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- 08.07.2012
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Der Schatten des Krieges
Es begann wie immer mit einem Pfeifen, hoch oben im wolkenverhangenen Himmel. Einer der Leutnants rannte umher, brüllte Befehle. Die Mannschaften stürzten aus den Zelten und warfen sich in die morastigen Schutzgräben. Dann trat ein eigenartiger Moment transzendenter Stille ein. Erik Brandt wusste nicht, ob er sich diesen Moment lediglich einbildete, aber es war, als käme noch einmal alles zur Ruhe, als gäbe das Universum den Menschen Gelegenheit, einen letzten Blick auf ihr Leben zu werfen und auf das, was sie verloren hatten.
Als die Sprenggeschosse einschlugen, erbebte die Erde unter der Wucht ihrer Detonationen. Das Bollern der Mörser mischte sich mit dem Fauchen der Granaten, die von Feldgeschützen in flachem Bogen heranzischten. Erdreich wurde meterhoch in die Luft geschleudert, prasselte auf die Sturmhelme der Infanteristen. Der Feind verstärkte das Artilleriefeuer, und das Getöse explodierender Zwei-Zentner-Wurfminen rollte mit solchem Druck über die Männer hinweg, dass einige von ihnen Blut spuckten. Maschinengewehrbeschuss fegte über die Stellung, zerfetzte die hölzernen Schanzbauten. Schrappnelle hagelten herab – Kreischen, Donnern, Blutgeruch. Rauchwolken, orangefarben angestrahlt vom Flackern der in Brand geschossenen Unterstände.
»Rückzug!«, gellte die Stimme des Leutnants durch das Chaos. »Sammeln bei letzter Verteidigungsposition.«
Die Männer sprangen auf. Brandt glitt aus, schlug der Länge nach in den Graben. Jemand riss ihn hoch. Flucht in gebückter Haltung, im Rücken, lauter werdend, das Knirschen berstender Schanzwände – ein Schauer von Holzsplittern jagte durch die Kampfstände.
»Rückzug! Rückzug!«
Und dann – die Männer sprangen, rollten, wälzten sich über die rückwärtigen Deckungswälle – der Feind. In breiter Schützenlinie heranrückend, aus Sturmgewehren und Repetierern feuernd. Brandt hob seine Waffe an die Schulter und schoss in stummer Verzweiflung.
Er umklammerte den Griff seiner Pistole, starrte auf die Tür und lauschte. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Zehn Minuten vielleicht. Oder auch eine Stunde. Er glaubte, noch immer das Echo der Schüsse zu hören. Er musste raus aus diesem Zimmer, raus aus der Siedlung. Er musste …
Als die Dämmerung einsetzte, trat Brandt ans Fenster und spähte hinunter auf die menschenleere Straße. Er schob die Fünfundvierziger in das Holster an seinem Gürtel, schaute sich um. Schränke und Schubladen standen offen, der Hausrat lag auf dem Boden verteilt. Bettwäsche, Handtücher, Kleidungsstücke und Geschirr.
Brandt zog das Messer aus dem Stiefel. Nachdem er ein Laken in Streifen geschnitten hatte, durchsuchte er eine hölzerne Truhe, einen Nachttisch, eine Kommode. Er schlich ins Badezimmer. Auch hier war bereits das meiste geplündert worden. Doch in einem Schubkasten des Spiegelschränkchens fanden sich zwei Aspirin, eine Nagelschere und ein Päckchen Heftpflaster.
Glasscherben knirschten unter den Stiefelsohlen, als er in den Flur trat. Im Obergeschoss des Hauses gab es drei Zimmer. Er würde sie durchsuchen, sich dann die untere Etage vornehmen und schließlich den Keller.
Im letzten Licht des Tages stand Brandt am Küchentisch und betrachtete die Dinge, die ihm das Leben retten konnten – darunter eine Taschenlampe, ein Kochtopf, Nähzeug, Panzerband, zwei Dosen grüner Erbsen.
Noch einmal ging er von Raum zu Raum, blieb vor einem Schrank stehen, den er bereits durchwühlt hatte. Es war ein abgewetzter Koffer aus Schweinsleder. Brandt holte den Koffer heraus, öffnete ihn, kippte den Inhalt aus: abgetragene Kleidung, eine Arbeitsjacke, zwei Herrenhosen mit Gürtel, Unterwäsche.
