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Der Mühlenedgar
Da wohnt einer in der Mühle, den man den Mühlenedgar nennt. Die Mühle ist alt und verfallen, und eigentlich ist es ein Wunder, dass es sie und den Edgar noch gibt, denn vor einigen Jahren stand hier alles in Flammen, und mittendrin stand der Edgar. Seine Haut platzte auf und schmolz und seitdem sieht er komisch aus, sagen die Leute. Der kleine Ruben aus der Nachbargemeinde findet, Edgar ist ein Futzi-Fatz. Was das ist, weiß er aber selber nicht, der Ruben.
Eigentlich wohnt der Mühlenedgar nirgendwo. In die Mühle kommt er nämlich nur, um zu schlafen, und das auch nur manchmal, viel lieber schläft er unter freiem Himmel. Da liegt er dann mit hinterm Kopf verschränkten Armen im Gras und beobachtet die Sterne, bis ihm die Augen zufallen.
Manchmal liegt er auch im Wald und schaut zu den Blättern hinauf, die im Wind hin- und herwiegen, und er freut sich, weil sie niemand sonst sieht. Nur die Ameisen und der Specht, tock-tock-tock. Und die Eule. Aber sonst nur der Mühlenedgar, der dann aufsteht und durch den Wald streift, ziellos, auf der Suche nach nichts.
Edgar kommt vom Weg ab, weg von den Kutschradspuren, die sich in die feuchte Erde gegraben haben, weg von den Menschen. Wenn ich einen Gürtel hätte, würde ich mich jetzt erhängen, denkt er sich, und wenn ich einen Freund hätte, dann nicht. Aber er hat keinen Freund und keinen Gürtel, er hat sich die Hose mit einem Seil zugeschnürt, das er aus dem Sack in der Mühle gefädelt hat, und das Seil ist dünn und spröde und taugt nicht zum Erhängen, es taugt ja nicht mal als Gürtel, die Hose rutscht und Edgar muss sie festhalten, während er tiefer und tiefer im Wald verschwindet.
Tock-tock-tock. Schu-hu. Tock-tock.
Da vorne plätschert was, ein Bach. Edgar taucht die Hände ein und wäscht sein Gesicht, das vernarbte Gesicht, das nicht seines ist, und er weint und rennt los, strauchelt, stolpert, über Steine, über Wurzeln, rennt weiter und hält die Hose fest, tritt Ameisen platt und rennt, bis die Lunge zerreißt, schreit, bis er Blut spuckt, und als man ihn findet, weiß keiner, wer er ist, nicht mal er selbst.
So wird er in die Stadt gefahren, und so wie seine Hose keinen Gürtel hat, hat seine Jacke keine Ärmel. Und am Wegesrand sitzt der Ruben, zeigt mit dem Finger auf ihn und nennt ihn Futzi-Fatz.