Der rosarote Fleck
Der rosarote Fleck
Wie das verhängnisvolle Blitzen explodierender Sonne schwach in der Erinnerung eines Erblindeten verhaftet ist, begann der Schrecken beinahe unbemerkt und wurde anfangs vielleicht gar nicht mit all dem Grauen in Verbindung gebracht, das bevorstand.
--- William Peter Blatty („Der Exorzist“) ---
Als Josephine Grandel nach Tunesien in Urlaub fuhr, schien alles in bester Ordnung.
Sie verbrachte dort die schönste Zeit ihres Lebens – sie ging viel am Strand spazieren, unterhielt sich wundervoll mit den Menschen und schlief besser denn je.
Den Urlaub hatte sie sich so sehr gewünscht. Und sie hatte lange arbeiten müssen, bis er in ergreifbare Nähe kam, denn sie war nichts weiter als eine billige Kraft in einem Männerberuf; sie arbeitete für läppisches Geld auf dem Bau.
Ihr Traum war Tunesien und schnell wurde er sowas wie abgöttisches Verlangen für sie.
„Ich werde das kriegen, verstehst du?“, hatte sie Jason, einem guten Kumpel von ihr, erklärt. „Niemand wird mich aufhalten, es zu bekommen. Das wäre nicht fair.“
Jason war für sie lange Zeit ein sehr guter Freund gewesen.
Er hatte sie nur fassungslos angestarrt.
„Kenne ich dich wirklich nicht mehr?“, hatte er gemurmelt und sie mit seinen forschen Augen durchbohrt.
„Ich werde dort hin gehen und ich frag dich nur einmal, ob du mitkommen willst.“
Sie wußte nicht, was sie sich davon versprach, ihn einfach so einzuladen, aber sie vermutete, daß sie dabei war, sich in ihn zu verlieben.
Jason war mitgegangen und er hatte sich im Urlaub prächtig mit einer fünfundzwanzigjährigen Thailänderin vergnügt, während sie einsame Strandspaziergänge unternahm. Und während sie sich weinend in den Schlaf wiegte.
Er wird mir nie mehr so weh tun, dachte sie in den einsamen Stunden, in denen die Sonne nur für sie unterzugehen schien.
Während der Wind mit ihrem Haar spielte und die Sonne sich von ihr verabschiedete, schöpfte sie neuen Mut. Denn; wer war Jason schon? Wer war er schon, daß er ihr alles vermiesen konnte?
Sie ging den Strand entlang und am nächsten Morgen meldete sie sich (ganz allein, ohne Jason – der hatte ohnehin Besseres zutun) bei einer Campingübernachtung an. Aus einer wurden zwei. Aus zwei drei. Aus drei vier.
Und das war wirklich die schönste Zeit ihres Lebens.
Sie hatte Billy kennengelernt. Billy, der magere, schüchterne, blonde Mann mit den sanften, grünen Augen und den Bartstoppeln. Billy, der immer so aussah, als würde er sofort zu heulen anfangen.
Sie hatte noch nie jemanden wie ihn gekannt, der sofort zu spüren schien, was sie wollte. Und vor allem hätte sie so eine Begegnung niemals für möglich gehalten, nicht, in den Stunden ihrer tiefen Enttäuschung Jason gegenüber.
Sie ging mit Billy am Strand spazieren. Sie lachten viel, scherzten, badeten, spritzten sich am Feuer naß und erzählten sich Gespenstergeschichten.
Und das vier Tage lang. Vier wundervolle Tage lang.
Ihr Herz schlug schneller – immer schneller, wenn er in der Nähe war. Sie war ein vorsichtiges Mädchen, ja, das war sie, doch manchmal, da schoß sie die Vorsicht zum Mond - und am dritten Tag übernachtete sie bei Billy im Zelt.
Es war wunderschön gewesen, wie im Märchen – verflogen waren die Gedanken an Jason und seine Thailänderin. Verflogen war ihr Schmerz, ihr Kummer. Verflogen waren auch die einsamen Sonnenuntergänge, die sie mit um die Knie geschlungenen Armen begutachtet hatte.