Er schnitt zwei Löcher in den Koffer, zog den Gürtel aus einer Hose, fertigte einen provisorischen Tragegurt und ging wieder in die Küche. Nachdem er alle Sachen verstaut hatte, hievte er sich den Koffer auf den Rücken, justierte den Tragegurt. Er öffnete die Haustür, schaute die Straße hinunter, und dann umgab ihn die Nacht.
Im Licht des Mondes wirkte die Welt wie erstarrt. Da war keine Bewegung, kaum ein Laut, nur das Geräusch des Windes, der durch die Blätter der Apfelbäume strich. Brandt kniete im Sickergraben neben der Straße und zitterte. Bis zum Waldrand mochten es zweihundert Meter sein. Zweihundert Meter über offenes Feld.
Er holte Luft, sprang auf und rannte los. Der Koffer auf seinem Rücken schlug ihm ins Kreuz. Die Stiefel sanken in den Ackerboden, jeder Atemzug brannte in der Brust. Still und abweisend stand der Wald wie eine schwarze Wand vor ihm.
Als der Schuss durch die Nacht krachte, kippte Brandt vornüber ins Feld. Eine Weile lag er bewegungslos im Mondlicht. Irgendwann hörte er Schritte, dann wurde es wieder still. Erst jetzt biss der Schmerz in seine linke Schulter.
Hinter ihm, nur ein paar Meter entfernt, knarrte das harte Leder von Stiefeln. Brandt wälzte sich herum und feuerte. Eine schlanke Gestalt sank zu Boden. Brandt stemmte sich hoch. Die Pistole im Anschlag machte er ein, zwei Schritte. Als er das blasse Gesicht des Jungen sah, hockte er sich zu ihm. Während seine Augen die Umgebung absuchten, tastete er an der Halsschlagader nach dem Puls. Nichts.
Brandt ergriff das Jagdgewehr, eine Repetierbüchse in schlechtem Zustand. Er entsicherte, öffnete den Verschluss. Keine Patrone in der Kammer, das Magazin der Waffe leer. Auch in Jacke und Hosen des Jungen fand sich keine Munition. Da war nichts bis auf eine Plastikflasche mit etwas Wasser, ein Päckchen Streichhölzer, ein wenig Tabak und zwei selbstgedrehte Zigaretten. Brandt nahm alles an sich, zog dem Toten die Strickmütze vom Kopf, und eine Minute später verschluckte ihn der Wald.
Harte Schatten und Kanten in Brandts Gesicht – im Schein des Reisigfeuers bandagierte er die Schusswunde. Nachdem er Kompressen auf dem Ein- und Austrittsloch der Kugel platziert hatte, zog er die in Streifen geschnittenen Stofffetzen fest um die Schulter.
Er streckte die Hände über dem Feuer aus, das in einer Erdmulde knisterte, und starrte in die Flammen. Seit dem ersten überraschenden Angriff hatte er nur reagiert, war gerannt, geflüchtet, hatte sich versteckt. Die Stimme in seinem Kopf, das war jetzt der Soldat, der Fernspäher, der Einzelkämpfer. Bring dich in Sicherheit, sagte sie. Überlebe!
Der Ruf einer Eule schreckte ihn auf. Doch es war nicht das Iuuh, Iuuh des Nachtvogels, das ihn beunruhigte. Es schien, als sei mit dem Schrei der Eule etwas erwacht - in den Tiefen des Waldes jenseits des Feuerkreises regte sich ein Wille.
Brandt sprang auf, zog die Waffe und machte ein paar Schritte weg vom Feuer, hinein in Dunkelheit. So stand er in der Kälte der Nacht, roch das Harz der Kiefern, ließ den Blick über die vom rötlichen Flackerlicht erleuchteten Bäume und Büsche schweifen. Das Visierkorn der Pistole strich über die Stämme von Föhren, Birken und Eschen, über Weißdornbüsche, über Schlehe und Ginster.
Das Lagerfeuer war beinahe erloschen. Tiefe Stille lag jetzt über allem, nur hin und wieder knackte ein Zweig in den letzten Flammen. Allmählich zerflossen die Konturen des Waldes. Brandt visierte über seine Waffe hinweg in die Finsternis.
Dann sah er die Kreatur. Im Glutschein des ausgebrannten Feuers trat sie aus der Schwärze und fixierte Brandt mit kaltem Blick. Er würgte, spürte, wie sich Wasser in seinem Mund sammelte, spürte den Brechreiz, das Rumoren in den Eingeweiden. Die Pistole krachte und – alptraumhaft verlangsamt – wankte er zurück, feuerte, sah, wie der Verschluss der Waffe eine Hülse nach der anderen herausschleuderte, hörte das dumpfe Hämmern der Fünfundvierziger.
