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Der letzte nüchterne Mensch
Der letzte nüchterne Mensch
22:00, irgendwo am Arsch der Welt
Wider erwartend bin ich doch noch innerhalb dieses Tages bei Heiko angekommen, um in seinen Geburtstag hineinzufeiern. Eigentlich wollte ich ja gar nicht hierhin, denn Zuhause wartet noch ein Geschichtsreferat auf mich, aber als dann meine Nachbarin Anke angerufen hat und mich eine halbe Stunde lang bekniet hat, sie doch mitzunehmen, habe ich mich breitschlagen lassen. Um ungefähr halb acht war ich dann bei ihr, und sie stand vor den Problemen, die wohl kein Mann der Welt jemals nachvollziehen kann, nämlich passt Rock A zu Bluse B oder ist Rock C in Kombination mit Weste D nicht doch etwas zu gewagt für diesen Abend. Und so stand Anke dann zwei Stunden vor ihrem Kleiderschrank, pro und contra für Bluse J abwägend, während ich bei ihr im Wohnzimmer zwischen 31 Kanälen hinundherzappte. Dabei braucht sie doch eigentlich gar nicht so umwerfend auszusehen, denn Arne (ihr Freund, 25, Kfz-Mechaniker) ist heute Abend sowieso nicht da und soweit ich weiß auch sonst kein männliches Wesen, für das sich der Frisörbesuch, das Schminken, Pudern und die endlose Outfit-Wahl überhaupt gelohnt hätte, außer mir natürlich.
Als wir dann endlich ins Auto stiegen, konnte ich mich nicht zurückhalten zu fragen:
„Sag mal, wie lange dauert das eigentlich, wenn Du mal eine wirklich wichtige Entscheidung treffen musst?“
„Karsten, das war eine wichtige Entscheidung!“, antwortete mir Anke, und schaute mich an als hätte ich ihr die dümmste Frage ihres Lebens gestellt - ich hatte wieder etwas dazugelernt.
Und nun sitze ich hier auf einem Gartenstuhl, einen Pappteller voller Hackbraten und Nudelsalat vor mir, und frage mich was ich hier überhaupt soll. Eigentlich sollte ich besser zu Hause sein und mich endlich einmal meinem Geschichtsreferat widmen, das für mich morgen ansteht, und das ich besser auch halten sollte, da ich es vorher bereits dreimal verschoben habe.
„Hey, Karsten warum so unlustig?“, grölt mir Markus zu, der in der linken ein Kölsch, in der rechten Hand eine Tasse Bowle und drei Käsebrötchen balanciert.
„Ich bin nicht unlustig, Markus“, erwidere ich, wobei ich eines seiner herunterfallenden Brötchen auffange „ ich bin bloß noch nüchtern, weil ich gleich wieder weg muss. Ich hab noch Arbeit zu Hause liegen.“
„Wie, Karsten, du willst doch nicht jetzt schon wieder fahren?“, fragt mich Heiko, der Gastgeber, von hinten, während er mir seine rechte Pranke auf die Schulter haut, und damit bei mir beinahe einen Herzinfarkt verursacht.
„Nein, Karsten, wenn Du nicht wenigstens bis Mitternacht bleibst und mir persönlich gratulierst bin ich schwer beleidigt“, meint Heiko zu mir. Das kann ich natürlich nicht riskieren und so beschließe ich auf dieser doch ziemlich lahmen Party bis Mitternacht zu bleiben. Was soll‘s, muss ich eben die ganze Nacht durcharbeiten. Dafür mach ich dann übermorgen blau. Bevor ich noch weiterplanen kann, lässt sich Sarah neben mir nieder, die, wie es scheint, schon jetzt etwas zuviel getrunken hat. Innerhalb weniger Minuten erzählt sie mir, wie einsam sie sich fühle, dass sie eine starke Schulter brauche und ich genau der richtige wäre. Bevor sie ihren massigen Körper ganz auf meinen Schoß wuchten kann und dabei die Gefahr, dass meine Eier zerquetscht werden, zu groß wird, ergreife ich die Flucht, murmele etwas von „ganz hervorragendem Kartoffelsalat“ und entferne mich in Richtung kaltes Buffet.
