Während der Freizeit ist mir – eher zufällig als gesucht – in einem Interview am Wissenschaftskolleg zu Berlin ein Interview untergekommen, welches die Beziehung zwischen Vater- und Sohnesglaube, Juden- und Christentum in anderem Licht aufscheinen lässt, als ich es seinerzeit in der Rezension dargestellt hab.
Es geht dabei vor allem um die Beschneidung und die Rolle Isaaks - etwa ab der Stelle
Freud zählt als weiteren Beleg neben der Absage an allen Totenkult - die konsequent angewendet ein Leben nach dem Tod und somit die Unsterblichkeit der Seele ausschließt – die Beschneidung auf …,
zu der sich eine Umkehrung der Deutung des jüdischen wie des christlichen Brotbrechens gesellt im Pessachfest und im Abendmahl.
[zitiert nach „Eine Familiengeschichte“ aus: Köpfe und Ideen, Wissenschaftskolleg zu Berlin 2012, S. 48 – 54. Die christliche Religion ist aus dem Judentum hervorgegangen. Israel Yuval beschreibt, wie sich die jüdische „Mutterreligion“ unter dem Einfluss der neuen Konkurrenz verändert hat. Das Interview führte Ralf Grötker.]
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Ralf Grötker: Eine These, die sich als roter Faden durch viele Ihrer Forschungsarbeiten zieht, lautet: Die Bezeichnung der jüdischen Religion als „Mutter“ des Christentums ist irreführend. Denn obwohl die jüdische Religion zweifellos älter ist als das Christentum, hat diese sich mit dem Aufkommen der vermeintlichen „Tochterreligion“ verändert – und zwar auf eine Art und Weise, in der das Christentum als formierende Kraft eine entscheidende Rolle spielt. Können Sie das anhand eines Beispiels erläutern?
Israel Yuval:Ich habe versucht, das anhand eines Vergleichs zwischen Ostern und dem zur gleichen Jahreszeit stattfindenden Pessachfests zu beschreiben. Ein Detail dieser Gegenüberstellung betrifft die Eröffnungsformel der Pessach-Liturgie. Der Hausvater nimmt eine Mazza, also ein Stück ungesäuertes Brot, in die Hand und verkündet: „Dies ist das Brot des Elends, das unsere Väter in Ägypten gegessen haben; jeder Bedürftige komme und esse.“ Er sagt dies auf Aramäisch, der Umgangssprache im früheren Ostteil des römischen Imperiums, wo die Juden zu Hause waren. Die Sprache und die Positionierung des Spruches zu Beginn der Liturgie setzt ihn in Kontrast zu einer anderen berühmten Formel: „Hoc est enim corpus meum“ – dies ist mein Leib.
Offenbar bildet also die jüdische Eröffnungsformel „Dies ist das Brot des Elends“ ein Gegenstück zu den Worten Jesu beim letzten Abendmahl. „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, heißt es im Evangelium. Es besteht also die Aufforderung, das Brechen des Brotes zum „Gedächtnis“ zu machen, was mit der Übernahme der Formel in die Liturgie der christlichen Messe ja auch geschehen ist. In der Pessach-Liturgie ist dies zugleich übernommen und umgewandelt worden. Nach christlicher Deutung erinnert das „Brot des Elends“ an das Leiden Jesu, nach jüdischer Auffassung dagegen an die Knechtschaft in Ägypten. Diese Erinnerung wurde aber erst in der Liturgie installiert, als das Christentum bereits existierte.
Ralf Grötker: Ein Einwand gegen diese Interpretation, den Sie auch selbst benennen, lautet: Könnte es nicht sein, dass der Passus „Dies ist das Brot des Elends“ schon viel älter ist und von Jesus für seine Zwecke adaptiert wurde?