Mit erhobenen Händen trat er aus dem Dickicht. Das blonde Mädchen hinter dem Ziehbrunnen richtete die Schrotflinte weiterhin auf ihn. Es wartete, bis er sich auf zehn Schritte genähert hatte und sagte dann mit fester Stimme: »Hinknien! Hände oben behalten.«
Brandt kniete sich ins Gras. Der Himmel lastete wie ein grauer Block über ihnen. Wolkenfetzen trieben niedrig dahin.
»Du siehst übel aus«, sagte das Mädchen schließlich. »Hast du gekämpft? Wirst du verfolgt?«
Brandt deutete mit dem Kinn auf den Brunnen. »Ich will nur etwas Wasser.«
»Folgt dir jemand?«, fragte das Mädchen erneut, diesmal mit mehr Nachdruck.
Brandt schüttelte den Kopf. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, sagte er: »Ich bin Erik, Erik Brandt. Wie heißt du?«
Er spürte, dass sich die Platzwunde über der rechten Schläfe wieder geöffnet hatte. Aus ihr sickerte warm das Blut, und ein Pochen hinter der Stirn setzte ein.
»Jenny«, sagte das Mädchen, und sie sagte noch mehr, doch ihre Worte vermischten sich mit einem Rauschen, das stärker und stärker wurde.
Als Brandt die Augen öffnete, blickte er in den Lauf einer Pistole.
»Die brauchst du nicht«, sagte er. »Ich werde dir nichts tun.«
Jenny saß rittlings auf einem Stuhl und richtete seine Fünfundvierziger auf ihn.
Brandt setzte sich im Bett auf und schaute sich in dem schäbigen Zimmer um. Außer dem Bett, dem Stuhl und einem niedrigen Tisch gab es keine Möbel. Die beiden Fenster waren mit Zeitungen und Lumpen verdunkelt, eine Gaslaterne, die in der Ecke am Boden stand, warf ein trübes gelbliches Licht in den Raum.
In diesem Licht wirkte Jennys Gesicht blass und schmal. Mit geröteten, müden Augen schaute sie Brandt an.
»Deine Wunde an der Schulter sollte genäht werden«, sagte sie.
»Hm.«
»Ich habe sie mit Salzwasser desinfiziert, auch die anderen Verletzungen versorgt ...«
»Danke.«
Brandt betrachtete Jennys Gesicht und fragte sich, ob sie ihn mit einer leeren Waffe bedrohte oder inzwischen nachgeladen hatte.
»Ich kann die Wunde nähen«, sagte er. »Aber ich habe mein Med-Kit verloren.«
»Ich werde sie nähen«, sagte Jenny. »Aber vorher müssen wir was klären.«
Brandt nickte.
»Ihr Männer glaubt, dass wir schwach sind.« Jenny presste die Lippen zusammen, und einige Minuten lang sagte niemand ein Wort.
»Wenn du irgendwas versuchst«, fuhr sie schließlich fort, »töte ich dich.«
»Okay«, sagte Brandt.
»Sag nicht okay«, erwiderte Jenny, und ihre Stimme klang rau. »Schau mich an.«
Brandt betrachtete ihre schmalen, grünlich schimmernden Augen. »Ich töte dich«, sagte sie noch einmal.
Am nächsten Morgen kontrollierte Jenny den Zustand der Wunde. Brandts Pistole steckte im Holster an ihrem Gürtel.
»Die Naht ist gut«, sagte sie und griff nach der Notfalltasche, die auf dem Tisch lag. »Das wird heilen, aber du darfst dich nicht zu viel bewegen.«
»Hm.« Brandt knöpfte das Hemd zu. »Als ich gestern beim Brunnen umgekippt bin, wie hast du mich hierher gebracht?«
Jenny kaute auf der Unterlippe und schwieg. Sie sortierte Bandagen, Kompressen und eine Rettungsschere in die Fächer des Med-Kits.
»Ist das ein Geheimnis?«, fragte Brandt.
»Ich hatte Hilfe«, sagte sie schließlich.
»Ja?«
Jenny schloss die Notfalltasche. »Wir reden später darüber«, sagte sie. Und dann: »Willst du rauchen?« Sie griff in die Seitentasche ihrer Cargohose und holte die Zigaretten und Streichhölzer hervor, die Brandt dem toten Jungen abgenommen hatte.