0:10, irgendwo zwischen Buffet und Gartenteich
„Wie kann man auf die Idee kommen, in eine Bowle matschige Bananen zu schneiden?“ frage ich mich, während ich mich zum Geburtstagskind Heiko durchkämpfe.
Bis jetzt war der Abend ziemlich elend. Ich habe Anna-Nicoles neuen Freund Udo, einen Zeitsoldaten, kennengelernt und nach einem kurzen Gespräch mit ihm sah ich mich in allen meinen Vorurteilen bestätigt, auch in denen die ich vorher noch gar nicht hatte.
Der Nudelsalat ist alle, und ich beschließe, mich noch eben von Heiko zu verabschieden, ihm zu gratulieren und die obligatorische Flasche Sekt in die Hand zu drücken, mich dann aus dem Staub zu machen und mich an mein Geschichtsreferat zu setzen. Es ist ohnehin schon spät genug!
Während ich noch versuche, Heiko in dem allgemeinen Chaos zu orten, kommt mir Markus mit einer Flasche Sekt und einer Flasche Wodka entgegen.
„Hey, Karsten, warum so unlustig?“, fragt er mich und haut mir auf die Schulter.
„Ich bin nicht unlustig, Markus, ich bin nur ...“ versuche ich ihm zu erklären, aber er lässt mich gar nicht weiterreden.
„Karsten, wir müssen uns verbrüdern!“, dröhnt er mir in meinen rechten Gehörgang, und relativ flott und schmerzlos habe ich das Unvermeidbare hinter mich gebracht und lasse Markus Richtung Terrasse weitertorkeln, wobei er noch Annes Freund Björn (25, Kfz-Mechaniker) und Heikos Eltern in sein Verbrüderungsritual miteinbezieht.
Plötzlich steht Heiko vor mir und nimmt mich mit stählerner Umarmung in den Arm, die Sektflasche kann ich gerade noch in Sicherheit bringen. Mit der wenigen Luft, die mir im Moment noch bleibt, röchele ich etwas von „Herzlichen Glückwunsch“, und endlich lässt Heiko mich wieder los. Ich verabschiede mich von ihm, beglückwünsche ihn zu der tollen Party und dem Nudelsalat und verweise auf mein wirklich wichtiges Geschichtsreferat.
Ich suche gerade in der Tasche nach meinen Autoschlüsseln, als ich bemerke, dass sich jemand an meinem Hintern zu schaffen macht; Sarah, mein schlimmster Alptraum. Während ich verzweifelt versuche, mich aus ihrer Umklammerung zu lösen, raunt sie mir mit einer ziemlichen Bierfahne etwas ins Ohr und fängt an zu kichern. Aufgrund von 103 Dezibel Bob Marley verstehe ich allerdings kein Wort. Also schüttele ich deutlich aber bestimmt den Kopf, und deute auf meine Autoschlüssel. Ich nutze den Moment ihrer Verwirrung, mache mich von ihr los und flüchte ins Freie.
Julian, der auf der Wiese liegt, einen Gartenzwerg in jedem Arm, ruft mir zu:
„Karsten, fährst Du nach Hause?“
Wenn ich jetzt ja sage, will er mitfahren. Und wenn er mich fragt, ob ich ihn mitnehmen kann, will ich natürlich nicht unhöflich erscheinen und schließlich ja sagen. Das Problem ist, als ich Julian das letzte Mal von einer Party mitgenommen habe, hat er zuerst versucht mir bei Tempo 80 ins Steuer zu greifen, weil er glaubte eine Wildschweinherde gesehen zu haben und mir danach noch ins Auto gekotzt.
„Äh, nein, ich hol nur was aus dem Kofferraum“, lüge ich und sehe aus den Augenwinkeln wie Markus mit einer Flasche Grappa bewaffnet in den Gartenteich stürzt.
Da sollen sich jetzt andere drum kümmern, denke ich und verlasse Julian und das Grundstück von Heikos Eltern irgendwo fernab von jeder Zivilisation.
Mein kleiner Ka steht etwas abseits hinter einem Strommast (immerhin Strom haben sie hier draußen). Doch als ich etwas näher komme, sehe ich, dass es da ein Problem gibt. Da ist drumherum alles frei, nur direkt vor mir steht ein mintgrüner VW Golf.
