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Der nächste Schritt
Als ich die Einladung bekomme, will ich eigentlich nicht. Menschenmassen sind nicht so mein Ding, Feiern schon gar nicht. Ich überleg, ob ich wieder absagen soll, finde aber keinen vernünftigen Grund, »Nein« zu sagen. Also geh ich und wage den Schritt von meiner Wohnung in die Kälte. Ich zünd mir dann zur Beruhigung eine Zigarette an und mache mich auf, die hundert Meter. Ich klingel brav an der Wohnungstür, wo mir Musik und Gespräche auch schon sehr laut vorkommen, und leg meinen Mantel ab.
Man kann nicht sagen, dass ich ein Unterhalter bin auf diesen Feiern. Wobei ich mich hervorragend unterhalten kann, wenn ich alleine bin. Auf Feiern jedoch, da beobachte ich nur, pule an der Bierflasche, während die Menschen um mich aufgehen in diesem Schmelztiegel der Lustigen. Pling, pling, machen da die Synapsen. Ich glaube, sie fast zu hören, wenn alle beschwingt durchs Zimmer gehen, von einem zum nächsten und zum zweitnächsten. Dazwischen: Ich.
Versteht mich nicht falsch. Ich hab nichts gegen diese Menschen. Meistens sind sie sogar furchtbar lieb zu mir, die alten Bekannten, klopfen mir auf die Schulter und ich liebe sie auch dafür. Auch deshalb mach ich mit, aber eben nur am Rande. Ich bin, das kann ich so sagen, Tapete. Aber lasst mich das erklären, denn das ist mir wichtig: Ich liebe es, zu beobachten. Ich speicher alles ab und hol es wieder hervor, wenn ich allein bin. Mein Gehirn ein einziger Flickenteppich aus alten und neuen Erinnerungen. Aber ich kann eben nur beobachten, richtig beobachten, wenn ich nicht Teil des Ganzen bin. Mir ist das auch egal, ob mich diese Feierlaunigen nach fünf Minuten vergessen haben oder mich nicht mit Namen ansprechen, weil sie ihn sich eh nicht merken können. Oder wollen. Wozu auch? Ich geb ihnen keinen Grund dazu. Ich bin der, der einfach da ist und keine Eigenschaften hat, an die sich die Synapsen reiben können. Pling, pling, das gibt's bei mir nicht. Aber was ich selbst alles mitschneiden kann! Eine Berührung, ein Blick, eine unausgesprochene Frage, es ist wie ein Dschungel zwischen Küche und Wohnzimmer, den ich durchschreite wie der staunende Humboldt das Amazonasgebiet. Dazu noch ein schönes Kippchen. Wer will sich da beklagen? Ich krieg dann so ein Kribbeln im Bauch und wippe leicht mit den Fersen in der Küche, sehe dabei zu, wie die unterschiedlichen Menschen hier Temperatur ansetzen oder nicht. Die aufgehen wie Popcorn, oder eben nicht. Ich sammle meine Beobachtungen mit eifriger Neugier. Was soll ich auch sonst machen? Ich gehör hier einfach nicht her und betrete diesen Dschungel dennoch. Pling, pling, machen dann auch meine Synapsen.
Doch manchmal wird mir das alles auch zu viel. Zu viele Stimmen aus zu vielen Richtungen. Ich hüpfe mit den Augen von einem zum anderen und kann nicht entscheiden, wo ich hinhören soll. Ich nicke nur noch, wenn mich doch mal einer anspricht, und will noch mehr Tapete sein als ich eh schon bin. Ich versuch, mich dann auf etwas Leichteres zu konzentrieren. Wie jemand einen Cocktail mixt zum Beispiel. Wie er Limetten aufschneidet und mit dem Zucker zerstampft. Eis rein, Rum darüber. Nicht so viel, gut Freund. Ein volles Becherlein will da schon reichen!
Manchmal geh ich auch einfach und mach einen Spaziergang. Das tut mir gut und meistens verstehen das alle.