»Wo ist mein restliches Zeug?«
»Ist sicher verwahrt. Du kriegst es zurück.«
Brandt steckte sich eine Zigarette an und rauchte.
»Was soll der dämliche Koffer?«, fragte Jenny. »Gibt´s keine Rucksäcke mehr bei der Army?«
Brandt sah sie an, sagte aber nichts.
»War mir gleich klar, als ich dich gesehen habe: die Tarnklamotten, das Stiefelmesser, die Armeepistole … Bist du von der Front geflohen?«
»Von der Front?«, wiederholte Brandt.
»Von welcher Einheit bist du?«, fragte sie. »Pioniere? Fallschirmjäger?«
Brandt nahm einen Zug und blies Rauch unter die schimmlige Zimmerdecke
»Erst Fernspäher, dann Jagdkommando«, sagte er. »Du kennst dich in diesen Dingen aus?«
Jenny nickte. »Mein Vater war Sanitäter bei den Fallschirmjägern.«
»Hast du von ihm gelernt, wie man Wunden näht?«
»Nicht nur das.« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann schloss sie den Mund und schwieg.
»Wie alt bist du?«, fragte Brandt. »Sechzehn? Siebzehn?«
»Alt genug«, antwortete Jenny. Und mit einem sonderbaren Blick fügte sie hinzu: »Heute sind alle alt genug.«
Elias stand am gusseisernen Herd, als Jenny und Brandt die Küche des Hauses betraten. Der alte Mann begrüßte sie mit einem Nicken und sagte: »Setzt euch. Ich habe Tee gekocht.«
Tatsächlich. Das Aroma von schwarzem Tee hing in der Luft. Elias bemerkte Brandts Überraschung. »Jenny hat vor ein paar Tagen einen verlassenen Bunker entdeckt«, sagte er. »Die Vorräte werden sehr nützlich sein.«
»Das sollten Sie besser für sich behalten«, erwiderte Brandt.
»Tja«, sagte Elias, »da haben Sie wahrscheinlich recht.«
Ein wenig später, als sie zusammen am Tisch saßen und den mit Honig gesüßten Tee tranken, schaute Brandt überrascht auf. Im Herd knisterte das Kochfeuer.
»Was ist?«, sagte Jenny.
»Ich hatte vergessen …«, sagte Brandt, doch dann verstummte er.
Elias trank einen Schluck und räusperte sich. »Also, wir hören so gut wie gar nichts von der Front. Überhaupt vom Krieg. Oder von irgendwas.«
Brandt nickte.
»Die Netze sind zusammengebrochen«, fuhr Elias fort. »Kein Strom, kein Funk ...«
»Nicht mal Radio?«, fragte Brandt.
Elias schüttelte den Kopf. »Naja, anfangs schon. Aber jetzt nicht mehr.«
Brandt rieb sich die Stirn.
»Erzähl schon«, drängte Jenny. »Was ist da los?«
Brandt starrte in sein Teeglas. »Es gibt keine Front mehr«, sagte er. »Es gibt nur noch Chaos und Tod.«
Er berichtete, wie seine Einheit aufgerieben und zerstreut wurde, berichtete von seiner Flucht, dem wochenlangen Campieren im Wald und wie er sich auf der Suche nach einem Kommandoposten durch die Wildnis geschlagen hatte.
»Und dann, als ich eine unserer Siedlungen erreichte, wurde ich angegriffen«, sagte er. »Von unseren Leuten. Zivilisten. Ich warf den Rucksack ab, rannte und versteckte mich in einem Haus.«
Jenny nickte. »In den Städten herrscht Terror - jeder gegen jeden. Und hier ist es nicht viel besser. Keiner weiß, ob die Regierung …« Sie brach ab, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Dieser Krieg«, sagte Brandt gedankenversunken. »Das ist unser Ende.«
Brandt hob den Feldstecher vor die Augen. Jenny hatte ihn eine Stunde lang auf Schleichwegen durch den Wald geführt. Jetzt kauerten sie im Unterholz hinter Brombeersträuchern und schauten hinüber zu einer Scheune, in der bewaffnete Männer ihr Lager errichtet hatten.
