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Der lange Aufstieg zum Gipfel

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31.08.2008
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Der lange Aufstieg zum Gipfel

Maisu ließ seinen Blick über den Himmel schweifen. Ein Krähenschwarm zog vorüber, um sich in dem nahen Wald zur Nachtruhe zu begeben. Die Krähen wirkten unruhig, flogen unschlüssig mal hierhin, mal dorthin. Jakintsu folgte Maisus Blicken, die aufmerksam die Krähen beobachteten und dabei besorgt wirkten. „Komm!“, sagte Maisu und ging voraus in das Zelt. Jakintsu ging ebenfalls in das Zelt. Sie setzten sich an das Feuer und schwiegen.
Unvermittelt hob Maisu die Stimme: „Meine Zeit ist gekommen. Ich werde euch verlassen. Du bist reif, an meine Stelle zu treten.“
Jakintsu war erschrocken. Lange hatte der alte Schamane ihn vorbereitet. Jakintsu kannte die Regeln, und doch konnte er es nicht fassen. „Warum denkst du, ich wäre soweit?“, versuchte Jakintsu eine Widerrede.
„Hast du nicht bemerkt, was in den vergangenen Wochen geschehen ist? Als die Eindringlinge kamen, hast du rechtzeitig gewarnt. Du hattest den Traum, der dir sagte, daß eine Gefahr drohte, nicht ich. Als wir auf Jagd gingen, hast du die Schützen an das Wild geführt. Du kannst nicht nur an meine Stelle treten, du bist schon an meiner Stelle. Du bist der Schamane unseres Volkes, du weißt es nur noch nicht.“
„Ich werde es nicht können. Ich werde dich nicht töten.“ Jakintsus Stimme bebte.
„Du kannst es, wie ich es konnte, als meine Zeit gekommen war. Es kann nur einen Schamanen geben; das ist unsere Regel seit Anbeginn der Zeit. Du wirst mich töten und an meine Stelle treten. Und ich werde im Weltmeer schwimmen.“
Jakintsu schwieg und sah in das Feuer. Maisu und er hatten ihre Fellmützen abgelegt; Jakintsu konnte Maisus weiße Haarsträhnen im Feuerschein blitzen sehen. Maisu war alt geworden, aber immer noch sehr gut bei Kräften.
„Wirst du wiederkommen?“
„Nein, meine Zeit ist um. Ich war viele Generationen bei meinem Volk. Dieses ist mein letztes Leben. Ich werde nicht zurückkehren. Du dagegen bist eine junge Seele. Du wirst unser Volk noch lange begleiten.“
Maisu nahm seine Trommel und begann, sie rhythmisch zu bearbeiten. Schnell hatte er sich in Trance versetzt; Jakintsu wachte neben ihm. Heftige Erschütterungen gingen durch Maisus Körper, als er ihn verließ. Er schlug weiter die Trommel; wie ein Leuchtfeuer wies sie ihm den Weg zurück. Nach einer Weile kam Maisu wieder in seinen Körper und schlug die Augen auf. Jakintsu sah ihn wißbegierig an, aber Maisu sprach nicht. Stattdessen machte er sich bereit, zu schlafen.