Auch heute ist das wieder so. Ich pul noch an meiner Bierflasche herum und plötzlich steht da diese Frau mit etwas im Blick, ich weiß nicht was. Und ganz wilden Locken. Ihr Duft, den ich so mag und den nur Frauen tragen können, weht zu mir herüber. Ich mag ihr scheues Lächeln. Ich lächel auch zurück, aber weiß schon, dass da nichts mehr kommt. Den schweren Schritt, den ersten nämlich, den wag ich nie. Und ich versteh das, dass sie mich auch nicht den ganzen Abend anlächeln kann. Also nehm ich meinen Mantel mit Bedauern und schließe die Tür zur Wohnung hinter mir.
Draußen, in der Winterluft, in der Nacht und mit dem Schnee unter mir, gewinnt die Ruhe wieder Oberhand. Auch hier kann ich beobachten. Hören auf das, was wichtig ist. Die Natur der Stadt, die ich so gerne mag. Ich meine damit nicht den Ruf der Vögel, das „Huh-huh“ einer Eule oder ähnlichen Mist. Ich bin Beobachter, aber kein verdammter Ornithologe. Das waren wirklich schöne Locken, geht es mir da wieder durch den Kopf.
Ich atme die kühle Nachtluft ein und merke schon wieder, wie es besser geht. Ich zünd mir eine Zigarette an und geh so ein bisschen herum, nur zum Spaß. Ich inhaliere tief und nach jedem Zug steck ich meine Hände in die Manteltaschen. Ich mag das. Nur Kippe im Mund, so stapf ich dann herum, komme mir gefährlich vor und stolziere durch die Schneekrume wie einstmals James Dean. Okay, nicht wirklich. Aber ich stelle mir vor, das er so aussehen könnte, wenn er jemals durch eine Schneekrume stolziert war.
Ich geh die Straße weiter, bis ich leise Musik aus einem Café höre. Ein wunderbarer italienischer Sänger ist das. Ich weiß nicht mal, was er singt, aber er klingt so traurig, dass alles in mir ganz weit wird. Dieser Sänger ist so wunderbar und die Menschen in diesem kleinen italienischen Café sind so zusammen und zu zweit und alles. Dort drinnen, das spüre ich, ist die Welt ganz klein und voller Leben. Weingläser und schönes Essen. Und ein italienischer Sänger. Ich freu mich, dass sie es alle warm haben und wippe vor der Glasscheibe ein bisschen mit im Takt. Jeder ist da, wo er hingehört und ich bin mit mir im Reinen. Das ist schon okay so. Ich hab ja immer noch die Kippchen. Und die Kälte macht mir nun wirklich nichts aus.
Ich gehe weiter und im Vorbeigehen küsse ich noch meine Hand und drücke sie ganz fest gegen die Fensterscheibe des Cafés. Ich liebe diese wunderschönen fremden Menschen, auch wenn sie mich traurig machen. Und glücklich. Ich bin ganz froh, dass ich das niemandem erklären muss. Ist einfach so.
Der Wind schneidet langsam und da ich immer noch nicht umkehren will, stapfe ich ein kleines Stück weiter und ohne wirklichen Entschluss, aber doch mit einer Ahnung, steige ich die Rolltreppen zur S-Bahn hinunter. Es sind nicht viele Menschen um diese Zeit unterwegs. Ich betrachte sie neugierig, wie sie auf den Stufen stehen und habe sie schon vergessen, noch ehe ich unten bin.
Ich gehe durch die weißgekachelte Halle, immer nach Westen und zwei Mal der Biegung folgend, bis ich ihn sehe. „Ihn“, das ist Joe, oder zumindest nennt er sich so. Ich glaube, er heißt Johannes, aber ich hab ihn nie gefragt. Er grüßt, kaum dass er mich sieht, richtet sich auf der Fransendecke auf, so würdevoll, bis der Rücken ganz grade ist. Den Pappbecher lässt er nie aus den Augen. Er sieht mich, grinst mich an mit schlechten Zähnen, doch ich sehe, dass sein Blick immer schräg rüberwandert zu dem Messing im Becher, manchmal auch glänzenden Nickel und immer kleinen Kupfer.