»Nachts patrouillieren zwei Wachen«, flüsterte Jenny. »Das ist alles.«
»Wer sind diese Leute?«, fragte Brandt. Im schwächer werdenden Licht der Abenddämmerung konnte er Männer mit Sturmgewehren und Schrotflinten ausmachen. Sie saßen am Lagerfeuer und tranken, spielten Karten oder hantierten mit ihren Waffen. Auf dem Dach der Scheune stand ein Späher mit Fernglas und Repetiergewehr.
»Sie folgen Ruger, einem Mann aus dieser Gegend«, erwiderte Jenny. Plündern, töten, vergewaltigen.«
»Was hast du mit ihnen zu tun?«
»Sie halten Jonathan, meinen Bruder, fest.«
Brandt setzte das Glas ab und schaute Jenny an.
»Ich gehe zwei Mal in der Woche zu ihnen«, sagte sie. »Helfe bei der Versorgung ihrer Verletzten.«
»Und als Gegenleistung …«
»… lassen sie meinen Bruder am Leben.« Jenny schluckte. Dann sagte sie: »Ich gebe dir die Hälfte unserer Vorräte. Dein Zeug und deine Waffen natürlich auch. Hilf mir, meinen Bruder rauszuholen.«
»Dieser Ruger«, sagte Brandt, »ist der jetzt dort?« Er gab Jenny das Glas. Es dauerte nicht lange, bis sie Ruger gefunden hatte.
»Die drei Typen am Feuer«, sagte sie und gab das Fernglas zurück. »Der in der Mitte, das ist er.«
Brandt betrachtete ihn.
»Scheint betrunken zu sein.«
Jenny nickte. »Ja, sie trinken alle viel. Und Ruger ist besonders schlimm.«
Sie stieß Brandt leicht mit Ellbogen an. »Aber das ist unser Vorteil, nicht wahr? Sie sind unvorsichtig.«
Brandt rieb sich das Kinn. »Aber auch unberechenbar«, sagte er.
Elias saß Brandt gegenüber und beobachtete, wie dieser einen Filzstopfen auf das Ende des Putzstocks setzte und die Kontermutter anzog. »Eine schöne Waffe«, sagte er und tippte mit den Fingerspitzen auf den Vorderschaft des Jagdgewehrs.
Brandt nickte. »Aber in erbärmlichem Zustand.«
»Der Vorbesitzer hat es mit dem Reinigen wohl nicht so genau genommen«, sagte Elias. Einen Augenblick lang schauten sie einander in die Augen.
»Es war ein Junge«, sagte Brandt. »Keine sechzehn Jahre alt.« Er beträufelte den Stopfen mit ein wenig Öl, führte den Putzstock durch die Kammer in den Lauf und begann, die Jagdbüchse zu reinigen.
Elias erhob sich, füllte Wasser in den Teekessel, stellte ihn auf die Kochherdplatte.
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte er. »Ich meine, aus dem Jungen?«
Brandt wechselte den Filzstopfen gegen eine Messingbürste, schraubte sie am Putzstock fest und fuhr schweigend mit dem Säubern der Waffe fort.
»In diesen Zeiten ist es schwierig, das Richtige zu tun«, sagte Elias. » … die Werte bewahren, die wir …«
»Ich habe den Jungen erschossen«, sagte Brandt und hielt inne. »Er versuchte, mich zu töten, also erschoss ich ihn.«
Einige Minuten sagte niemand ein Wort. Als das Wasser im Teekessel zu brodeln begann, erwachte Brandt aus seiner Erstarrung, griff nach dem Putztuch und wischte die Patronenkammer der Repetierbüchse aus.
Elias brühte schwarzen Tee auf, ließ ihn ziehen. Nachdem Brandt das Putzmaterial zusammengelegt und verstaut hatte, saßen sie am Tisch und rührten in ihren Tassen.
»Ich hatte vergessen, wie Tee mit Honig schmeckt«, sagte Brandt.
»Ja«, erwiderte Elias. »Geht mir auch so. Es ist nicht mehr viel übrig von der Welt, die wir kannten.«
»Noch mal wegen des Jungen«, sagte Brandt. »Ich wollte das nicht. Töten oder getötet werden, das war´s.«
Elias schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ist es so einfach?«
»Was meinen Sie damit?«
»Als Jenny mich bat, Sie vom Brunnen hierher ins Haus zu schaffen, wusste ich nicht, wer Sie sind.«
»Das ist etwas anderes«, wandte Brandt ein.
»Offen gesagt, Sie machten keinen vertrauenswürdigen Eindruck.«
»Ich war verletzt.«
»Stimmt. Aber wäre es für uns nicht sicherer gewesen, Sie da einfach liegen zu lassen?«
Brandt trank einen Schluck und schwieg.