Das Kennzeichen kommt mir vage bekannt vor, und ich beschließe, während ich zum Haus zurückstapfe, dem Besitzer, der mich zugeparkt hat, sofern er noch ansprechbar sein sollte, gehörig die Meinung zu sagen, es sei denn es ist Corinna – aber bei meinem Glück heute abend ist es wohl eher Sarah.
0:37, irgendwo zwischen Gartenhaus und Himbeerbowle
Der erste Mensch, den ich bei meiner Rückkehr sehe, ist Sarah, die sich mittlerweile ihres Pullovers entledigt hat und mit ausgebreiteten Armen auf mich zueilt. Geistesgegenwärtig ergreife ich die Flucht und schlage mich in die Büsche zu meiner rechten, um mich vor der drohenden Gefahr zu verstecken. Katja und Franco (25, Automechaniker), die sich schon in den Büschen befanden, reagieren auf mein plötzliches Erscheinen allerdings etwas ungehalten, und so schleiche ich weiter am Gartenhäuschen vorbei Richtung Terrassentür.
Auf halbem Weg kommt mir ein tropfender, mit einer Flasche Sekt ausgestatteter Markus entgegen, der seinen Sturz in den Gartenteich offenbar gar nicht so richtig mitbekommen hat.
„Hey, Karsten, warum so un...?“
„Hör mal, Markus“, unterbreche ich ihn, da ich die Frage langsam nicht mehr hören kann „weißt Du wem der grüne VW Golf da draußen gehört?“
Nach einigen Momenten angestrengten Überlegens meint er: „Ich glaube der gehört Karsten.“
Gott, ist der dicht!
„Markus“, versuche ich ihm sinnloserweise zu erklären „ich bin Karsten.“
„Und? Wo liegt dann das Problem?“ grinst er mich leicht debil an und lässt sich völlig geschafft von dieser Unterhaltung auf der Bank vor dem Gartenhäuschen nieder.
Ich mache mich auf den Weg nach drinnen und sehe im Gehen gerade noch, wie Markus beim Versuch sich eine Zigarette anzuzünden fast das ganze Gartenhäuschen in Brand steckt.
Drinnen habe ich auch nicht viel mehr Glück, da die meisten Leute in ihrem bereits erreichten Zustand nichts mehr mit der Farbe grün, geschweige denn mit dem Begriff VW Golf anfangen können. Neben einigen weiteren Verbrüderungsritualen mit Leuten, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, erinnert mich Julian ungefähr alle fünf Minuten lautstark daran, dass ich ihn bitte mitnehmen solle, wenn ich denn fahren würde.
Bevor ich endgültig verzweifle, erhalte ich von Jerome, dem Schnellsprecher, die erste heiße Spur: „Ein grüner VW Golf?“ überlegt" er, „Ich glaube der gehört Jessica, ich hab zwar gar nicht mitgekriegt, dass sie den Führerschein geschafft hat, aber ich meine, glaube, nein ich bin mir fast sicher, dass das Jessicas Auto ist. Ein grüner VW Golf, sagtest du?“
Auf der Suche nach Jessica gewinne ich nebenbei, ohne es zu merken, in einem Gewirr von Luftschlangen den Heiko-Limbo-Gedächtnis-Cup und gewinne ein Käsebrötchen und Küßchen von alle drei Mitteilnehmern. Igitt!
Endlich entdecke ich Jessica in einer Ecke. Sie allerdings behauptet, weder einen Führerschein noch einen grünen VW Golf zu besitzen, und erklärt mir, dass sie ihr Freund Mike (25, Kraftfahrzeugmechaniker) mitgenommen hat. Auch weiß sie leider nicht, wem der Wagen gehört, aber sie rät mir, Heiko, den Gastgeber mit dem ultimativen Überblick, zu fragen und verspricht mir, sich sofort bei mir zu melden, für den Fall, dass sie später einmal einen grünen Golf besitzen sollte.
