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Der Maschinist
Die Maschinen vibrieren nicht mehr und das ist das Schlimmste, was ihm passieren konnte.
Er starrt auf die Pfütze aus Motoröl auf dem geriffelten Bodenblech des Maschinenraumes. Wie hat es nur soweit kommen können? Die Pfütze steht vollkommen still jetzt. Noch vor ungefähr 15 Stunden hat sie sich noch bewegt, kleine Wellen sind schwerfällig von einem Ende zum anderen geschwappt. Das passierte, während er verzweifelt versucht hat, die letzte Maschine wieder in Gang zu bringen. Ohne Erfolg. Dann ist die Pfütze erstarrt, mit ihr die letzte Maschine und mit dieser Maschine auch seine letzte Hoffnung.
Seitdem hat ihn eine bleierne Müdigkeit in einen apathischen Zustand versetzt. Die Bewegungen des eigenen Körpers verändern sich mehr und mehr zu einem Bild vor seinen Augen. Der Verstand kann mit ihnen nichts mehr anfangen, die Bilder laufen ins Leere.
Nach 62 Stunden ohne auch nur eine Minute Schlaf, ist er am Ende seiner Kräfte. Ein leerer Blick fällt von der Pfütze auf die schmutzige Hose an seinen Beinen. Sie sind unfähig zu jeder Bewegung. Es kribbelt kurz in den Knien, bevor sie weich werden und er zusammensackt. Der Kopf schlägt dumpf gegen das Handrad eines Absperrschiebers. Noch während er fällt greift seine Hand wie von selbst gegen das Geländer, um sich selbst davor zu bewahren, über das Bodenblech in den Rumpf des Schiffes zu fallen. Er verspürt keinen Schmerz, nur die Wärme, die sich auf der Seite des Kopfes ausbreitet, mit der er aufgeschlagen ist. Flüssigkeit, beinahe wie das Öl für die Maschinen, denkt er. Und warm ist es, so wie das Öl für die Maschinen. Aber nur, wenn sie laufen und vibrieren. Jetzt ist alles kalt geworden, sich selbst eingeschlossen.
Er sackt auf eine Stufe der schmalen Treppe.
Sitzend richtet er seinen schlaffen Oberkörper wieder etwas auf, blickt um sich. Das schimmernde Licht des Vollmondes fällt durch die offenen Luken herein. Seine Augen zeigen ihm ein halbvertrautes, schemenhaftes Bild, Rohrleitungen, Schieber, Gehäuse, Schaltschränke. Aber seine Ohren und seine Beine, sagen ihm, dass dieses Bild nicht mehr richtig ist. Es ist zu dunkel hier, es herrscht absolute Stille und Ruhe im Maschinenraum.
So sollte es nicht sein. Das ist nicht richtig. Sie sollten vibrieren und lärmen, dann wäre es richtig.
Seine Erinnerung verblasst langsam an das, wie es begonnen hat, hier drinnen still zu werden. Er setzte eine Meldung ab, dass die Hauptmaschine ausgefallen war. Dann helles Licht im Schaltraum, gefolgt von einem Knall wie bei einer Explosion. Ein beißender Geruch nach verschmorter Kabelisolierung stieg ihm kurz darauf in die Nase. Im nächsten Moment war der gesamte Maschinenraum gefüllt mit weißem, stinkendem Qualm. Ein Kurzschluss im Schaltraum. Danach wurde es langsam dunkel hier drinnen, stockdunkel. Der weiße Qualm wurde mit der Dunkelheit, die sich im Raum ausbreitete, mehr und mehr unsichtbar, der Gestank nach verbranntem Gummi und geschmolzener Isolierung jedoch blieb.
Eine Ewigkeit stolperte er herum, schnappte nach Luft, brennender Gestank in seinen Lungen, ein Würgen in seinem Magen, er verkrampfte sich. Das Erbrochene kam seinen Hals wie Schwefelsäure wieder hoch. Ein stinkender Schwall von Wodka und Pulverkaffee auf der Haut seiner Hand. Abwischen mit dem Ärmel der anderen Hand, befahl er sich selbst, um sich nicht ein zweites Mal übergeben zu müssen.