»Jedes Leben ist kostbar, Erik. Gerade Sie sollten das verstehen, nachdem, was Sie im Krieg erlebt haben.«
Brandt erhob sich. Er ging ein paar Schritte in der Küche auf und ab.
»In der Nacht bevor ich Jenny traf«, sagte er, »da bin ich im Wald einer Kreatur begegnet.«
Elias schaute auf. »Einer Kreatur?«
»Ja, einem schrecklichen … Ding. Einem Monster.«
»Ein Tier? Was war so schrecklich daran?«
Brandt schüttelte den Kopf. Er starrte ins Leere. »Kein Tier. Eine Kreatur mit zerfetztem Gesicht, kalten, grausamen Augen, bösem Blick. Sie … schaute mich an.«
»Und dann?«
»Ich schoss das ganze Magazin leer. Wir kämpften. Dann verschwand das Ding in der Finsternis. Vielleicht habe ich es getötet. Bin nicht sicher.«
Schweigen erfüllte den Raum. Lange Zeit sprachen sie nicht.
»Kann es sein, dass der Krieg Sie verfolgt?«, sagte Elias irgendwann.
»Was meinen Sie? Dass ich Wahnvorstellungen habe?«
»Ich meine, dass der menschliche Geist manchmal besondere Wege geht, um die Welt in der Balance zu halten.«
Jenny zog die Pistole aus dem Holster und legte sie vor Brandt auf den Küchentisch.
»Nimm sie, ist ja deine«, sagte sie. »Wollte sie dir schon gestern geben.«
Brandt ergriff die Waffe, drückte die Magazinentriegelung und zog das Magazin heraus. Eine Patrone. Er entsicherte die Pistole, schob den Verschluss ein wenig zurück und schaute in die Kammer der Fünfundvierziger.
»Ist das alles?«, fragte er. »Zwei Schuss?«
»Tut mir leid, mehr habe ich nicht«, erwiderte Jenny.
»Und deine Schrotflinte?«
»Drei Patronen.«
Brandt schüttelte den Kopf. »Damit schaffen wir es nicht.« Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte.
»In der Scheune gibt es Munition«, sagte Jenny.
»Du willst sie stehlen? Zu gefährlich.«
Jenny griff nach Brandts Zigarette. Sie nahm einen Zug, blies den Rauch langsam aus. »Ich versuche es«, sagte sie.
Stechmücken umschwirrten Brandt, als er seinen Beobachtungsposten am Waldrand bezog. Die Sonne stand bereits im Südwesten, von der Siedlung jenseits des Scheunencamps wehte Fäulnisgeruch herüber.
Brandt schaute durch das Fernglas zum Lager von Ruger und seinen Männern. Von Jenny wusste er, dass Jonathan im hinteren Teil der Scheune festgehalten wurde, wo sich auch zwei von Rugers verletzten Leuten aufhielten.
Auf dem Dach stand wieder ein Schütze mit Jagdgewehr, und zwei weitere Wachen patrouillierten in der näheren Umgebung. Drei oder vier Männer saßen am Feuer.
Brandt verfolgte, wie sich Jenny dem Camp näherte. Sie trug ihre Notfalltasche. Eine der Wachen sprach sie an, und sie wechselten ein paar Worte. Jenny ging weiter, verschwand in der Scheune.
Sie hatten verabredet, dass sie sich beeilen sollte. Nur kurz nach Jonathan und den Verletzten schauen, unbemerkt zwei Schachteln aus der Munitionskiste nehmen, und dann nichts wie weg.
»Wenn du nicht sicher bist, dann lass es«, hatte Brandt ihr eingeschärft. »Dieser Mann …«
»Ruger kann nicht auf mich verzichten«, erwiderte Jenny. »Wer soll seine Leute behandeln, wenn er mich tötet?«
Die Sonne bewegte sich nicht vom Fleck. Die Zeit schien still zu stehen. Brandt schaute vom Tor der Scheune zum Schützen auf dem Dach, zu den Männern am Feuer, zur Sicherungspatrouille und wieder zum Scheunentor. Mücken zerstachen ihm Gesicht und Nacken. Schweiß biss in die Augen.