Joe lupft seine Mütze, ein Cap, darauf das Logo einer Baseballmannschaft. Manieren hat er ja, der Joe. Das ist mir als erstes aufgefallen. Echt sympathisch und höflich, auch wenn man ihm mal nichts gibt.
Als er eines Morgens meine Münze aus dem Pappbecher fischte und mir nach sorgfältiger Prüfung das Wechselgeld zuwarf – „Von Freunden nehm ich nur die Hälfte. Pennerehre nennt sich das.“ - ja von da an hatte ich so ein luftiges Gefühl im Magen. Ich bin froh, dass ich sein Freund bin.
Ihr solltet mal sehen, wie gebildet der ist. Kein Zeitungsleser, ein Zeitungsdurchleser. Und nicht die Bild –„Nein, nein, zum Arschwischen. Nix da“ – und dabei winkt er so lässig mit der Hand ab. Aber jede andere Zeitung, die liest er. Am liebsten Sport, immer Politik und auch Finanzen. In den Mülltonnen liegen ganze Schätze von Zeitungen. Das Wissen der Straße. Joe hat eine Menge davon. Und er teilt es gerne. Er ist kein Klugschwätzer, wie man meinen könnte. Obwohl er die Anlagen besitzt. Er belehrt auch nicht. Bei ihm hab ich immer das Gefühl, ich wäre selbst auf die Lösung eines Problems gekommen, und es passiert nur rein zufällig, dass er daneben sitzt. Wie hingewischt, ein einziger Zufall. Aber Bildzeitung, das war zum Arschwischen.
„Wie geht’s, man? Komm hier“, ruf ich ganz glücklich. Ich steck ihm eine Zigarette zu. Es ist unser Ritual. Er zündet sie an und während sein Qualm die Halle durchzieht, erwidert er: „Same old, same old. Sag mal, kennst du noch den Breivik?« Ich nicke ermunternd, voller Vorfreude auf eine Geschichte. Ich nicke jedes Mal. »Wusstest du, dass die halbe Osloer Polizeistaffel gerade beim Betriebsausflug war, als der richtig losgelegt hat? Sind besoffen aus irgendeiner Filipino-Bar gestolpert. Mit diesen ganz feschen Damen an der Hand. Die treiben’s nicht unter 2000 Kronen die Stunde, ich sag’s dir. High Class. Keine Ahnung, wie die an sowas Feines rangekommen sind. Wahrscheinlich wäscht da eine Hand die andere. Dann kam Breivik, ballert um sich und die Sache wird totgeschwiegen. Einfach so. Staatsräson, verstehst du? Zum Arschwischen. Ne, wirklich. Da kann man sagen, was man will. Zum Arschwischen.“
„Komm Mensch, das hast du dir ausgedacht«, sage ich vergnügt, will es aber heute gar nicht so genau nehmen mit der Wahrheit. »Nicht mal die Bild würde das schreiben.“
„Moi?“ Und er greift sich so unschuldig an seine Brust und zieht empört die Augenbrauen hoch. „Non, non, Monsieur. Die haben’s vogelwild getrieben, ich sag’s dir.“
Dann grinst er breit mit seinen schwarzen Kokszähnen und es grenzt an ein Wunder, dass sie noch nicht ausgefallen sind. Aber ansonsten ist er nett, der Joe. Der redet immer so. Klar haut er manchmal seine Rassistensprüche raus und dann muss ich ihm auch sagen, dass das nicht in Ordnung ist. Aber der ist schon okay. Er liest viel und wenn ich ihn was frage zu irgendeinem politischen Thema – Afghanistankrieg, die Palästinenser, oder die sorbische Minderheit – dann hat er immer etwas zu erzählen. Und ich hab so einen eingebauten Apparat, mit dem ich seinen Quatsch von den Fakten trennen kann. Am Ende bin ich dann doch schlauer, auch wenn er nur über die Illuminaten redet. Das passt. Er und ich, wir sind ein gutes Team. Und wenn ich ihm dann so zuhöre, wie er erzählt und erzählt, dann geht die Zeit schnell um, das sag ich euch. Ich muss nicht mehr an die Leute in dem Café denken, nicht mehr an die wilden Locken, an die Feiern, an alle Feiern, die mal waren. Ich pass da einfach hin zu Joe.