Tunesien war ein Erfolg gewesen. Auch, wenn die schönen Stunden, die Tage des Aufenthalts dem Ende immer näher rückten, war Tunesien für Josephine Grandel ein Ort des Glücks gewesen. Sie würde noch dran denken, wenn sie hundert war – immer vorausgesetzt, sie würde jemals so alt werden.
Doch das, was sie als Andenken mit nach New York nehmen sollte, war mehr als nur der blanke Horror.
Sie stand vor dem Spiegel und begutachtete einen rosa Fleck an ihrer Wange. Sie tastete ihn mit den Fingern ab und zuckte mit den Achseln.
Ich kann ja immer noch zum Arzt gehen, wenn es schlimmer wird – was auch immer das sein soll.
Sie griff grinsend nach dem Telefonhörer und rief Billy an, der so viele Meilen weg war – so viele Meilen in Tunesien, ein Ort, den sie niemals vergessen sollte.
Zwei Tage später wuchs der rosa Fleck - aber sie bemerkte es nicht, weil sie mit einer Grippe im Bett lag.
Am dritten Tag war er schon so groß wie eine Silbermünze. Er war nun von einer rosanen Blase umwachsen.
Joey stand vor dem Spiegel und tastete ihn ab. Langsam bekam sie es wirklich mit der Angst zutun.
Verdammte scheiße, ich muß zum Arzt gehen... Ich muß meinen Hintern zu einem Arzt bewegen...
Aber sie hatte wahnsinnige Angst davor, zu erfahren, was das war. Wie gebannt starrte sie auf ihr entstelltes Spiegelbild und weinte lautlose Tränen.
Krebs. Was ist, wenn es Krebs ist? Gott, du bist erst zwanzig Jahre alt und schon...
Sie griff nach dem Telefonhörer und umklammerte ihn, als würde ihr Leben daran hängen. Das Telefon stand neben ihr auf der Badezimmerkommode.
Sie wollte Billy sowieso anrufen. Sie rief ihn immer an, wenn sie morgens aus dem wohligen Bett geschlüpft war und im Bad stand (noch hatte sie ja Urlaub, da konnte sie es sich erlauben). Das war wie eine schlechte Angewohnheit von ihr. Ihre Freundin Selly hatte schon mehr als einmal darüber grinsend den Kopf geschüttelt.
„Joey, Joey, Joey, du bist wirklich unverbesserlich komisch!“, hatte sie gesagt.
Als Joey in diesem Moment daran dachte, brach sie in Tränen aus und ließ den Telefonhörer fallen. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und weinte und weinte... - diesmal hielt sie das Schluchzen nicht zurück.
Solange ich weine, lebe ich.
Als sie sich am Waschbecken wieder in die Höhe zog, hörte sie Selly immer noch lachen.
Als sie in den Spiegel sah, sah sie nur diesen großen, rosaroten Flecken auf ihrer linken Wange, der ihr entgegen grinste.
Hallo Joey, schien er zu sagen, ich komm dich holen. Ich komm dich einfach holen, Joey.
„Hallo Joey“, sagte Billy, viele Meilen von ihr entfernt.
Nein, begrüß‘ mich nie wieder mit diesen Worten, Billy, bitte...
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und hoffte, er würde ihr Schluchzen nicht bemerken. Doch in den wenigen Minuten ihrer Gemeinsamkeit hatte sie schon begriffen, daß sie sich blendend verstanden; es war schwachsinnig von ihr, anzunehmen, Billy würde nicht bemerken, daß es ihr schlecht ging.
Natürlich würde er das.
„Alles okay?“, sagte er, als hätte er die unverbesserliche Joey gehört.
„Ja... Nein...“ – sie begann zu stottern.
„Joey... hast du... jemanden kennengelernt oder so? Dieser Jason... hat Jason...“
„Nein, Billy. Mir... mir geht es nicht so gut.“
Und darauf beließ sie es. Sie wollte ihm nicht von ihrer Häßlichkeit, von diesem häßlichen Ding auf ihrer Wange erzählen. Sie wollte nicht, daß er anfing, ein anderes Bild von ihr zu bekommen...
Ohne es zu wissen machte sie damit einen großen Fehler.
