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- 31.08.2008
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Der lange Aufstieg zum Gipfel
Maisu ließ seinen Blick über den Himmel schweifen. Ein Krähenschwarm zog vorüber, um sich in dem nahen Wald zur Nachtruhe zu begeben. Die Krähen wirkten unruhig, flogen unschlüssig mal hierhin, mal dorthin. Jakintsu folgte Maisus Blicken, die aufmerksam die Krähen beobachteten und dabei besorgt wirkten. „Komm!“, sagte Maisu und ging voraus in das Zelt. Jakintsu ging ebenfalls in das Zelt. Sie setzten sich an das Feuer und schwiegen.
Unvermittelt hob Maisu die Stimme: „Meine Zeit ist gekommen. Ich werde euch verlassen. Du bist reif, an meine Stelle zu treten.“
Jakintsu war erschrocken. Lange hatte der alte Schamane ihn vorbereitet. Jakintsu kannte die Regeln, und doch konnte er es nicht fassen. „Warum denkst du, ich wäre soweit?“, versuchte Jakintsu eine Widerrede.
„Hast du nicht bemerkt, was in den vergangenen Wochen geschehen ist? Als die Eindringlinge kamen, hast du rechtzeitig gewarnt. Du hattest den Traum, der dir sagte, daß eine Gefahr drohte, nicht ich. Als wir auf Jagd gingen, hast du die Schützen an das Wild geführt. Du kannst nicht nur an meine Stelle treten, du bist schon an meiner Stelle. Du bist der Schamane unseres Volkes, du weißt es nur noch nicht.“
„Ich werde es nicht können. Ich werde dich nicht töten.“ Jakintsus Stimme bebte.
„Du kannst es, wie ich es konnte, als meine Zeit gekommen war. Es kann nur einen Schamanen geben; das ist unsere Regel seit Anbeginn der Zeit. Du wirst mich töten und an meine Stelle treten. Und ich werde im Weltmeer schwimmen.“
Jakintsu schwieg und sah in das Feuer. Maisu und er hatten ihre Fellmützen abgelegt; Jakintsu konnte Maisus weiße Haarsträhnen im Feuerschein blitzen sehen. Maisu war alt geworden, aber immer noch sehr gut bei Kräften.
„Wirst du wiederkommen?“
„Nein, meine Zeit ist um. Ich war viele Generationen bei meinem Volk. Dieses ist mein letztes Leben. Ich werde nicht zurückkehren. Du dagegen bist eine junge Seele. Du wirst unser Volk noch lange begleiten.“
Maisu nahm seine Trommel und begann, sie rhythmisch zu bearbeiten. Schnell hatte er sich in Trance versetzt; Jakintsu wachte neben ihm. Heftige Erschütterungen gingen durch Maisus Körper, als er ihn verließ. Er schlug weiter die Trommel; wie ein Leuchtfeuer wies sie ihm den Weg zurück. Nach einer Weile kam Maisu wieder in seinen Körper und schlug die Augen auf. Jakintsu sah ihn wißbegierig an, aber Maisu sprach nicht. Stattdessen machte er sich bereit, zu schlafen.
Am nächsten Morgen brachen die beiden Männer vor Sonnenaufgang auf. Maisu trug nur seinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen, dazu einen Dolch, eine Axt mit glänzender kupferner Klinge und sein Schwirrholz. Jakintsu trug ebenfalls Dolch, Bogen und Pfeile, aber keinen Proviant. In seinem Rucksack befanden sich nur Heilpflanzen und Pilze.
Ihr Weg führte sie dem Bachlauf entlang bergan. Wieder umschwärmten sie die Krähen. Maisu hielt an und beobachtete sie schweigend. Etwas bedrückendes beschäftigte ihn, worüber er mit Jakintsu nicht sprechen wollte. So wanderten sie schweigend den ganzen Tag. Abends waren sie schon an der Baumgrenze angekommen und rasteten hinter einem Felsvorsprung. Jakintsu machte ein kleines, rauchloses Feuer. Schweigend saßen sie und wärmten sich. Als die ersten Sterne sichtbar wurden, fing Maisu an zu sprechen:
„Ich sehe eine dunkle Zukunft. Die Fremden aus dem Osten sind auf dem Vormarsch. Sie werden alles Land einnehmen; für uns Jäger wird kein Raum bleiben. Sie werden die Wälder vernichten, wo wir unser Wild jagen, und ihre Äcker dort anlegen. Es kommt eine Steinzeit auf uns zu. Die Fremden werden große Steine zu Anlagen zusammentragen, die den Lauf der Sterne beschreiben. Sie werden nicht wie wir ihre Toten den Vögeln zum Fraß übergeben, sondern sie bestatten, damit ihre Körper lange bestehen und sie mit den zweiten Leibern, den Geistern, reden können. Schließlich werden sie auch Häuser aus Stein bauen. Die Leichtigkeit, mit der wir auf dieser Welt wandern, den Jahreszeiten und dem Wild folgend, wird ihnen fremd sein. Da sie glauben, die Erde zu besitzen, werden sie ständig darum Kriege führen…“
Maisu hielt inne. „Sie bestatten ihre Toten?“, fragte Jakintsu nach.
„Ja, das ist ihr schwerstes Vergehen. Da ihre Körper sich nicht auflösen, vergehen die zweiten Leiber nicht. Das liegt ja in ihrer Absicht; damit diese Macht bekommen und ihnen helfen, opfern sie ihnen und beten die Mächtigsten von ihnen an. Aber, wie du weißt: diese Erscheinungen der Zwischenwelt haben keine Seelen, sie können sehr böse werden…“
„Was hast du noch gesehen? Wo kommen sie her?“
„Ihre Mythen sagen, daß sie auf der Flucht sind, seit eine große Flut sie aus ihrem Land fern im Osten vertrieben hat. Das liegt lange zurück, aber sie kommen mir jetzt noch vor wie Menschen auf der Flucht.“
„Wann hört diese Zeit auf? Wird es ein Ende geben?“, fragte Jakintsu nach.
„Ja, zumindest wird es dafür eine Möglichkeit geben. Eine neue Religion wird kommen, die die Geister und Dämonen vertreiben und den Seelen wieder den Weg zum Weltmeer weisen wird. Aber auch sie wird an der Bestattung festhalten … damit die Geister keinen Schaden anrichten, wird man die Gräber mit Steinen beschweren; damit die Geister die neuen Riten nicht stören, wird man zu deren Beginn und Abschluß Lärm mit metallenen Glocken machen. Die neuen Priester kennen den Weg, aber sie gehen ihn nur halb … auch deshalb werden sie ihre Riten nicht unter freiem Himmel, sondern in gewaltigen Steinhäusern ausführen.“
„Sie weisen den Seelen den Weg zum Weltmeer, aber halten sie in Steinhäusern gefangen?“ Jakintsu klang ungläubig.
„Ja, denn sie werden ein Volk von Knechten sein, nicht frei wie wir. Man weist ihnen den Weg, den zu gehen sie im Tode frei werden. Nicht vorher, wie sollten sie sonst ihren Herren dienen?“
„Sage mir, welchen Weg sie gehen. Es scheint mir ein neuer Weg zu sein.“
„Nein, kein neuer Weg, nur ein vergessener … es gibt viele Wege, und alle bestehen von Anfang an … diese Menschen werden den Weg des Herzens gehen.“
Maisu sah Jakintsu mit leuchtenden, warmen Augen an. So war sein Blick noch nie in ihn gedrungen. Jakintsus Brust wurde warm und von Wohlgefühl durchströmt; vor seinem inneren Auge entstand ein leuchtender Bogen, der sein Herz mit dem Maisus verband. Jakintsu spürte, daß Maisu ihn, sein Volk, dieses Leben, einfach alles liebte, so wie es war … das Hochgefühl wurde so stark, daß er die Kontrolle verlor, die Liebe schwemmte ihn wie eine gewaltige warme Welle direkt in das Weltmeer zwischen den Sternen … als er zurückkam, hatte er verstanden: das also war der Weg, den diese neue Religion weisen wird.
„Ein schöner Pfad“, sagte Jakintsu.
„Ja, einer in gleißendem Licht, umgeben von tiefen dunklen Schatten“, antwortete Maisu nüchtern.
Beide schwiegen. Über ihnen leuchtete die Pracht der Sterne. „Zu welchem wirst du gehen?“ fragte Jakintsu.
„Du weißt es“, entgegnete Maisu. Jakintsu dachte kurz nach. Dicht über dem Horizont war ein heller weißer Stern aufgegangen, einer der wenigen, die durch den Himmel zogen und ihre Lage beständig veränderten. Dieser Stern stand für die Liebe, aber für eine ganz besondere Art von Liebe… Maisu hatte stets die Frauen geliebt, seine und auch andere; mit vielen hatte er Kinder, sogar Jakintsus Frau hatte eines ihrer Kinder von Maisu … ja, zu diesem Stern würde es ihn ziehen … Jakintsu blickte abwechselnd zur Venus und zu Maisu, er lachte Maisu an, ihre Blicke trafen sich und Maisu erwiderte ihn voller Schalk in den Augen.
Ein Rabe umkreiste das Feuer und setzte sich. Seinen Kopf hielt er schräg und sah unverwandt mit dem linken Auge zu Maisu, der den Blick erwiderte. Für einen langen Augenblick sahen sie sich regungslos an. Schließlich flog der Rabe davon.
„Was hat er erzählt?“ fragte Jakintsu ungeduldig.
„Morgen werden wir die Wanderung mit den Bögen und Pfeilen in der Hand fortsetzen“, antwortete Maisu ernst.
Als der Morgen dämmerte, waren die beiden Männer schon auf dem Weg zum Gletscher, den sie für den Aufstieg zum Gipfel überwinden mußten. Sie hatten den Bachlauf verlassen und folgten nun einem schmalen Pfad, den die Gemsen ausgetreten hatten. Gegen Mittag näherten sie sich einer Stelle, an der ihr Weg durch eine kleine Schlucht führte, die von hohen Steinen umgeben war – eine gute Deckung für einen Hinterhalt. Maisu blieb stehen und sah prüfend umher, dann entschied er sich für einen Umweg, der oben über die Steine führte. Wachsam umherschauend gingen sie langsam voran, die Bögen mit aufgelegten Pfeilen in der Hand haltend. Plötzlich ließ sich Maisu fallen und rollte auf dem Boden hinter einen Stein, Jakintsu sah einen Pfeil über Maisu hinweg zischen und warf sich ebenfalls hinter einen Stein. Auch von der anderen Seite wurde ein Pfeil auf sie abgeschossen. Maisu und Jakintsu setzten sich und hielten beide Seiten im Auge, die Bewegung des anderen war das Signal zum Ausweichen. So überstanden sie noch ein paar Schüsse. Schließlich gingen die Angreifer mit Dolchen auf sie los. Es waren fünf Männer; Maisu und Jakintsu standen jetzt Rücken an Rücken, Jakintsu zwei, Maisu drei abwehrend. Jakintsu gelang es, seine zwei mit Dolchstichen außer Gefecht zu setzen. Maisu wurde von den übrigen drei Angreifern zu Fall gebracht, wobei er mit dem Hinterkopf auf einen Stein aufschlug. Sie fielen mit ihren Messern über ihn her. Jakintsu kam ihm zu Hilfe und wehrte die Angreifer ab, so daß Maisu wieder aufstehen konnte. Jakintsu konnte einen weiteren Angreifer töten, während Maisu dazu überging, seine Kupferaxt zu schwingen und hinter den letzten zwei Angreifern her zu toben. Die traten die Flucht an und waren nicht einzuholen.
Maisu und Jakintsu setzten die Wanderung zügig fort, wobei sie einen schnellen Aufstieg durch übersichtliches Gelände suchten. Erst nachdem sie ein sicheres Stück Weg hinter sich gelassen hatten, wagten sie eine kurze Rast. Maisu hate eine Platzwunde am Hinterkopf und einige Messerstiche am Arm davongetragen, die Jakintsu nun verband. Er reinigte die Wunden und streute ein Pulver auf, daß er durch Zerreiben eines Birkenporlings erzeugte; dieses würde einer Entzündung vorbeugen. Dann trug er Heilkräuter auf und verband die Wunden. Danach setzten sie den Aufstieg fort.
Gegen Abend wählten sie einen Rastplatz im Windschutz einer Schneewächte. Sie setzten sich eng nebeneinander und deckten sich mit einem Fell zu.
„Ich werde deine Hilfe brauchen“, begann Jakintsu das Gespräch, „bleib bei uns.“
„Das wäre ein schweres Vergehen“, entgegnete Maisu.
„Du könntest mein Kundschafter sein. Du könntest unser Volk auf die Gefahren aufmerksam machen, die ihm bevorstehen. Du wärest der geheime Verbündete unseres Volkes, mein und aller meiner Nachfolger Ratgeber. Es kommen schwere Zeiten auf uns zu. Wir brauchen dich.“
Maisu stand auf und ging einige Schritte von der Wächte weg auf die freie Fläche. Er nahm sein Schwirrholz aus einer Tasche seiner Jacke, wickelte das Band ab und ließ das Holz langsam linksherum um seinen Kopf kreisen. Es dauerte lange, bis das Holz so schnell wurde, daß ein gleichmäßiges Summen ertönte und Maisus Seele sich mit diesem Summen auf die Reise begab.
Jakintsu folgte jeder Bewegung des Schamanen, der stumm mit geschlossenen Augen in der Nacht stand und das Holz summend kreisen ließ. Die Sterne schienen über ihnen. Ein Asteroid leuchtete auf und verglühte. Maisu stand und schwang das Holz.
Schließlich wurde das Schwirrholz langsamer, Maisu nahm es wieder an sich, kam zurück und setzte sich neben Jakintsu unter das Fell. Er hatte sich entschieden.
„Ich bin durch alle Länder gereist, die uns umgeben. Überall herrschen diese fremden Völker mit ihren Geistern, die sie als Kundschafter aussenden können, für die sie Steine aufrichten und denen sie so lange opfern, bis sie zu mächtigen Dämonen heranwachsen, die die Macht an sich reißen und den Priestern befehlen, statt ihnen zu Diensten zu sein. Ich werde dir meinen zweiten Leib geben, damit unser Volk auch einen Verbündeten in der Zwischenwelt hat, einen einzigen.“
Maisu sah seinem Nachfolger tief in die Augen. „Wir werden nicht auf den Gipfel gehen. Du wirst, nachdem du mich getötet hast, meinen Leib nicht entkleiden und aufschlitzen, damit die Adler ihn schnell holen. Wir werden dicht unter dem Gipfel im Eis bleiben, wo mein Körper einfrieren wird und unter dem Schnee lange erhalten bleibt. Dadurch wird auch mein zweiter Leib lange leben. Mein Körper wird mit dem Gletscher talwärts wandern, aber das wird sehr lange dauern. Du wirst meinen zweiten Leib rufen und ihm Kräuter und Tiere opfern, damit er bei Kräften bleibt, und deinen Nachfolger ebenso unterweisen, wenn die Zeit gekommen ist. Mein zweiter Leib wird dafür stetig durch die Länder reisen, alles beobachten und euch mitteilen, was ihr für euer Überleben wissen müßt. Aber bedenke, daß dieser Verbündete keine Seele hat, daß er böse werden kann, daß du ihm nie gehorchen darfst, sondern daß stets du sein Herr bleiben mußt. Ich selbst werde nicht auf euch aufpassen können, denn ich werde in das Weltmeer reisen und für immer darin schwimmen…“
„Was ist, wenn das Eis deinen Körper wieder frei gibt?“, fragte Jakintsu.
„Mach´ dir darum keine Sorgen," antwortete Maisu. „das wird erst nach langer Zeit sein, wenn das Eis verschwindet. Dann wird es unser Volk nicht mehr geben und wir werden lange vergessen sein.“
Jakintsu nickte. Beide schliefen schnell ein.
Am darauffolgenden Tag setzten sie bei strahlendem Sonnenschein ihren Weg zum Gipfel fort, wobei sie auf dem Eis auf die Gletscherpalten achtgeben mußten. Maisu beobachtete mit prüfenden Blicken das Eis und schätzte dessen Bewegungen ab, um eine passende Stelle für seinen Abschied zu finden.
Gegen Mittag waren sie dicht unter dem Gipfel in einer kleinen Senke angekommen, die Maisu geeignet erschien. Das Eis drückte diese Fläche langsam talwärts, ohne sie aufzureißen; nach Jahrtausenden wird das Eis im Tal ankommen und auftauen – genug Zeit. Maisu suchte sich seinen Platz, von dem aus er auf seine letzte Reise aufbrechen würde. Damit er aufrecht sitzend im Schnee bleiben und schnell vollständig einschneien würde, gruben er und Jakintsu eine kleine Vertiefung, in die sich Maisu setzen konnte. Die Gegenstände seiner Ausrüstung stellte Maisu um diesen Platz herum auf: den Bogen, den Köcher mit den Pfeilen, seine Axt mit der Kupferklinge. Den Dolch behielt er am Körper, das Schwirrholz gab er Jakintsu: „Das kannst du jetzt haben; es führt ohnehin nur dorthin, wo mein zweiter Leib jetzt hingeht; die anderen Gegenstände, die ich sonst dir übergeben hätte, wird mein zweiter Leib noch benötigen – leider.“
Ohne ein weiteres Wort oder einen Abschied setzt sich Maisu in die Vertiefung und bedeutete Jakintsu, daß er bereit sei. Jakintsu zögerte. Jetzt war der Augenblick gekommen, auf den er sich viele Jahre lang vorbereitet hatte. Er sah Maisu an, der jedoch seine Sitzposition bezogen und die Augen geschlossen hatte. Jakintsu ging zurück – zwanzig Schritte hinter Maisus Rücken; das war die Regel. Er drehte sich um und sah Maisu unbeweglich und dunkel im glitzernden Schnee sitzen; die Sonne stand direkt über ihm. Jakintsu nahm den Bogen in die rechte Hand, einen Pfeil aus dem Köcher – legte den Pfeil auf – seine Hände zitterten; er nahm den Bogen wieder herunter. Er spürte, wie seine Erregung zunahm; er mußte sich beeilen, sonst würde er gar nicht mehr schießen können. Ein zweites Mal hob er den Bogen, legte den Pfeil auf, zielte, „nicht auf das Herz, nicht auf das Herz!“, hörte er eine Stimme von links; „auf das Herz, das ist die Regel“, hörte er eine Stimme von rechts. Ihm wurde warm ums Herz und er erinnerte sich an den Abend, als Maisu ihm gezeigt hatte, wie sich der Weg des Herzens anfühlt. Beide Stimmen wurden lauter, „Ziele genau auf das Herz!“ und „Nicht auf das Herz!“ drang es immer wieder auf ihn ein. Dann hörte er Maisu sprechen; ganz ruhig sprach er in seinem Inneren zu ihm und wiederholte, was er ihn vor vielen Jahren gelehrt hatte: „Wenn Dein Verstand und Dein Gefühl sich nicht einigen können, wenn du nicht weißt, was du tun mußt, dann vertraue dich ganz deiner Seele an, übergib dich ihr und überlasse ihr die Führung, deine Seele weiß immer, was richtig ist.“ Die Stimmen verstummten. Plötzlich hob Jakintsu mit ungeahnter Kraft den Bogen, legte den Pfeil auf, spannte – seine Augen waren voller Tränen und er sah Maisu nur noch verschwommen als dunklen Schatten, als er endlich schoß. Dann fiel er vornüber in den Schnee.
Jakintsu hatte nur einen Augenblick dagelegen, als er sich wieder besann und aufschaute. Da saß Maisu aufrecht in der Sonne, der Pfeil steckte oben in der linken Schulter! Damit konnte er noch tagelang leben, selbst wenn er den Lungenflügel getroffen hätte, würde es Stunden dauern, bis er starb. Welch ein böses Omen! Fassungslos starrte Jakintsu zu Maisu. Da neigte sich Maisu leicht zur Seite, sein Kopf legte sich auf seine Schulter – er starb. „Wie konnte das sein?“, dachte Jakintsu. „Er stirbt tatsächlich; ich muß unter dem Schlüsselbein die Armschlagader getroffen haben!“, durchfuhr es ihn. Maisu rührte sich nicht mehr, Jakintsu spürte in seinem Herzen, wie Maisus Herz langsamer und langsamer schlug und dann stehenblieb. Jakintsu blieb unbeweglich sitzen und sah zu Maisu hinüber. Aus dessen Körper erhob sich ein riesiger, weißer Adler, mit wenigen Flügelschlägen war er bei Jakintsu, drehte eine Runde um die beiden, dann kam er ganz nah an Jakintsus Kopf vorbei und rief schrill: „Danke für den lieben Schuß!“, wehte ihm mit einem Schlag seiner großen Schwingen einen kräftigen zärtlichen Windstoß in das Gesicht, daß seine Haare tanzten und flog zurück zu Maisus Körper; über dem blieb er im leichten Talwind reglos in der Luft stehen und ließ sich langsam in die Höhe tragen. Jakintsu sah ihm nach; er entdeckte, daß der Adler an seiner rechten Schwinge eine schwarze Feder hatte; er verstand und sah dem Adler zu, wie er an Höhe gewann, ohne sich zu bewegen, bis Jakintsu ihn im strahlenden Himmel aus den Augen verlor.