollten. Insofern ist die Geste des Waffe-Senkens vielleicht ein Zeichen für die innere Wandlung der Figur.

Vielen Dank, Isegrims!

Gruß Achillus

 

Hallo linktofink, vielen Dank für Deinen Kommentar!

manche Texte von dir lese ich sehr gerne, bei manchen tue ich mich extrem schwer. Diesen hier habe ich in einem Zug gelesen, die Sprache ist sehr gut lesbar, gut ausgearbeitet, der Plot ist spannend und straight dargestellt, doch er lässt mich etwas ratlos zurück, weil ich einerseits hart an der Kriegsrealität zu schlucken habe (sie macht den Großteil der Geschichte aus) und mich andererseits frage: Was soll mir das sagen?

Freut mich, dass Du gut durch den Text gekommen bist. Grundsätzlich finde ich nicht so wichtig, was ein Text zu sagen hat, um Deine Formulierung aufzugreifen. Ich finde viel wichtiger, welche Fragen er stellt.

In diesem Fall werden Fragen aufgeworfen, wie die nach dem moralischen Kompass im Fall der Selbstverteidigung. Darf man ein Kind töten, um sich selbst zu schützen? Darf man mehrere Menschen töten, um ein Kind zu retten? Sollte man in all dem Chaos lieber abtauchen oder sollte man kämpfen? Darf man vertrauen, falls ja, wem darf man vertrauen? Was macht einen Menschen vertrauenswürdig usw.

Also habe ich die bisherigen Komms. gelesen und deine Antworten dazu und verstehe nun, es geht dir um das, was du in deinem Kommentar unter meiner KG "Paria Paradise" als die "Conditio Humana" bezeichnet hast. Du suchst nach Aussagen über die Grundlagen der menschlichen Existenz, insbesondere unter Extrembedingungen.

Ja, das ist sicher ein Hauptmotiv bei meinen Schreibexperimenten.

Das ist insofern schwierig, weil zwischen dir und dem Otto-Normal-Leser, also mir, ein Gefälle besteht. Einmal in Bezug auf die Sensibilität, zum anderen in Bezug auf den Erfahrungshorizont. Ich selbst als Kriegsdienstverweigerer kann mit den ganzen Waffengedöns nichts anfangen und habe glücklicherweise überschaubare Gewalterfahrung, doch darum sollte es auch nicht gehen.

Hm. Ich sehe Dich nicht als Durchschnittsleser, davon abgesehen kann man fragen, ob es so etwas überhaupt gibt. Aber bleiben wir mal bei Sensibilität und Erfahrungshorizont. Ich weiß nicht genau, ob Du bei mir mehr oder weniger Sensibilität als beim Durchschnitt annimmst, aber das Entscheidende ist doch, dass jeder Autor seine Sicht und Empfindung der Welt in ein Konfliktszenario einfließen lässt.

Als Leser kann man sich dann fragen, ob man einen Konflikt überhaupt erst einmal so bewertet, wie das der Autor mit seiner Geschichte tut und man kann fragen, ob man ähnliche Lösungswege einschlagen würde.

Im konkreten Fall: Würden wir an Brandts Stelle vielleicht viel offener handeln, freundlicher, rücksichtsvoller, entgegenkommender? Oder umgekehrt – würden wir Jenny und den alten Mann bei der ersten Gelegenheit überwältigen und nehmen, was wir kriegen können?

Wenn sich diese Fragen für Dich nicht stellen, heißt das doch wohl, dass Du die Situation ähnlich bewertest, wie Brandt das tut.

Du redest von Ethik, also von der Bewertung menschlichen Handelns, von Moral als Rechtfertigung für bestimmte Entscheidungen.
Da ist zum einen der Tod des Jungen. Brand erschießt ihn, nachdem er selbst von ihm angeschossen wurde, also ist die Legitimation Notwehr. Doch die wird später in frage gestellt, so einfach ist es also nicht, denn selbst in Kriegszeiten zählt jedes einzelne Menschenleben.