Endlich! Jenny trat heraus und ging mit leichtem Schritt an den Wachen vorbei. Brandt sah, wie ihr blonder Pferdeschwanz im rötlichen Licht der Sonne wippte. Sie hatte sich fünfzig Meter oder mehr von der Scheune entfernt, als Ruger herausstürzte. Er brüllte etwas, fuchtelte mit seinem Gewehr.
Brandt stockte der Atem. Lauf, flüsterte er. Lauf um dein Leben!
Ruger schwankte. Er riss seine Waffe hoch und feuerte. Das Sturmgewehr knatterte, und Brandt sah, wie hinter Jenny Erde hochspitzte. Sie rannte los.
Die Männer der Sicherungspatrouille hatten noch nicht verstanden, was hier passierte, doch jetzt schrie Ruger ihnen etwas entgegen. Zögernd hoben sie die Gewehre. Auch der Schütze auf dem Dach legte an. Einige Sekunden lang zielte er durch das Glas seiner Repetierbüchse.
Feuerstöße zuckten aus den Sturmgewehren, bereits die ersten Schüsse trafen Jenny, und sie stürzte. Brandt sah, dass sie sich noch bewegte. Dann krachte das Jagdgewehr des Schützen auf dem Dach. Die Kugel zerschmetterte Jennys Hinterkopf.
Brandt ließ den Feldstecher sinken. Das Blut rauschte in seinen Schläfen, als er durch das Dickicht zurück in den Wald kroch. Irgendwann stemmte er sich hoch, es dämmerte schon. Brandt wankte, machte eine paar Schritte, dann setzte er sich wieder, lehnte seinen Rücken an den glatten Stamm einer Buche. Er fuhr sich mit der Hand über das zerstochene Gesicht und wartete auf den Anbruch der Nacht.
Elias und Brandt saßen in der Küche am Tisch. Die eiserne Feuertür des Kochherds klirrte leise im Luftzug. Lange sprach niemand ein Wort.
»Ich werde sie alle töten«, sagte Brandt, als bereits der Morgen dämmerte.
»Rette nur den Jungen«, sagte Elias. »Das ist alles, was zählt.«
Brandt ballte die Fäuste. »Ich muss mich in der Gegend umsehen, ein paar Häuser durchsuchen.«
»Weshalb?«
»Ich brauche Munition, zumindest ein paar Schuss für den Repetierer.«
Elias nickte. »Es gibt eine Jagdhütte in den Wäldern, ein paar Kilometer nördlich von hier. Ich kann es dir auf der Karte zeigen.«
»Warum habt ihr mir davon nichts gesagt?«
Elias zuckte die Schultern. »In der Hütte ist nicht mehr viel zu holen, Jenny war schon ein paar mal dort. Aber sie könnte etwas übersehen haben. Du solltest es versuchen.«
Als Brandt am nächsten Abend zurückkehrte, schaute Elias ihn erwartungsvoll an. »Und?«
Brandt legte seine Sachen ab und griff in die Brusttasche der Armeejacke. Er stellte die Patrone auf den Tisch. Die Messinghülse glänzte golden im Licht der Gaslampe.
»Nur ein Schuss?«, fragte Elias.
»Das wird reichen«, erwiderte Brandt.
Am Morgen war Elias früh auf den Beinen. Brandt hörte, wie er von Zimmer zu Zimmer ging.
»Was tust du?«, rief er durchs Haus.
»Ich packe unsere Sachen«, gab Elias zurück. »Wir werden hier nicht mehr sicher sein.«
»Und wohin sollen wir gehen?«
»Vielleicht zur Jagdhütte, das wäre ein Anfang.«
Etwas später, Elias legte im Herd gerade Holzscheite nach, trat Brandt in die Küche und stellte den Schweinslederkoffer auf den Tisch. Er öffnete ihn, holte die Plastikwasserflasche und das Panzerband hervor.
»Kannst du mir kurz helfen?«, fragte Brandt.
»Sicher.« Elias wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. »Was soll ich tun?«
Brandt schloss den Koffer, stellte ihn zur Seite und legte das Jagdgewehr auf den Küchentisch. Er löste ein paar Streifen vom Panzerband und klebte sie an die Tischkante.
»Schieb die Flasche über die Laufmündung. Ja, so ist es gut. Halte sie gerade.«
»Was soll das werden?«, fragte Elias. Er verfolgte, wie Brandt die Flasche mit dem Klebeband zunächst am Lauf des Gewehrs fixierte und sie dann kreuzweise umwickelte.