1:07, irgendwo zwischen Fetenhits 3 und purer Verzweiflung
In der Küche finde ich nach langer Suche Heiko, der gerade dabei ist, ein zweites Fass anzustechen. Nachdem ich ihm im allgemeine Chaos erklärt habe, dass ich nicht Golf spielen will, sondern einen Golffahrer suche, hält er einen Moment inne und meint dann:
„Ein grüner VW-Golf, ich glaube, der gehört... äh... Oliver, aber ich weiß nicht, ob der noch da ist?“
„Wenn er nicht da wäre, wäre ja auch das Auto weg“, entgegne ich ihm und bevor sich Heiko noch einen geistreichen Kommentar einfallen lassen kann, stürmt Sarah in die Küche, brüllt „Karsten mein Schatz, das ist unsere Nacht!“ und fällt mir um den Hals.
Heiko lächelt mich, immer noch völlig geschockt, mit einem schmierig-zweideutigen Grinsen an und meint dann: „Karsten, du kannst auch hierbleiben. Aber ich lass euch jetzt besser allein.“ Er verlässt fröhlich summend die Küche und lässt mich mit Sarah, der Kurssprecherin aus Mathe, Päda und Geschichte, meinem größten Fan unter der Sonne, dem Mädchen, das gerade an meiner Brille herumspielt und offensichtlich nicht mehr als zwei Glas Kölsch verträgt, allein. Ich versuche mich von ihr loszumachen, aber sie ist stark und zäh, übrigens ein ziemlich deprimierendes Gefühl für einen Jungen. Ich sehe schon als letzte Möglichkeit meine Faust in ihrem Gesicht, als Julian hereinplatzt, mich sieht und brüllt: „Karsten, wenn du fährst, sag mir bitte Bescheid. Mir ist nicht gut, ich glaube ich habe irgendwas falsches gegessen!“ (Gegessen! Dass ich nicht lache!)
Sprachs und erbrach sich über der Spüle. Ich nutze den Überraschungsmoment, reiße mich von Sarah los, schlage die Küchentür hinter mir zu, und schließe sie zweimal ab.
Ich muss hier weg. Es ist spät, ich bin fertig und bis morgen muss ich mein Geschichtsreferat fertig haben, von dem ich bis jetzt gerade mal die Einleitung fertig habe, ehrlich gesagt, nicht die komplette Einleitung, sondern mehr so dass grobe Konzept der Einleitung. Aber das ist ja jetzt auch egal, viel entscheidender ist jetzt, dass ich Oliver finde, und endlich von hier weg komme.
Während ich meinen Blick durch den Raum schweifen lasse, gesellt sich Markus inklusive eines Kruges Sangria zu mir, starrt glasig in die Runde und meint dann tief geschockt zu mir:
„Oh Gott, Karsten, ich glaube, ich bin echt besoffen. Jetzt sehe ich Karin schon doppelt.“
Ich bestätige ihn in seiner Ansicht, verschweige ihm aber, dass das neben Karin ihre Zwillingsschwester Anita ist. Auf einmal sehe ich Oliver, hinten neben den Boxen unterhält er sich mit Brittas Freund Bernd (25, Flugzeugmechaniker). Ich will ihm gerade etwas zurufen, als irgendein Idiot die Anlage lauter dreht. Ich, schon etwas angeschlagen, versuche noch Oliver zuzuwinken, aber bevor ich mich versehe liegen Heikos Pranken auf meiner Schulter und ich bin der Anführer einer spontanen Polonaise die mich unaufhaltsam weg von Oliver Richtung Terrasse schiebt. Innerhalb weniger Sekunden bin ich zwischen Christine und Heiko eingekeilt und schwanke hilflos mit dem Partyzug ins Freie.
Als ich einige Momente später wieder zu mir komme, befinde ich mich auf der Gartenbank und neben mir beginnt Corinna unaufgefordert sämtliche Jungen aufzuzählen von denen sie seit der fünften Klasse etwas wollte. Das ganze dauert etwa fünfzehn Minuten und zu meiner großen Enttäuschung ist mein Name nicht dabei - Schade!
Danach dankt sie mir für das klärende Gespräch, im Prinzip habe ich eigentlich gar nichts gesagt, und verlässt mich in Richtung Heiko, soweit ich mich erinnern kann Nummer siebzehn auf ihrer Liste.