Wir rauchen und quatschen, das heißt, meistens quatscht Joe und ich setz mich zu ihm auf die Fransendecke. Ich hör ihm zu, beobachte die Leute, bevor sie die Rolltreppe nach oben nehmen und wenn er dann fast aufgeraucht hat, dann steck ich ihm wieder eine Zigarette zu, die er sich an der alten anmacht. So kann ich eine gute Stunde verbringen und am Ende weiß ich dann mehr über die Sorben in der Niederlausitz, als wenn ich auf der Feier geblieben wäre, wo ich eh nur Tapete bin.
Doch am Ende gehen meine Zigaretten aus und Joes Mund wird trocken, das hör ich ganz deutlich. Ich steck ihm die letzte zu und er ruft mir noch hinterher: „Der Breivik, ich sag's dir, der ist zum Arschwischen!“
Der ist schon okay, der Joe. Ich wink ihm kurz zu und das war‘s. Joe weiß, dass ich wiederkommen werde und ich weiß, dass er wieder vor seinem Pappbecher sitzen wird, genau dort wo ich ihn zurückgelassen habe.
Der Weg zurück fühlt sich steiler an, als ich zur Feier zurückgehe. Nicht, dass der Gehweg ansteigt oder so, aber ich spüre, wie meine Beine schwerer werden und etwas in mir drin plötzlich langsamer gehen will. Ich überlege kurz, ob ich Joe nicht fragen soll, ob er mitkommen will. Nur kenn ich schon seine Antwort: „Zum Arschwischen.“
Ich nehm diesmal die andere Straßenseite und seh das Café nur aus der Ferne. Warum beklag ich mich eigentlich? Ich kenn die Leute, die mich erwarten, alles anständige Menschen. Nur tun sie mir leid, weil sie so verdammt langweilige Leben führen. Ich überlege, dass sie dasselbe von mir denken könnten und muss dann ein bisschen lachen. Aber nur ein bisschen. Und dann hab ich ein schlechtes Gewissen, weil ich die Nase so verdammt weit oben trage. Das macht mich ganz fertig.
Ich entscheide mich, auf der Feier noch mal vorbeizuschauen. Denn Sachen, die man anfängt, muss man auch zu Ende bringen.
Ich habe mir geschworen, wenn der letzte Gast nach Hause gegangen ist, dann nehm auch ich meinen Mantel und dann war's das. Morgen, wenn ich wieder zur Arbeit muss, quatsch ich ein letztes Mal mit Joe, nehm die S-Bahn zum Hauptbahnhof und hau ab. Einfach so. Nur ein bisschen Freiheit. Ich brauch nicht mal Geld dafür.
Jeden Morgen auf meinem Weg zur Arbeit steht auf dem Parallelgleis der Fernzug nach Budapest. Abfahrt 08:35 Uhr. Jeden verdammten Morgen denke ich mir, wie es wäre, einfach einzusteigen, anstatt zur Arbeit zu fahren. Ich muss ja gar nicht weit kommen. Der Schaffner würde verdutzt gucken und das wär schon okay, wenn sie mich irgendwo hinter der Grenze rausschmeißen. Ich will nicht wirklich nach Budapest. Ich will nur weg von hier. Und die Geste zählt. Vielleicht würde Joe mitkommen. Auch wenn ich glaube, dass er sich hier wohl fühlt. Er hat es nicht so mit den Ungaren. Die Sorben haben es ihm angetan.
Ich könnt bestimmt den Kopf aus dem Abteilfenster stecken und mir ein Kippchen anzünden. Fahrtwind und allein. Allein, aber frei.
Ja, verdammt, denke ich, während ich ganz energisch an der Wohnungstür klingel, hinter der mir Musik und Gespräche wieder sehr laut vorkommen. Morgen mach ich's. Ist bestimmt nicht schwer. Eigentlich nur ein kleiner Schritt. Und dieses Mal wage ich den ersten.