»Wird halten«, sagte Brandt, und als er sah, dass Elias ihn noch immer verständnislos anschaute, fügte er hinzu: »Das dämpft den Mündungsknall.«
Nebel lag über der nächtlichen Landschaft. Feuchtigkeit kroch in die Kleider, beschlug das Glas des Zielfernrohrs. Brandt lag frierend im Dickicht des Waldrandes und ging noch einmal alle Schritte seines Plans durch. Als die patrouillierenden Männer hinter der Scheune verschwanden, lud er die Patrone in das Jagdgewehr. Das Zielfernrohr hatte er bereits justiert. Er schätzte die Entfernung auf hundertfünfzig Meter.
Als sich das Fadenkreuz über die Silhouette des Schützen auf dem Dach der Scheune schob, hämmerte der Puls in Brandts Schläfen. Er atmete durch und wartete. Allmählich beruhigten sich seine Nerven, und dann war er bereit.
Er presste den Gewehrkolben in seine Schulter, zielte auf den Kopf des Schützen, in Höhe von Nase und Ohren, sein Finger suchte den Druckpunkt des Abzugs. Der Kolben stieß ihn mit scharfem Ruck, als die Waffe knallte. Der Späher auf dem Dach der Scheune brach zusammen.
Brandt legte das Gewehr ab, ergriff die Schrotflinte und lief los.
Die beiden Wachen der Patrouille mussten etwas bemerkt haben. Die Gewehre im Anschlag näherten sie sich der Scheune. Sie standen dicht beieinander, verständigten sich mit Handzeichen.
Brandt umging sie in weitem Bogen und schlich sich dann von hinten an. Als er den ersten Schuss mit der Flinte abfeuerte, war er kaum zehn Meter von ihnen entfernt. Die Schrotgarbe streckte einen der beiden Männer sofort nieder, der zweite taumelte, machte noch ein paar Schritte und fiel dann ins Gras.
Brandt sprang auf, lief zu ihm, entwand dem Toten das Sturmgewehr. Er warf sich zu Boden, bettete den Vorderschaft der Waffe auf der Leiche und zielte. Als Sekunden später drei Männer aus der Scheune stürzten, zerfetzte sie das Dauerfeuer das Sturmgewehrs.
Brandt griff zum Magazinhalter am Gürtel des Toten, schleuderte das leere Magazin aus der Waffe und lud nach. Wenige Augenblicke später war er in der Scheune, schoss, sprang von Deckung zu Deckung. Dann wurde es still.
Als er mit dem Jungen auf dem Arm wieder ins Freie trat, dämmerte im Osten bereits der neue Tag.
Schwer atmend setzte Brandt einen Fuß vor den anderen. Immer wieder musste er daran denken, wie er vor Rugers Leiche gestanden hatte. Er wollte auf diesen Körper spucken, das Gesicht mit dem Stiefel zertreten, er wollte …
Doch Elias hatte recht. Alles, was jetzt zählte, war der Junge. Er wusste es, wenn er fühlte, wie sich das Kind an ihn schmiegte, wenn er das wilde Pochen seines Herzens an der Brust spürte.
Im Morgengrauen erreichte er das Haus. Die Tür stand offen. Brandts Hand zitterte, als er die Fünfundvierziger aus dem Holster zog. Er schaute in alle Räume, ging wieder nach draußen und nach hinten zum Hof. Bis zum Brunnen war es nicht weit.
Unwillkürlich fing er an zu laufen. Er presste Jonathan an sich und rannte. Rannte, bis jeder Atemzug in der Brust brannte.
Und dann sah er es. Die Leiche des alten Mannes lag im Gras. Über ihr, die bösen Augen starr auf Brandt und den Jungen gerichtet, hockte die Kreatur aus dem Wald, bleckte die Zähne.
»Nein«, stieß Brandt hervor und hob die Waffe. Er entsicherte, der Finger legte sich gegen den Abzug, doch dann erstarrte er und stand einfach nur da, mit erhobenem Arm, das Kind an sich gepresst. Brandt beobachtete, wie sich die Kreatur aufrichtete, umwandte und mit tierhafter Gewandtheit im Dickicht des Waldrandes verschwand. Bevor das Wesen ganz von den Schatten verschluckt wurde, blickte es noch einmal zurück und fixierte Brandt mit einem letzten drohenden Blick.
Brandt ließ die Waffe sinken, schob sie ins Holster an seinem Gürtel. Er drehte sich um, streichelte den Kopf des Jungen auf seinem Arm und ging zurück zum Haus.