Ich sehe mich um, von Oliver ist weit und breit nichts mehr zu sehen.
1:52, irgendwo außerhalb von Hawaii, denn es gibt noch Bier
In einem Anflug von absolut nicht gerechtfertigtem Optimismus bin ich noch einmal zu besagtem Strommast zurückgegangen, um zu schauen, ob sich an meiner beschissenen Parkplatzsituation etwas geändert hat. Es hat sich natürlich nichts geändert, der mintgrüne VW-Golf steht immer noch direkt vor mir, Oliver scheint also noch da zu sein, nur keiner weiß wo!
Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, den Strommast einfach abzusägen, aber da ich Physik nur bis zur zehn belegt habe, bin ich etwas unsicher, ob das nicht irgendwie gefährlich ist.
Also begebe ich mich wieder mitten ins Epizentrum der Party um Oliver oder, noch besser, seine Schlüssel zu suchen. Das Trommeln der eingeschlossenen Sarah gegen die Küchentür hört man wegen der lauten Bässe nicht, was ich jedoch höre, ist das Röcheln von Markus, der sich an einem Stehtisch festhält, mich weggetreten angrinst und dann, wie etwa die Hälfte aller Betrunkenen hier, viel zu laut feststellt: „Ach Karsten, Du bist ja auch hier! Dich habe ich ja heute noch gar nicht gesehen.“
Ich suche weiter, aber so langsam bin ich es echt leid, eigentlich bin ich nur noch sauer. Sauer auf meinen Geschichtslehrer, der mir dieses Referat aufgebrummt hat, sauer auf mich, weil ich nicht eher damit angefangen habe, sauer auf Heiko, das Geburtstagskind, der sich gerade, wie ich entdecke, offenbar sehr gut mit Corinna amüsiert und ohne dessen Geburt ich jetzt zu Hause sitzen würde, sauer auf Anke, die Stunden mit der Wahl ihres Outfits vertrödelt hat und der es jetzt, schon seit etwa einer halben Stunde kotzend auf dem Klo, sicher völlig egal ist, was sie anhat, sauer auf Oliver, der so beschissen parkt und dann verschwindet – ja, selbst auf Jerome, der seit Stunden wie in Ekstase durch den Raum tanzt und mir gar nichts getan hat, bin ich sauer.
Diese Gedanken und ein lebhaftes Bild meiner Sominote in Geschichte, die ich bekomme, wenn ich das Referat morgen nicht halten sollte, schießen mir durch den Kopf, während ich zur Terrassentür hinausstapfe und sie hinter mir zuschmeiße. Gerade in dem Moment als ich zu der Gewissheit komme, dass ich wohl im Moment der letzte nüchterne Mensch auf dieser Erde bin, sehe ich Oliver. Er sitzt wie ein Häufchen Elend in der Hollywoodschaukel und starrt ins Leere (wie fast alle hier). Ich setze mich zu ihm, aber bevor ich etwas sagen kann, fängt er auch schon an:
„Oh Karsten, warum habe ich bloß kein Glück bei den Frauen. Es ist alles so sinnlos, da rackert man sich ab und was ist ...?“
Ach du Scheiße, Oliver ist in einer alkoholbedingten Sinnkrise. Aber ich habe jetzt keine Lust den Therapeuten zu spielen. Nicht heute!
„Karsten, du hast gut reden (Ich habe gar nichts gesagt), du hast ja keine Probleme eine Freundin zu finden.“
Das war mir neu!
Ich versuche vorsichtig anzusetzen: „Oliver, dein Golf, der ...“
„Du hast da gar keine Probleme“, ignoriert er meinen Einwand „heute Abend zum Beispiel scheint Sarah ein Auge auf dich geworfen zu haben.“
„Sarah kannst du von mir aus gerne haben,“, meine ich „aber wegen deinem Golf ...“
„Nein, Sarah will ich nicht.“ (Eine kluge Wahl.)