Israel Yuval: Ja, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Zum einen setzt die Funktion einer „Eröffnungsformel“ einen darauf folgenden Text voraus. Diesen Text, die Pessach-Haggada, gibt es aber erst seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Der Grund dafür ist, dass das Vortragen der Pessach-Haggada sich als Ersatz für eine Opferhandlung ausbildete. Notwendig geworden war dieser Ersatz durch den Verlust der Opferstätte – die Zerstörung des sogenannten Jerusalemer Zweiten Tempels im Jahr 70 nach Christus.
Außerdem gibt es noch ein anderes Indiz. Die Formel „Dies ist das Brot des Elends“ ist in den einschlägigen jüdischen Quellen älteren Datums, also der Mischna und dem Talmud, überhaupt nicht belegt. Die Formel erscheint erstmals in einer Abfassung der Pessach-Liturgie aus dem zehnten Jahrhundert. Einen so spät belegten jüdischen Text kann man deshalb wohl kaum als Quelle eines erwiesenermaßen früheren christlichen Textes betrachten. Mir fällt es jedenfalls schwer, zu glauben, dass die Juden ihr „Dies ist das Brot des Elends“ gesprochen haben sollten, ohne dabei an die ähnliche liturgische Formel der Christen zu denken. So betrachtet, ringen beide Religionen jeweils um ihr Gedächtnis.
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Israel Yuval: … Normalerweise nimmt man an, dass die Mündlichkeit eine kulturgeschichtlich primitive Stufe vor der Verbreitung der Schriftlichkeit darstellt. Bei den Juden war das anders. Gleichzeitig mit der Entstehung der frühesten Bücher der Bibel, also im achten oder im neunten Jahrhundert vor Christus, war im Land Israel, im damaligen Kanaan, die Schrift verbreitet. Viel später, im zweiten oder dritten Jahrhundert nach Christus, begann jedoch plötzlich eine neue Epoche, in der es verboten war, die sogenannte neue Lehre aufzuschreiben.
Dieses Phänomen ist gewissermaßen gegen die Regel: Normalerweise entwickeln sich Kulturen von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Diese umgekehrte Entwicklung bedarf daher einer Erklärung. Meine These ist, dass das Verbot der Niederschrift aus ideologischen Gründen entstanden ist. Die Juden wollten schlichtweg vermeiden, dass ihre Heilige Schrift ein zweites Mal übersetzt und von anderen Kulturen übernommen würde, so wie dies mit der griechischen Übersetzung der Bibel geschehen war. Man muss sich dabei die Dimensionen dieser Texte vor Augen halten. 2.700 Seiten umfasst der Talmud. Es fällt heute schwer, sich vorzustellen, dass es bis ins achte Jahrhundert hinein nicht erlaubt war, diese aufzuschreiben.
Ralf Grötker: Wo sehen Sie weitere Belege für die Wirkung des Christentums auf die jüdische Religion?
Israel Yuval: In der Geschichte von Abraham und Isaak zum Beispiel. Gott will Abraham prüfen. In der Bibel spielt Isaak dabei nur eine Nebenrolle. Aber in den ersten Jahrhunderten wird er zur Hauptperson. In den Versionen der Geschichte, die zu jener Zeit kursieren, willigt Isaak ein, von seinem Vater Gott zum Opfer gebracht zu werden. Gegen Ende des elften Jahrhunderts, zur Zeit der Judenverfolgungen im Rheinland, beziehen sich die Juden immer wieder auf die Opferung von Isaak als einer Geschichte, die zeigt, dass man Gott gehorchen und sich opfern soll. Ich bin der Meinung, dass diese Verehrung von Isaak ein Ausdruck jüdischen Neids auf Jesus ist.
… In der Bibel befiehlt der Engel Abraham im letzten Moment, seinen Sohn nicht zu töten. Aber in den mittelalterlichen Legenden und auch in einigen älteren Erzählungen liest man, dass Abraham mit Gott zu verhandeln begann. Er wollte Gott ein Opfer bringen. Und in einigen Versionen der Legende tat er es auch. Er tötete seinen Sohn. Und was passierte danach? Der Sohn erstand wieder auf. Wie kann man bei so einer Geschichte nicht an die Kreuzigung denken? Eine Judaisierung der Kreuzigung! Und noch mehr kommt hinzu. Die Opferung Isaaks wurde zum Bestandteil der jüdischen Liturgie. Wir Juden wenden uns an Gott und bitten ihn um Vergebung der Sünden – und dabei berufen wir uns auf Isaak. Der Punkt ist: Diese Ausformung der Liturgie gab es im Judentum vor dem Christentum nicht!