Ja, das Problem hier ist, dass jede Situation eine Tiefenebene besitzt, die Fragen aufwirft. Wir wissen, dass der Junge keine Munition mehr besaß. Brandt wusste das nicht. Er hätte ihn überwältigen können, ohne ihn zu töten. Natürlich wäre das riskant gewesen. Aber Fakt ist, dass er geschossen hat, ohne zu überprüfen, ob sein Gegner überhaupt noch wehrfähig ist. Er drehte sich um und feuerte. Das kann man ihm kaum vorwerfen, aber es hätte Alternativen gegeben.

Das ist eine Konsequenz des Krieges im Falle von Brandt. Ob Elias so gehandelt hätte, kann man anzweifeln.

Und wieder ist ein fragiles, merkwürdiges Gleichgewicht hergestellt - bis zum nächsten Vorfall. Aber gerade dem verweigert sich Brand durch sein finales Nein, durch seine Entscheidung gegen ein weiteres "Auge um Auge". Denn wie gesagt zählt das einzelne Menschenleben und das hat Brand auf dem Arm und will es nicht gefährden.
So lese ich den Text

Diese Interpretation gefällt mir sehr gut.

Ein Teil von mir hat das gerne gelesen, der Rest sträubt sich.

Danke dafür, linktofink und für Deine Textkorrekturen, schaue ich mir in Ruhe an.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Huxley, vielen Dank für Deinen Kommentar.

Ich war erst ein wenig abgeschreckt von dem Beginn mit seinen Kriegshandlungen, so ohne emotionalen Bezug (keine Person direkt zum mitfiebern und für ein friedensgeborenes, unbedarftes Menschenkind wie mich zu unbegreiflich), aber ich dachte mir, Achillus hat sich was gedacht, warte mal ab.

Ja, mir war klar, dass so ein Schlachtpanorama am Anfang nicht jedem Leser schmecken würde. Die Idee dahinter war, von Beginn an klar zu machen, dass es hier um Grenzerfahrungen gehen wird. Das ist keine Geschichte darüber, ob jemand lieber Tee oder Kaffee trinkt.

Ich mochte die Idee mit der Kreatur total. Sie hat mich über Brandt hinweggetröstet, der mir, wenn ich so drüber nachdenke, bis zum Schluss egal war. Oder, sauberer ausgedrückt: Die Geschichte hätte mehr mit mir gemacht, wenn ich mehr Empathie gegenüber Brandt gehabt hätte.

Das ist ein nützlicher Hinweis. Ich werde künftig noch mehr dafür tun, dem Leser meine Hauptfigur nahe zu bringen. Die Crux dabei besteht darin, dass die Männertypen, die ich zeichne, sich anderen Figuren nicht anbiedern, meist Einzelgänger sind und generell wenig besitzen, was sie sympathisch macht. Wenn sie dann auch noch wortkarg sind, wird es schwer, sie dem Leser nahezubringen.

Ich denke, ich muss mehr an kleinen Gesten arbeiten, Gesten, die zeigen, warum mir meine Figuren liebenswert erscheinen. Vielleicht sieht das dann auch der eine oder andere Leser so.

… als gebe das Universum den Menschen Gelegenheit, einen letzten Blick auf ihr Leben zu werfen und auf das, was sie verloren hatten …

Hier dachte ich "Naja, sie haben ja noch nichts verloren, die Bomben fallen ja erst." Ich habe zu diesem Zeitpunkt ja noch kein Wissen von vorherigen Bomben und dachte, dass dieser letzte Blick schlüssiger auf das geworfen wird, was man noch verlieren kann, wie seine Kameraden, das eigene Leben, das verdreckte Kartenspiel unter der Leitersprosse ...


Ich dachte es umgekehrt: Eben weil dieser Satz sagt, dass die Menschen bereits viel verloren haben, sieht der Leser, dass sie bereits mitten drin im Krieg stecken.