Am sechsten Tag nach ihrer Rückkehr aus Tunesien wachte sie mit einem Pulsieren in der Wange auf. Sie biß in die Bettdecke und starrte die Rolläden an, die schon das Tageslicht durchscheinen ließen.
Das war ein wundervoller Urlaub, Joey... und es tut mir leid, dir sagen zu müssen, daß es auch dein Letzter war. Weißt du, es ist gut, wenn man bye-bye und winke-winke sagt, so lange man noch die Dinge genießt, nicht wahr? Und jetzt ist die beste Zeit, winke-winke zu sagen, Joey-Baby. Du wirst deinem Schöpfer gegenüber treten. Was du da an deiner Wange hast, das ist ein Tumor, das ist etwas ganz Großes und Böses – und du hast es dir in Tunesien eingefangen. Es wird dich langsam auffressen... bald sieht dein ganzes Gesicht so aus... und dann dein ganzer Körper... alles an dir wird so aussehen. Das ist eine Krebsart, Joey. Und diese Krebsart, die findet man nur in Tunesien. Und weißt du noch was? Die befällt nur kleine Mädchen, die meinen, ihr perfektes Glück im Urlaub gefunden zu haben.
Kleine Joeys eben. Sie befällt einfach so kleine Joeys wie dich.
Lautlos rannen ihr Tränen über die Wangen, Tränen, die über das Pulsieren ihrer Wange liefen... Tränen, die den Schmerz nicht milderten...
Aber es war ein Schmerz, der nur in ihrem Kopf stattfand.
--- Kleine Joeys eben. Sie befällt einfach so kleine Joeys wie dich ---
Sie wollte nicht aufstehen. Sie wollte nicht ins Bad.
Plötzlich klingelte das Telefon auf ihrem Nachttisch.
(RING RING)
Joey ignorierte es – nein, zuerst hörte sie es gar nicht, dann war es ihr nur noch egal. Sie starrte die Rolläden an und nahm sich vor, einfach ein tapferes Mädchen zu sein. Sie würde nun aufstehen, zwei Schritte machen – zwei große Schritte für ein kleines Mädchen wie sie -, die Rolläden hochziehen und hinausschauen. Auf New York herabschauen. Sie würde einfach...
Ihre Post. Ihr Briefkasten. Sie mußte hinunter gehen und sie holen.
Nicht mit diesem Gesicht, Joey.
Sollte sie einen Arzt nach Hause bestellen?
--- Es ist Krebs, Mädchen, mach dir doch nichts vor. Es ist einfach eine Tunesien-Krebsart, die du dir in der glücklichsten Zeit deines Lebens einfangen mußtest. Du Dummerchen. Und mehr gibt es auch nicht zu sagen; es wird dich töten. Es wird dich auffressen, es wird- ---
„Halt die Klappe“, sagte sie und richtete sich auf. Ihre Stimme klang erstaunlich rauh und bestimmend.
Das ist das Adrenalin in meinem verdammten Kopf...
(RING RING)
War es schwächer geworden, das Klingeln des Telefons?
Sie starrte es an, als wäre es Schuld an allem Elend. Dann griff sie nach dem Hörer und...
- O Joey, du bist einfach unverbesserlich komisch! -
... hob ihn ab und schmetterte ihn wieder auf die Gabel. Sollte doch der Teufel den Menschen am andere Ende der Leitung holen.
Es war Krebs. Sie konnte nichts daran ändern.
Sie stand auf und hörte das Ächzen ihrer alten Bettfedern. Sie traute sich nicht, den rosaroten Fleck abzutasten... Aber... sie mußte ihn sehen... Sie mußte... mußte...
Warum willst du es sehen? Es bringt doch nichts... es macht alles nur schlimmer. Friste dein Dasein vollends hier... in deinen eigenen vier Wänden.
Mach den Spiegel kaputt.
Sie ging ins Bad, griff nach ihrer Bürste und stand mit dem Rücken zum Spiegel. Nein, sie würde sich nicht umdrehen, nicht bevor-
(!!!!!! RING RING !!!!!!!)
Das Telefon. Wahrscheinlich war es Selly, die ihr von ihrem Tennistrainer erzählen wollte... Oder es war Billy, der sich um sie sorgte...
Der Gedanke an Billy brachte sie zum lachen.