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Ralf Grötker: Dabei beziehen Sie aber auch solche Indizien mit ein, die gewissermaßen unsichtbar sind. Sie sprechen hier von „versteckten Diskursen“.
Israel Yuval: Ich versuche, der Psychoanalytiker meiner eigenen Kultur zu sein. Was passierte mit der jüdischen Kultur, als diese auf das Christentum traf? In der Periode, die mich besonders interessiert – dem ersten Jahrtausend –, brachten die Christen viele Bücher hervor, die explizit auf das Judentum Bezug nahmen. Die Nachbarreligion war in nahezu jedem Gebet und jedem theologischen Traktat präsent. Es gibt ein ganzes Genre von Literatur mit dem Namen Contra Judaeos. Die Juden haben nichts in der Weise hervorgebracht. Kein Wort über die Christen. Totales Schweigen. Sie haben kein Contra Christianos. Das erste polemische Buch, das von Juden gegen Christen geschrieben wurde, stammt aus dem zehnten Jahrhundert. Warum dieses lange Schweigen? Eine mögliche Antwort ist: Die Juden waren einfach nicht an den Christen interessiert. Das war lange die übliche Auslegung. Ich kann aber nicht glauben, dass es ihnen egal war. Mir scheint eine andere Erklärung plausibler: Sie wollten einfach nicht zugeben, dass sie ein großes Problem hatten. Da kommt eine neue Religion, mit einer neuen Bibel – und ihre Anhänger behaupten, dass sie die wahren Gläubigen sind.
Ralf Grötker: Wieso konnten die Juden das nicht einfach ignorieren?
Israel Yuval: Das Problem war doch, dass das Judentum immer mehr zu einer Randreligion wurde. Am Ende konzentrierte sich die einstmals weitverbreitete Religion nur noch auf zwei Zentren, eines im Land Israel, das andere in Babylonien. Was geschah mit den Juden in Alexandrien, in Kleinasien, in Nordafrika? Mit vielen Juden in Israel? Vermutlich sind sie konvertiert. In der Geschichtsforschung ist das relativ gut dokumentiert. Aber in jüdischen Quellen findet sich nichts darüber. Dieses Schweigen reflektiert Ideologie. Es ist kein Mangel an Interesse.
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Ralf Grötker: Inwiefern sind diese historischen Fragen für uns heute von Belang? Sie sagen: Die Forschung hilft uns, besser zu verstehen, warum Juden und Christen so lange verfeindet waren …
Israel Yuval: Und befreundet! Ich spreche auch über positive Aspekte. In jeder Familie gibt es Zwistigkeiten. Aber die Juden waren die einzige nicht christliche Minderheit, die im christlichen Europa toleriert wurde. Man kann das Glas halb leer oder halb voll sehen. Man kann die Verfolgung der Juden durch die Christen betonen, aber auch die Toleranz, die ihnen entgegengebracht wurde. Vor einigen Jahren gab es ein Treffen zwischen der Mittelalterforscherin Carolyn Bynum, dem Ethnologen Clifford Geertz, dem palästinensischen Politiker und Präsidenten der Al-Quds-Universität in Jerusalem, Sari Nusseibeh, und mir. Eine amerikanische Stiftung, die sich vorgenommen hat, mit Hilfe der Geisteswissenschaften der Lösung politischer Probleme ein Stück weit näherzukommen, hatte uns eingeladen. Ich glaube, dass so etwas prinzipiell ein richtiger Weg ist. Wir als Historiker haben die Aufgabe, aus der zeitlichen Distanz heraus die Position unterschiedlicher Seiten nachzuvollziehen. Man wird toleranter.«