Harte Schatten und Kanten in Brandts Gesicht

Trotz des auktoriellen Anfangs war ich sofort im personellen Erzähler bei Brandt und habe diesen Satz als Bruch mit der Perspektive empfunden. So als hätte die Geschichte in einer großen einleitenden Totalen begonnen und wäre dann zu Brandt hingeschrumpft, um auf seiner Schulter zu reisen.


So war es ja auch gedacht. Der Beginn als Schwenk über die gesamte Szene und dann ein Zoom auf Brandt. Warum sollte dieser Zoom dann nicht Schatten und Kanten in Brandts Gesicht zeigen?

Er würgte, spürte, wie sich Wasser in seinem Mund sammelte

Beginnt der Prozess nicht mit dem Speichelfluss, bevor das Würgen kommt?


Hm, ich bin nicht sicher, ob es genau in dieser Reihenfolge ablaufen muss. Falls es mir in den nächsten Wochen passiert, schau ich noch mal genauer hin :)

»Was soll der dämliche Koffer?«, fragte Jenny.

Ja, frage ich mich auch. Hätte Brandt nicht aus dem Laken an sich einen besseren Rucksack binden können?


Ich glaube, ein Laken wäre die Notlösung, falls es keinen stabilen Transportbehälter gegeben hätte.

»Alt genug«, antwortete Jenny. Und mit einem sonderbaren Blick fügte sie hinzu: »Heute sind alle alt genug.«

Ich überleg, ob der letzte Satz unausgesprochen als Gedanke, der im Raum hängt, mehr wirken würde.


Guter Punkt. Überlege ich mir.

Elias stand am gusseisernen Herd, als Jenny und Brandt die Küche des Hauses betraten.

Hier war ich wieder empört, dass der personelle Erzähler doch nicht wissen kann, dass der Mann Elias heißt.


Natürlich ist es eleganter, wenn eine Figur erst einmal ihren Namen vorstellt und sie erst von dem Punkt an vom Erzähler bei diesem Namen genannt wird. Aber dass der Erzähler eine Menge Dinge weiß, die Brandt nicht wissen kann, ist doch klar, oder nicht? Schließlich schwebt die Erzählstimme doch wie eine Kameradrohne über dem Szenario und sieht die Welt nicht aus Brandts Perspektive.

Und wenn der Erzähler grundsätzlich keine Namen kennen dürfte, könnte man ja auch fragen, woher der Erzähler den Namen von Brandt kennt.

Aber im ernst, ja, ein happy end erwartet hier kaum einer, aber so ein bisschen Hoffnung, etwas Licht in dem Dunkel, das fehlt mir in so manchem Text im Forum und darum muss ich schon dankbar sein, dass immerhin der Junge leben durfte.

Ja, das ist eine Erkenntnis, die mir im Laufe der Jahre hier im Forum gekommen ist. Ich habe mich gefragt, weshalb viele der harten und düsteren Geschichten emotional bei mir nicht ankommen oder verpuffen. Ich sehe den Grund im Mangel an Kontrasten. Wenn ein Text pechschwarz ist, fällt es leicht, ihn abzuwehren. Erst wenn eine einzelne Kerze in der Dunkelheit steht, sinken die Abwehrschilde des Lesers. So kriegt man ihn, vorausgesetzt es ist gut gemacht und überschreitet nicht die Grenze zur Rührseligkeit.

So richtig "glücklich" bin ich nach der Lektüre nicht, was aber eher an meinen Erwartungen liegt, als an deinem Text. Der liefert schon, was er zu Beginn einläutet: Krieg und alles dahinter, dazwischen und darunter. Und das in einer schreiberisch sehr gekonnten Art und Weise.

Vielen Dank, Huxley, das ist ein schönes Lob. Ich wünsche Dir eine gute Woche!

Gruß Achillus

 

Hallo Bernadette, vielen Dank für Deine Gedanken zu meinem Text.

