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Der letzte Kuss
Der letzte Kuss
Jeder Griff ist Routine. Mit der linken Hand hebt sie die kleinen, gerahmten Bilder, Glasfiguren und Zinnbecher hoch, mit der anderen wischt sie über die blanke Fläche des Regals.
Gleich würde er heimkommen. Vorher will sie noch mit der Hausarbeit fertig werden.
Der Schrank ist geputzt, jetzt nur noch der Fernseher. Sie schiebt den Sessel zur Seite und tritt an die kleine Kommode.
Das Brennen in der Magengegend überfällt sie wieder ohne Vorwarnung. Sie zuckt zusammen, hält inne und wartet, daß der Schmerz vergeht, genauso wie in den vergangenen Tagen. Sonst dauerte es immer nur einen kurzen Moment. Sie geht auf die Siebzig zu und das eine oder andere Stechen oder Brennen gehört zum Leben.
Mir ist, als hätte ich geschlafen, ...lange, winzig klein, ohne Licht.
Nach und nach vergeht die Dunkelheit, ich rege mich,
zaghaft noch, müde und schwach.
Urplötzlich zieht Schmerz wie eine glühende Welle durch ihren Leib; treibt ihr Tränen in die Augen. Sie tastet nach dem Sessel und läßt sich fallen. Schwer atmend sitzt sie da, gekrümmt, die Hände an den Körper gepreßt. Der Schmerz vergeht nicht wie sonst. Sie kauert flach atmend in dieser verkrampften Haltung. Jeder tiefe Atemzug verstärkt den Schmerz. Es ist, als ob Sauerstoff eine Glut entfacht und die Flamme noch mächtiger auflodern läßt.
Ich bin erwacht. Ich spüre Frische und die Freiheit schmeckt süß. Ich taste mich vor, nehme die Nahrung, in der ich schwimme, gierig auf.
Das Läuten der Türglocke läßt sie zusammenzucken, was einen neuen Strom von Schmerzen durch ihr Inneres treibt. Sie versucht, sich aufzurichten, doch die Pein läßt sie in den Sessel zurücksinken. Wieder und wieder ertönt die Glocke, dann ein metallisch schließendes Geräusch, ein gedämpftes Klappen am Eingang.
Die Tasche mit den Einkäufen läßt er schon an der Tür zu Boden gleiten, eilt zu ihr und nimmt ihre Hand.
Sie spürt Liebe und Trost. Es tut gut.
Dann verzerrt sich ihr Gesicht unter neuerlichem Auflodern der Qual.
Der Arzt kommt nach wenigen Minuten, dann die Männer mit der Trage.
Meine Kraft wächst, ich werde größer. Es ist wie nach der Erlösung aus einer langen Gefangenschaft. Mein Hunger ist groß. Ich fühle mich reif. Ich bin stark.
Der Arzt legt ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter. Er nimmt dessen Erklärungen wortlos auf.
Wieder allein geht er mit schweren Schritten den Flur entlang, vorbei an hastenden Schwestern und Ärzten. Er nimmt dies alles nicht wahr. In seinem Kopf kreisen die Worte des Arztes:
Hoffnung,... nicht aufgeben,... Schmerzlinderung...
Sie liegt in einem hohen Bett, allein in dem sterilen Zimmer.
Er zieht den harten Besucherstuhl heran und setzt sich neben sie.
Sie hat sein Kommen bemerkt und hebt leicht ihre Hand, die er sogleich in seine schließt. Er betet, seine Kraft möge in ihren Körper strömen, durch die Plastikhandschuhe hindurch in ihre blasse, faltige Haut.
Über Infusionsschläuche wird sie mit starken Medikamenten versorgt, bis zu einem Dämmerzustand betäubt. Die Hoffnung tropft aus kleinen Flaschen in ihre Venen.
Er ist froh, daß der Mundschutz einen Teil seines Gesichtes verbirgt und hofft, daß sie seine tränenfeuchten Augen nicht bemerkt.
Ich bin weit gekommen, habe mich entfaltet, bin vorgedrungen und gewachsen.
Doch dann kommt diese Kälte. Die weiche Umgebung, in der ich gedeihe, wird unwirtlich und rauh. Die Welt, in der ich schwimme, verliert die Geborgenheit, wird scharf und ätzend. Ich bäume mich auf. Nur mit Mühe gelingt es mir, Nahrung aufzunehmen, wenig gehaltvoll, wenig süß.
Es ist der dritte Tag, den er an ihrem Bett Wache hält.
Täglich hat er die Ärzte befragt in der Hoffnung auf eine Wende zum Guten. Heute liest er in ihren Gesichtern und weiß, daß die Entscheidung gefallen ist.
Sie schläft, ihr Gesicht zeigt Entspannung und Frieden. Unaufhaltsam tropft die Medizin in die Schläuche ohne Heilung zu bringen, allein um die Schmerzen zu dämpfen und die Illusion von Geborgenheit zu schenken.
Ihr Leben ist auf zuckende Anzeigen der Monitore reduziert, kommentiert von leisen, rhythmischen Signalen.
Eine Hand legt er sacht auf ihre Brust, um das sanfte Auf und Ab der Atmung zu spüren. Der mögliche Rest von Anteilnahme an ihrem Leben - ihr gemeinsames Leben.
Ich bin schwach, führe einen Kampf, von dem ich weiß, daß ich ihn dennoch gewinnen werde. Ein Sieg um den Preis des eigenen Todes.
Ein Sieg ohne Erfüllung. Ein Tod ohne Sinn.
Er schaut sie an und meint, ein Lächeln zöge über ihr faltiges, bleiches Gesicht, ein Ausdruck von vollkommener Harmonie und Liebe.
Ihre Hand drückt ganz leicht die seine und erschlafft gleich darauf.
Das rhythmische Signal der Instrumente geht in einen Dauerton über.
Er bleibt ruhig sitzen und läßt allein durch die Berührung ihrer Hand alle Emotionen, die ihn jetzt überschwemmen, hinübergleiten.
Da ist nichts mehr, was mich nährt. Ich vergehe, wie es meine Bestimmung ist.
Ich war aufgeblüht, aber sterbe ohne Erfüllung.
Tränen rinnen ihm über die Wangen und benetzen den Mundschutz. Eine Weile bleibt er still sitzen, verloren in eigenen Gedanken.
Die Überwachungsgeräte haben Alarm ausgelöst. Stimmen und eilige Schritte nähern sich auf dem Flur.
Seine letzten Sekunden allein mit ihr.
Gedankenverloren zieht er den Mundschutz herunter und schenkt ihr und sich einen letzten Kuß.
Mein Tod ist nicht endgültig.
Der Keim ist gesetzt.
Ich werde wieder reifen. Ich werde wieder blühen.