„Oliver hättest du vielleicht die Schlüssel, damit ich ...“
Er ignoriert mich weiter, schaut mich aber glasig an und fragt dann: „Was soll ich bloß machen?“
„Vielleicht Automechaniker werden,“, rate ich ihm aufgrund meiner riesengroßen Erfahrung „aber vorher fährst Du dein Auto weg, du hast mich nämlich zugeparkt und ich muss nach Hause.“ Für einen Moment glaube ich, dass er jetzt in Tränen ausbricht, aber noch hat er sich im Griff, und wenige Sekunden später beginnt seine Litanei aufs neue:
„Oh Gott, Karsten, das tut mir leid. Alles mach ich falsch! Alles! Das Leben ist so sinnlos. Erst die Sache mit Corinna (Aha, Du also auch!) und jetzt parke ich dich auch noch zu, wo du doch nach Hause willst. Oh Karsten, es tut mir so leid.“
„Halb so schlimm“, meine ich. Die Untertreibung der Woche.
„Gib mir einfach den Schlüssel, dann setze ich den Wagen eben weg.“
„Den Schlüssel habe ich nicht.“
Für einen kurzen Moment bleibt mein Herz stehen.
„Den Schlüssel habe ich Jan-Patrick zur Verwahrung gegeben“ fährt er fort.
Gott sei Dank, es schlägt wieder!
„Ich habe nämlich heute Abend schon etwas getrunken.“ meint Oliver und grinst entschuldigend.
Etwas getrunken ist noch höflich ausgedrückt, aber daraus ergibt sich für mich jetzt ein neues Problem, wo zum Teufel ist Jan-Patrick?
2:30, irgendwo zwischen Autoschlüsseln und purer Verzweiflung
Der harte Kern hat spontan beschlossen, sich Spaghetti zu kochen. Die rechte Box ist nach 317 Mal „Palma“ total im Eimer, Gerold, eigentlich ein netter Kerl, hat mir auf die Schuhe gekotzt und Jan-Patrick habe ich immer noch nicht gefunden. Markus ist nach einem Schlummertrunk aus Curacao Blau, Batida de Coco, Jägermeister und hessischem Apfelwein endgültig ins Koma gefallen. Hinter dem Tisch auf der Eckbank liegt Julian und röchelt mir zu: „Karsten, wenn Du fährst, kannst Du mich ...“ dann sackt er bewußtlos unter den Tisch. Corinna macht auf der Terrasse Heiko eine Riesenszene wegen was auch immer und ich beschließe, so lange ich noch einigermaßen klar denken kann, strategisch vorzugehen und alle Räume dieses Hauses ohne Rücksicht auf Verluste nach Jan-Patrick, genauer gesagt dem Schlüssel zu durchforsten. Die Gefahr dabei Heikos Eltern aufzuwecken gehe ich gerne ein. Mein Geschichtsreferat, so rede ich mir halb wahnsinnig ein, geht schließlich vor. Jan-Patrick, obwohl ich ihn eigentlich kaum kenne, da er nur bei mir in Sowi sitzt (er war bei dem berüchtigten Rollenspiel der Verteidigungsminister) wird mir von Minute zu Minute unsympathischer.
In der Wäschekammer habe ich dann schließlich Glück. Hier treffe ich allerdings nicht nur Jan-Patrick, sondern auch zu meiner Verwunderung Claudia an, die bei meinem Erscheinen schnell ihre Hände unter seinem Pullover und Gott weiß woher noch hervorzieht.
Warum muss bei den peinlichsten Aktionen meines Lebens eigentlich immer Claudia dabei sein? Ich weiß es nicht und sie weiß es offenbar auch nicht, denn für einen Moment sind wir alle perplex. Dann brüllt Claudia: „RAUS!“
Normalerweise wäre mir diese Szene peinlich, wahrscheinlich wird sie mir, wenn ich wieder einigermaßen bei Sinnen bin, auch peinlich sein, aber jetzt kann ich darauf keine Rücksicht nehmen und meine zu dem völlig verblüfften Jan-Patrick:
„Jan-Patrick, rück den Schlüssel raus!“
„Was für Schlüssel?“
Schwarze Flecken erscheinen vor meinen Augen. Claudia brüllt:
„Karsten, kannst Du mich eigentlich niemals in Ruhe lassen?“
Ich ignoriere das Gezeter meiner halb-bekleideten Ex-Flamme und wende mich wieder Jan-Patrick zu, der immer noch so aussieht, als hätte man ihn vor wenigen Sekunden auf dem Mars ausgesetzt: „Den Autoschlüssel von Oliver, der mich zugeparkt hat.“
Ich brülle fast, aber dass ist noch gar nichts im Vergleich zu Claudia, die mich angiftet, während Jan-Patrick, noch immer in Trance, beginnt, seine Taschen zu durchforsten.