Jetzt werde ich hysterisch.
Sie stand da, die Bürste in der einen Hand und lachte sich halb tot. Dabei spürte sie, wie sich die Haut um den roten Fleck zog... Nein, das war kein roter Fleck mehr, das war.. das war...
--- Geschwülste, Joey. Du hast Geschwülste an der Wange. Noch 24 Stunden und es wird deinen ganzen Kopf einnehmen, noch 24 Stunden, noch 24 Stunden, noch- ---
„Nein“, hauchte sie und drückte die Bürste in ihrer Hand.
Sie würde sich jetzt umdrehen... sie würde sich das Haar glätten und bürsten, dann würde sie aufstehen und zum Arzt gehen. Oder sie würde ihn anrufen und...
(RING RING)
Das Telefon brachte sie noch zur Weißglut. Wenn es nicht sofort aufhörte, würde sie explodieren... Noch mal fand sie sicher nicht die Kraft, ins Badezimmer zu gehen, also blieb sie einfach da, wo sie war.
„Hör auf“, sagte sie mit bebenden Lippen.
Dann grinste sie und es entstellte ihr Gesicht erst recht.
Ihre Wange pulsierte und nun glaubte sie, es bewege sich darunter etwas.
Sie kämmte sich das Haar und dachte dabei an Billy.
(RING RING)
(RING RING)
(!!! RING RING !!!)
„Verfluchte Scheiße!“, brüllte sie plötzlich, drehte sich in Richtung Telefon um - und plötzlich entglitt ihre Bürste, berührte die Wange, kratzte sie auf und...
Etwas bewegte sich... vieles bewegte sich. Sie drehte sich um, weil sie es spürte, wie Tausend wuselnde kleine Finger...
Sie drehte sich um und sah in den Spiegel. Dann schrie sie, bis sie keine Luft mehr bekam. Sie schrie, lachte, schrie und weinte zugleich.
Dann fiel sie.
Mrs. Margray hörte Joeys Schreie. Sie rannte sofort zum Hausmeister und weil sie – eine Frau mit grünen Lockenwicklern im Haar – so voller NEUGIER war, riß sie dem Hausmeister (einem kleinen, ungebildeten Zwerg mit Hornbrille) den Schlüssel zu Joeys Zimmer aus der Hand - und rannte selbst die Treppen hinauf.
Sie fand Josephine Grandel ohnmächtig auf dem Boden ihrer blauen Badezimmerfliesen liegen.
Später wurde Joey in eine Psychiatrie eingeliefert.
Sie hatte einen totalen Nervenzusammenbruch erlitten.
Die Wunde wuchs wieder zu und hinterließ nur eine ganz kleine Narbe.
Doch als Margray sie so daliegen sah, schrie sie aus vollem Herzen. Sie schrie, wandte sich von Joey ab, ignorierte das klingelnde Telefon auf Joeys Nachttisch – und rannte zurück in ihre Wohnung, wo sie den Notruf alarmierte.
Was sie so erschreckte, war ganz simpel: Tausend kleine Spinnen liefen über Joeys Wange, dort, wo nun nur noch ein aufgeplatzter Krater war, waren nun Eiterkugeln und... Spinnen. Kleine, schwarze Spinnen.
Sie krabbelten ganz geduldig in Joeys Ohren. Sie krabbelten noch viel geduldiger in Joeys offenstehenden Mund und sie machten noch nicht mal Halt davor, in Joeys Nachthemd zu wuseln.
Tausend kleine Spinnen, ein Geschenk Gottes, aus Tunesien.
Stefanie Kißling, 6. Juni. 2001
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Die Geschichte ist wahrhaftig nichts Besonderes und ich will erwähnen, daß die Idee auch nicht von mir stammt; ich habe das nach einer recht unheimlichen Erzählung meiner Mutter aufgeschrieben, die es mal vom "Hörensagen" aufschnappte.
Auch, wenn es unglaublich zu sein scheint, hat sich das wirklich zugetragen. Jedenfalls ANGEBLICH.
Ich habe mir natürlich einige Freiheiten genommen und alles etwas ausgeschmückt, aber die Handlung (und die Sache mit dem Fleck) ist nicht von mir frei erfunden.