Relativ schnell kam ich damit klar, dass dieser Text keiner realen Situation zuzuschreiben war - Plastikflaschen und Tape ließen darauf schließen, dass es in einer fiktiven Geschichte spielt, reale aktuelle Kriegsschauplätze im Ausland wären durch eindeutige Namen und Bezeichnungen erkennbar gewesen, setze ich voraus.

Ja, ich hatte gehofft, dass man das so erkennen kann. Allerdings passiert es eben auch, dass man beim Lesen über solche Details wie Tape und Plastikflasche hinweg rutscht, ohne sie zu bemerken.

Mir gefallen Protogonisten, die sich zu helfen wissen; Pragmatismus imponiert mir sehr und das ist als Außenstehender für mich interessant zu lesen, weil ich vielleicht sogar noch etwas lernen kann.

Geht mir auch so.

Es werden viele moralische Fragen über mehrere Ebenen aufgeworfen. Letztendlich stehen die einzelnen Protagonisten immer wieder neu vor Entscheidungen und es gibt kein Muster, an dem man sich orientieren kann. Das kann einem fast den Verstand rauben und wenn ich so Szenen lese, hoffe ich immer, nie in solche Situationen zu kommen.

Da hast Du recht. Ich habe vor einiger Zeit in einer Abhandlung über Moral von dem theoretischen Beispiel gelesen, dass nach einem Schiffbruch eine Gruppe von Menschen in einem Rettungsboot eine Entscheidung treffen muss, weil das Boot mit all den Leuten zu sinken droht. Ein Mensch muss geopfert werden. Wer soll es sein? Der alte Mann, der sein Leben vermeintlich bereits gelebt hat, der Säugling, der im Grunde noch keine eigene Persönlichkeit besitzt. Ein kranker Mann, eine kriminelle Frau etc. Wie finden wir die Person, die geopfert werden muss. Und auch in dieser vertrackten Situation gibt es tatsächlich eine »richtige« Antwort: Das Los.

Tatsächlich hilft die Beschäftigung mit den ethischen Grundlagen unseres Verhaltens dabei, klarer zu sehen, wie man handeln sollte. In so einer Situation, wie diese Geschichte sie beschreibt, ist das natürlich wahnsinnig schwierig.

Das Konstrukt, dass Jenny als Hilfskrankenschwester einspringt und der Bruder als Sicherheit gefangen gehalten wird, kann ich irgendwie nicht nachvollziehen. Wieso sollten sie dieses Risiko eingehen? Es wäre doch viel einfacher, Jenny bei sich zu behalten. In dem Zusammenhang frage ich mich auch, wieso sie Jonathan nicht getötet haben, nachdem Jenny erschossen worden ist. Was hatte er denn noch für eine Daseinsberechtigung in den Augen der Gegner?

Dazu habe ich schon einige Ausführungen gemacht. Hinzufügen möchte ich, dass ich in den Männern keine reinen Mörder sehe, sondern Opportunisten. Vielleicht überlegen sie, ob der Junge noch nützlich sein könnte. Vielleicht schrecken sie auch vor Kindsmord zurück.

Die Kreatur war für mich ein Hirngespinst. Es ist ja auch kein Wunder, dass man nach bestimmten Erlebnissen nicht mehr genug eigene Kapazitäten hat, um alles im Kopf geordnet zu bekommen. Da kann sich Realität und Wahn mischen.

Da sehe ich so wie Du.

Ich fands richtig spannend, gut geschrieben (mir ist kein Fehler aufgefallen), unterhaltsam (wenn man das bei der Thematik auch nicht so leicht sagen möchte) und die Dialoge passen auch. Jedoch mehrere solche Geschichten brauche ich nicht hintereinander, das zieht mich zu sehr runter.

Danke für das Lob, ich verstehe aber auch, wenn Dich das belastet. Vielen Dank für Dein Feedback, Bernadette.

Gruß Achillus

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom