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Der Lauscher an der Wand

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04.02.2003
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Der Lauscher an der Wand

Der Lauscher an der Wand

Es war Freitag und obwohl es noch nicht sehr spät war, lag Tom schon im Bett. Er bemühte sich krampfhaft einzuschlafen, denn er wollte diese Woche nicht wieder durch die Geräusche von nebenan wach gehalten werden. Einschlafen, einschlafen. Los Schlaf, jetzt komm doch endlich!
Doch zu spät. Tom hörte wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. „Bsst, nicht so laut, du weckst noch das ganze Haus auf“, hörte er die Frau sagen. Eine tiefe Männerstimme antwortete: „Jetzt reg dich nicht auf, du verdienst schließlich gutes Geld mit mir.“
Tom wußte, wie es weiter gehen würde. Jede Woche das Gleiche. Es kam vor, daß sie in einer Nacht bis zu drei Männer mit nach Hause brachte. Sie blieben nicht lange, eine Stunde, selten länger. Nie sah er einen von ihnen, aber er hörte sie. Hörte sie lachen, stöhnen, manche auch schimpfen. Einige waren sehr leise, so daß Tom glaubte, sie seien eingeschlafen. Doch kurz bevor sie gingen, stöhnten alle von ihnen, da war keiner leise.
Der Mann heute war sehr laut und hatte es scheinbar eilig. „Los, jetzt zieh dich endlich aus, du Schlampe. Ich will für mein Geld auch was geboten kriegen. Mach schon, blas mir einen!“ Tom verstand nicht, wie ein Mann so böse Worte zu einer Frau sagen konnte. Für ihn waren Frauen die liebevollsten und schönsten Wesen, die es gab und nie, niemals würde er mit einer Frau so umgehen wie die Männer, die er jede Freitag Nacht durch die dünne Wand hörte. Aber es gab auch Männer, die fast die ganze Zeit redeten. Das Gemurmel, das dann zu ihm ins Zimmer drang, brachte ihn zum Einschlafen. In solchen Nächten schlief er tief und fest und nichts konnte ihn in seinem Schlaf mehr stören. So eine Nacht würde es heute wohl nicht geben, vermutete er.
„Oh ja, das ist gut, mach weiter“, stöhnte der Mann. „Komm schon, jetzt nicht schlapp machen. Gib dir ein bißchen mehr Mühe oder muß ich dir erst eine langen?“
Schon oft hatte Tom die Frau am Samstag Morgen mit einem blauen Auge gesehen, dennoch hatte er sie nur einmal darauf angesprochen. Da hatte sie geantwortet, sie sei einfach zu ungeschickt und hätte sich gestoßen. Er hatte ihr nicht geglaubt, aber nicht weiter nachgefragt. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, ihr das geschundene Gesicht gestreichelt und ihr gesagt, wie leid ihm alles tat. Manchmal, wenn er ihr in die Augen sah, wandte sie traurig ihren Blick von ihm ab. Es tat ihm weh, sie so traurig zu sehen.
„So, du Miststück, mach die Beine breit! Jetzt werd ich dich mal ordentlich durchficken. Das willst du doch. Los, sag, daß du es willst!“
Das Bett fing an, im Rhythmus, den die beiden nebenan vorgaben, zu quietschen. Tom wollte das nicht hören und drückte sich das Kopfkissen auf seinen Kopf. Das dämpfte die Geräusche zwar, ließ sie aber nicht völlig verschwinden und so hörte er die Frau stöhnen: „Ja, fick mich durch, sei mein Hengst. Du bist der Beste. Ja...ja...ja...“ Jetzt schlug das Bett gegen die Wand. Bumm...bumm...bumm... Tom schlug im gleichen Takt voller Wut auf seine Bettdecke. Nein...nein...nein... das Stöhnen wurde lauter und lauter. Gleich würde es vorbei sein.
„Ja...ich komme. Du Sau, du hast es mir gut besorgt. Ich werd dich weiterempfehlen und dann krieg ich das nächste Mal Rabatt, verstanden?“
Tom war froh, als er hörte, daß der Mann ging und hoffte, er würde diesen Freitag der einzige bleiben. Dann vernahm er Geräusche aus dem Badezimmer. Sie wusch sich, wie immer, wenn einer dieser Männer gegangen war.
Viele Gedanken kreisten in Toms Kopf, doch er konnte keinen greifen - Wut, Trauer, Erleichterung und ein ganz klein wenig Freude. Freude darüber, daß es am Wochenende mal wieder etwas Gutes zu essen geben würde.
Als er hörte, daß die Tür zu seinem Zimmer aufging, schloß er schnell die Augen und tat so, als würde er schlafen. Er hörte, wie seine Mutter leise an sein Bett kam. Sie küßte seine Stirn und streichelte liebevoll sein Haar. „Mein guter Junge, Gott sei Dank hast du einen tiefen Schlaf und mußt das nicht alles mitbekommen.“ Dann ging sie.
Tom fühlte heiße Tränen über seine Wangen laufen. Nein, niemals sollte seine Mutter erfahren, daß er alles hörte, alles wußte. Er wollte diese Schuldgefühle und dieses Leiden in ihren Augen nicht sehen, denn sie tat das alles einzig und allein für ihn, dafür, daß es ihm einmal besser ging.

 

Noch ein Wort zur Mutter (und zum letzten Beitrag). Natürlich ist eine Mutter, die weniger weiß als der Leser (und ihr Kind), dramatischer. Aber wenn sie verdrängt, und das wäre in der Tat ein natürlicher Vorgang, dann muß das im Text auch verankert sein. Und das ist es, wie ich finde, nicht. Denn Verdrängung zeichnet sich nur durch die Ablehnung von Tatsachen aus, das wäre bloße Ignoranz und ganz und gar nicht dramatisch, sondern eben auch durch die Wiederkehr des Verdrängten. Man muß nicht übermäßig psychologisieren, aber daß die Mutter ein Problem hat mit ihrem Job, damit kämpft, ihn vor ihrem Kind zu verbergen, möglichweise ahnt, daß es etwas ahnt etc., sowas hätte ich mir gewünscht. Andeutungsweise.
Sprachlich sehe ich übrigens keine Probleme.
Gruß

 

Hallo Stingray,

erst einmal vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Generell verstehe ich, was Du mir sagen willst, aber ich persönlich halte nicht viel davon, eine Geschichte künstlich mit langen Sätzen zu verkomplizieren, wenn ich dasselbe viel ausdruckstärker mit wörtlicher Rede rüberbringen kann. Manchmal ist weniger einfach mehr. Sicher kann man darüber geteilter Meinung sein, aber ich möchte mir beim Schreiben schon treu bleiben. Darum werde ich am Stil sicher nichts groß ändern.

@ Heiner

Du hast völlig recht und ich werde das wie angekündigt auch ändern. Wenn man selber weiß, was man sagen bzw. ausdrücken will, übersieht man einiges, was dem Leser schleierhaft bleibt...

Danke nochmals.

Grüße
Bea

 

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