Die Eingangsluken wurden aufgerissen, durch die das schimmernde Licht des Nachthimmels herein fiel. Zusammen mit dem faden Licht wanden sich ein paar Matrosen die enge Treppe herunter.
Was los ist, fragten sie. Warum kein Strom mehr da ist, wann der Strom denn nun endlich wieder kommt, fragten sie, diese Arschlöcher.
Dann kam der Kapitän mit zwei Taschenlampen, stellte dieselben dummen Fragen, dieses blöde Schwein.
Was sollte er selbst jetzt nur machen?
„Den Notdiesel starten natürlich, Du Schwachkopf“ schrie ihn der Kapitän an.
„Aber doch nicht so, Du Arschloch“.
Das gleißende Licht der zerspringenden Lampen brannte in seinen Augen. Für einen kurzen Moment sah er in das Gesicht des Kapitäns, der ein „NEIN“ zu schreien schien, während ein weiterer dumpfer und ohrenbetäubender Knall folgte, ein weiterer Kurzschluss im Schaltraum.
Er hatte alles falsch gemacht, das weiß er jetzt, aber nun ist es zu spät und die Maschinen sind kaputt. Den gesamten Maschinenraum innerhalb weniger Stunden zu zerstören, war so gut wie undenkbar, das wusste er. Und doch hatte er es irgendwie geschafft. In Wirklichkeit geschah es aber nicht plötzlich. Um die Maschinen am Laufen zu halten, hatte er die letzten Tage schon sehr viele der Sicherheitseinrichtungen abgeschaltet.
Wenn er es doch nur verstanden hätte dieses verfluchte, von unendlich vielen Speicherchips gesteuerte System. Sein Blick hebt sich und fällt auf den Schaltraum. Er ist immer noch durchzogen von Schwaden des weißen Qualms, das ist sogar im schimmernden Mondlicht noch zu erkennen.
Verdammte Scheiße, so eine verdammte Scheiße.
Das Schiff war nicht weit von einer Bucht entfernt und ist auf eine abgelegene Insel zugetrieben. Der Kapitän war oben in seinem Steuerhaus, versuchte gerade einen Notruf abzusenden. Er hatte das Funkgerät kurz wieder zum Laufen gebracht. Hinein geschrien hatte er, dieses dumme Schwein, dass die Maschinen ausgefallen sind und der Maschinist den kompletten Maschinenraum verschrottet hat. Er wollte die Antwort nicht mehr abwarten, es kam ohnehin keine, und stapfte wieder hinunter. Noch nie in seinem Leben hatte ihn etwas so sehr gedemütigt wie dieser Funkspruch.
Während er die Stufen hinab zum Maschinenraum kletterte, passierte es dann. Das Schiff lief auf ein Riff auf. Ein ohrenbetäubendes Quietschen und Kreischen von berstendem Metall dröhnte durch den Rumpf, so als ob der Schiffskörper schreien und sich vor Schmerz winden würde. Das Riff riss einen Teil des Rumpfes auf. Schwarzes, stinkendes Öl ergießt seitdem in die Bucht.
Die Hauptmaschine verschob sich dabei von ihrer Verankerung, vor seinen Augen. Es war, als hätte ihm selbst jemand sein Herz an eine andere Stelle gerückt, herausgerissen und an einem sinnlosen Platz wieder eingepflanzt.
Seitdem ist es still und das Schiff bewegt sich nicht mehr.
Und er sitzt hier auf der Treppe, Schuld daran, und nicht mehr dazu fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Wenn er nur doch etwas anderes gefunden hätte anzuheuern, verdammte Scheiße. Nur diese letzte Reise hätte er gebraucht, um sich mit dem Geld dann irgendwo eine Bleibe zu suchen und noch mal von vorne anzufangen. So wie alle Seeleute, alle wollen es, keiner macht es zum Schluss auch. Es ist wie eine alte Gewohnheit, die man einfach nicht ablegen kann. Genau wie bei den Huren, wenn sie verrunzelt werden und keiner sie mehr haben will.