„Du kommst wegen einem lächerlichen Schlüssel?“ Ihre Stimme überschlägt sich fast. „Karsten, du bist das letzte Stück Scheiße!“
Jan-Patrick reicht mir einen Autoschlüssel mit Fuchsschwanzanhänger und so wie er aussieht scheint ihn Claudias viergestrichenes C wieder langsam in die Wirklichkeit zurückzuholen. Ich nehme den Autoschlüssel und meine zu Claudia: „Du kannst aufhören, ich bin jetzt weg. Spar dir dein Temperament lieber für ihn.“
Sekundenbruchteile später fliegt ein 10-Kilo-Paket Persil haarscharf an meinem Kopf vorbei und ich verlasse türenknallend die Wäschekammer. Ich durchquere zum ungefähr 116. Mal in dieser Nacht das Wohnzimmer und haste hinaus ins Freie. Nur weg hier! Ich setze den Wagen weg, schmeiße den Schlüssel in den Briefkasten und dann bin ich hier weg!
Gerade als ich am Gartenteich mit dem pissenden Marmorjüngling vorbeigehe und dabei Iris und Gunnar (25, Ausbildung zum Automechaniker) aufschrecke, höre ich von hinten eine Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt, Sarah.
„Karsten, ich muss mit dir reden“ brüllt sie durch den Garten, während sie wie ein Stier mit 2,6 Promille auf mich zutorkelt. In einem Reflex, einem Torero gleich, weiche ich einen Schritt nach rechts aus und Sarah stürzt kopfüber in die Seerosen.
Egal, meine Gedanken kreisen im Moment nur noch um einen mintgrünen VW-Golf.
3:04, irgendwo zwischen einem Strommast und einem beschissenen VW
Als ich an meinem Wagen und Olivers Golf ankomme, den Schlüssel in meiner noch leicht zitternden rechten Hand, trifft mich der endgültige Schlag dieses Abends.
Direkt vor dem grünen Golf parkt Stoßstange an Stoßstange ein weißer Jeep.
Nach einem hysterischen Wutanfall mit einem gescheiterten Versuch, den Jeep am Außenspiegel von der Straße zu zerren, beruhige ich mich wieder, stehe einige Momente etwas planlos am Arsch der Welt herum und schwanke dann wieder langsam zu Heikos Geburtstagsparty zurück.
Irgend jemand hat inzwischen Sarah aus dem Teich entfernt, vielleicht ist sie auch untergegangen, was spielt das jetzt noch für eine Rolle. Auch Oliver ist verschwunden, so dass ich mich mit einem Stoßseufzer auf die leere Hollywoodschaukel fallen lasse.
Oh Gott, das Leben ist so beschissen!
Corinna kommt heraus und lässt sich neben mir nieder, nimmt einen tiefen Schluck aus der Wodkaflasche, die sie mitgebracht hat, seufzt und meint dann zu mir: "Karsten, Männer sind absolut das Letzte!“
Eine Ansicht, die ich nicht hundertprozentig teile, aber ich ahne, dass drinnen jetzt Heiko genau das gleiche über Frauen denken muss. Corinna legt mir den Arm um die Schulter, starrt in den dunklen sternenlosen Himmel und meint dann zu mir: „Schau nur, der große Wagen.“
Ich scheine echt der letzte nüchterne Mensch auf dieser Welt zu sein.
„Apropos großer Wagen“, versuche ich es ein letztes Mal „weißt du wer hier einen weißen Jeep fährt?“
„Nein.“ Sagt sie und reicht mir die Wodkaflasche.
„Auch gut“, murmele ich, nehme einen tiefen Schluck und beschließe, endgültig das Geschichtsreferat sein zu lassen und mir statt dessen heute Nacht die Kante zu geben.