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Der Marsch der Lichter
In der ganzen Stadt sprach man davon. Ein Raunen ging durch die Menschenmengen. An den staubigen Busstationen, in den Teehäusern, überall steckten die Leute ihre Köpfe zusammen, tuschelten, konnten nicht glauben was sich da auf ihre Stadt zubewegte. In allen größeren Städten, weltweit, sollte es sich ähnlich verhalten. Überall formierten sie sich, trafen sich, einzelnen Lichtpunkten gleich, in der Dunkelheit. Keiner wusste, wie sie sich organisieren. Sie schienen sich einfach zu finden, wie der Weg des Blutes hin zum Herzen.
Als der alte Mann, der vor seinem kleinen Obststand in der Altstadt Feigen und Datteln darbot, von dieser seltsamen Karawane hörte, schob er aufgeregt seinen Wagen unter das Vordach des brüchigen steinernen Hauses. Es war von den Bomben der ersten Kriegstage verschont geblieben. Er klopfte den Staub von seinem langen Mantel und ging wie unzählige andere Menschen auch, zur Hauptstraße. Überall war eine seltsame Erregung spürbar. Die Luft flimmerte in der späten Hitze des Abends und der Wind wehte feinen Sand in die Augen und Nasen der Neugierigen. In Scharen strömten sie herbei. Ein Lärmen und Gestikulieren umgab den alten Mann als er sich durch die Menschen hindurchzwängte. Er kniff die Augen zusammen, versuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Erst war da nichts. Die Menschen wurden unruhig.
Dann wurde es plötzlich still. Schemenhaft waren am Horizont erste kleine Lichter sichtbar geworden. Alle blickten gebannt in die Richtung. Leise trug der Wind Stimmen heran. Dann näherten sich die Lichter, verschmolzen zu einer endlosen Kette. Immer deutlicher sah man die kleinen brennenden Fackeln, gehalten von Kinderhänden. Es mussten Hunderte sein, Tausende, die sich auf die Stadt zubewegten. Ein Heer von Kindern hatte sich auf dem Weg gemacht. Ein Leben in Frieden forderten sie, mehr nicht.
Im Schein des Feuers, tausendfach glitzernde Kinderaugen, trotzige Handbewegungen die über laufende Nasen wischten. Kinder, die mit ihren Fackeln halfen die Dunkelheit zu durchbrechen. Der Staub der Straße hatte sich auf ihre Haare gelegt und ihre kleinen Füße gingen unaufhaltsam über Sand und Steine.
Aus aller Herren Länder schienen diese Kinder zu kommen, hielten sich an den Händen. Alle trugen sie Fackeln, sangen im harmonischen Durcheinander vieler Sprachen. Lieder vom Frieden. Der sanfte Ton der anfangs in der Ferne nur zart vernehmbar war, schwoll nun an. Wurde zum kraftvollen Gesang abertausender Kinderstimmen. Vorbei an staunenden Menschen, an ausgebrannten Panzern und verstümmelten Leichen, zogen die Kinder aller Hautfarben wie ein nicht enden wollender Leib der Hoffnung über die Straßen.
Der alte Mann löste sich langsam aus seiner fast andächtigen Starre, als die ihn umstehenden Menschen in Bewegung gerieten. Einzelne Kinder schlüpften durch die Zusehenden, schlossen sich dem Zug an. Wenn Mütteraugen sich auch mit Tränen füllten und Väter erschüttert ihre Fäuste ballten. Keiner machte den Versuch sie zurückzuhalten. Immer mehr Kinder rissen sich von den Eltern los, liefen, ihre kleinen Geschwistern hinter sich herziehend, auf die Straße und flossen in den nicht enden wollenden Strom der Friedenslichter ein.
Wenn die Erde im Wahnsinn des Krieges wieder aufbricht, wie ein Krebsgeschwür, dann werden auch unsere Kinder sich ihnen anschließen. Ihr Recht auf ein Leben in Frieden werden sie von uns einzufordern. Ganz weit draußen am Horizont, glimmen bereits einige kleine Fackeln auf. Manche Kinder summen schon ein Lied.