Ein Bild flackert plötzlich vor seinen Augen auf. Die braunen und vor Angst erstarrten Augen eines schlitzäugigen Hurenmädchens sehen ihn wieder an. Er ist sich selbst danach zum ersten Mal wie ein Fremder gegenüber gestanden, nachdem er mit ihr fertig war. Irgendwann würde er eine so schlimm zurichten, dass er das Ding danach umbringen musste, dacht er damals. Es kam schleichend und mit jedem Mal sah das Mädchen danach schlimmer aus.
Bis er dann endlich damit aufhören konnte.
Seitdem schlug ihn der Alkohol. Er schlug ihn jeden verdammten Tag und lockte ihn gleichzeitig unwiderstehlich an. So wie einen der Duft nach einem warmen Essen anlockt, wenn man nach einer elend langen Reise und vor Kälte zitternd die Eingangstür seines eigenen Hauses öffnet, voller Erwartung und nur um dann zu bemerken, dass ein Anderer eingezogen ist.
Diese dreckige Hure.
Immer wieder und jeden Tag aufs Neue fiel er wieder darauf herein, verdammte Scheiße.
Jetzt sitzt er hier und starrt auf diese verdammte Pfütze aus Motoröl. Sie werden kommen, bald, und sie werden Fragen stellen, die er nicht beantworten will. Sie werden ihn langsam zermalmen, ihn Stück für Stück zerpflücken und zerteilen, um dann die einzelnen Teile in beschissenen Gutachten festzuhalten. Jemand wird den Wodka bemerken, ihn zuerst mit einer aufgesetzt freundlichen Art fragen, ob er öfter mal etwas trinkt. Sie werden es herausbekommen, dass dieses Zeug sein Leben in einem eisernen unentrinnbaren Griff genommen hat. Irgendwann werden sie auch darüber stolpern, dass seine Seemannspapiere gefälscht sind. Wie hätte er sonst denn noch irgendwo anheuern können? Dieses Schwein von einem Kapitän damals hatte ihn verraten, obwohl eigentlich nicht sehr viel kaputt gegangen war. Alles nur weil er damals etwas zu viel getrunken hatte.
Untersuchungen folgten und dann der Entzug seiner Seemannspatente. Ein Seemann ohne seine Patente. Sie hätten ihm damals auch genauso gut seine Hände amputieren und zur Aufbewahrung in einen Kühlschrank legen können.
Er wird für das, was hier passiert ist, aus einer grauen vergitterten Zelle nicht mehr herauskommen.
Seine Hand gleitet in die Tasche des Overalls und zieht ein Klappmesser hervor. Nicht nachdenken, aufklappen. Seine Hand macht es wie von selbst.
Zwei Schnitte und warmes Blut fließt über seine beiden Handgelenke. Einen Augenblick später rammt sich die Klinge in seinen Hals, dreht sich und durchschneidet etwas Zähes.
Wie etwas trinken fühlt es sich an, etwas Warmes trinken.
Die Sekunden vergehen wie qualvolle Stunden.
Kein Schmerz, seltsam, nicht die Spur davon.
Nur die Kälte der Nacht schleicht sich langsam in seinen Körper, er fängt an zu zittern.
Sein Atem wird kürzer, er schnappt nach Luft.
Ertrinken, so fühlt es sich an, Ertrinken und Erfrieren gleichzeitig.
Er starrt immer noch auf die Pfütze, sie beginnt vor seinen Augen zu verschwimmen. Irgendjemand wird sie später wegwischen. Es wird sie danach nicht mehr geben. So wie sein Leben, einfach weg.
Das Bild vor seinen Augen beginnt zu verschwimmen, es dreht sich.
Ein letzter Gedanke schießt durch seinen Kopf:
„Gott, wenn es Dich gibt, bitte lass mein Leben nicht noch mal an mir vorbei ziehen, ich will es nicht noch einmal sehen, bitte nicht …“.