Am nächsten Morgen brachen die beiden Männer vor Sonnenaufgang auf. Maisu trug nur seinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen, dazu einen Dolch, eine Axt mit glänzender kupferner Klinge und sein Schwirrholz. Jakintsu trug ebenfalls Dolch, Bogen und Pfeile, aber keinen Proviant. In seinem Rucksack befanden sich nur Heilpflanzen und Pilze.
Ihr Weg führte sie dem Bachlauf entlang bergan. Wieder umschwärmten sie die Krähen. Maisu hielt an und beobachtete sie schweigend. Etwas bedrückendes beschäftigte ihn, worüber er mit Jakintsu nicht sprechen wollte. So wanderten sie schweigend den ganzen Tag. Abends waren sie schon an der Baumgrenze angekommen und rasteten hinter einem Felsvorsprung. Jakintsu machte ein kleines, rauchloses Feuer. Schweigend saßen sie und wärmten sich. Als die ersten Sterne sichtbar wurden, fing Maisu an zu sprechen:
„Ich sehe eine dunkle Zukunft. Die Fremden aus dem Osten sind auf dem Vormarsch. Sie werden alles Land einnehmen; für uns Jäger wird kein Raum bleiben. Sie werden die Wälder vernichten, wo wir unser Wild jagen, und ihre Äcker dort anlegen. Es kommt eine Steinzeit auf uns zu. Die Fremden werden große Steine zu Anlagen zusammentragen, die den Lauf der Sterne beschreiben. Sie werden nicht wie wir ihre Toten den Vögeln zum Fraß übergeben, sondern sie bestatten, damit ihre Körper lange bestehen und sie mit den zweiten Leibern, den Geistern, reden können. Schließlich werden sie auch Häuser aus Stein bauen. Die Leichtigkeit, mit der wir auf dieser Welt wandern, den Jahreszeiten und dem Wild folgend, wird ihnen fremd sein. Da sie glauben, die Erde zu besitzen, werden sie ständig darum Kriege führen…“
Maisu hielt inne. „Sie bestatten ihre Toten?“, fragte Jakintsu nach.
„Ja, das ist ihr schwerstes Vergehen. Da ihre Körper sich nicht auflösen, vergehen die zweiten Leiber nicht. Das liegt ja in ihrer Absicht; damit diese Macht bekommen und ihnen helfen, opfern sie ihnen und beten die Mächtigsten von ihnen an. Aber, wie du weißt: diese Erscheinungen der Zwischenwelt haben keine Seelen, sie können sehr böse werden…“
„Was hast du noch gesehen? Wo kommen sie her?“
„Ihre Mythen sagen, daß sie auf der Flucht sind, seit eine große Flut sie aus ihrem Land fern im Osten vertrieben hat. Das liegt lange zurück, aber sie kommen mir jetzt noch vor wie Menschen auf der Flucht.“
„Wann hört diese Zeit auf? Wird es ein Ende geben?“, fragte Jakintsu nach.
„Ja, zumindest wird es dafür eine Möglichkeit geben. Eine neue Religion wird kommen, die die Geister und Dämonen vertreiben und den Seelen wieder den Weg zum Weltmeer weisen wird. Aber auch sie wird an der Bestattung festhalten … damit die Geister keinen Schaden anrichten, wird man die Gräber mit Steinen beschweren; damit die Geister die neuen Riten nicht stören, wird man zu deren Beginn und Abschluß Lärm mit metallenen Glocken machen. Die neuen Priester kennen den Weg, aber sie gehen ihn nur halb … auch deshalb werden sie ihre Riten nicht unter freiem Himmel, sondern in gewaltigen Steinhäusern ausführen.“
„Sie weisen den Seelen den Weg zum Weltmeer, aber halten sie in Steinhäusern gefangen?“ Jakintsu klang ungläubig.
„Ja, denn sie werden ein Volk von Knechten sein, nicht frei wie wir. Man weist ihnen den Weg, den zu gehen sie im Tode frei werden. Nicht vorher, wie sollten sie sonst ihren Herren dienen?“
„Sage mir, welchen Weg sie gehen. Es scheint mir ein neuer Weg zu sein.“
„Nein, kein neuer Weg, nur ein vergessener … es gibt viele Wege, und alle bestehen von Anfang an … diese Menschen werden den Weg des Herzens gehen.“
Maisu sah Jakintsu mit leuchtenden, warmen Augen an. So war sein Blick noch nie in ihn gedrungen. Jakintsus Brust wurde warm und von Wohlgefühl durchströmt; vor seinem inneren Auge entstand ein leuchtender Bogen, der sein Herz mit dem Maisus verband. Jakintsu spürte, daß Maisu ihn, sein Volk, dieses Leben, einfach alles liebte, so wie es war … das Hochgefühl wurde so stark, daß er die Kontrolle verlor, die Liebe schwemmte ihn wie eine gewaltige warme Welle direkt in das Weltmeer zwischen den Sternen … als er zurückkam, hatte er verstanden: das also war der Weg, den diese neue Religion weisen wird.
„Ein schöner Pfad“, sagte Jakintsu.
„Ja, einer in gleißendem Licht, umgeben von tiefen dunklen Schatten“, antwortete Maisu nüchtern.

Beide schwiegen. Über ihnen leuchtete die Pracht der Sterne. „Zu welchem wirst du gehen?“ fragte Jakintsu.
„Du weißt es“, entgegnete Maisu. Jakintsu dachte kurz nach. Dicht über dem Horizont war ein heller weißer Stern aufgegangen, einer der wenigen, die durch den Himmel zogen und ihre Lage beständig veränderten. Dieser Stern stand für die Liebe, aber für eine ganz besondere Art von Liebe… Maisu hatte stets die Frauen geliebt, seine und auch andere; mit vielen hatte er Kinder, sogar Jakintsus Frau hatte eines ihrer Kinder von Maisu … ja, zu diesem Stern würde es ihn ziehen … Jakintsu blickte abwechselnd zur Venus und zu Maisu, er lachte Maisu an, ihre Blicke trafen sich und Maisu erwiderte ihn voller Schalk in den Augen.

Ein Rabe umkreiste das Feuer und setzte sich. Seinen Kopf hielt er schräg und sah unverwandt mit dem linken Auge zu Maisu, der den Blick erwiderte. Für einen langen Augenblick sahen sie sich regungslos an. Schließlich flog der Rabe davon.
„Was hat er erzählt?“ fragte Jakintsu ungeduldig.
„Morgen werden wir die Wanderung mit den Bögen und Pfeilen in der Hand fortsetzen“, antwortete Maisu ernst.

Als der Morgen dämmerte, waren die beiden Männer schon auf dem Weg zum Gletscher, den sie für den Aufstieg zum Gipfel überwinden mußten. Sie hatten den Bachlauf verlassen und folgten nun einem schmalen Pfad, den die Gemsen ausgetreten hatten. Gegen Mittag näherten sie sich einer Stelle, an der ihr Weg durch eine kleine Schlucht führte, die von hohen Steinen umgeben war – eine gute Deckung für einen Hinterhalt. Maisu blieb stehen und sah prüfend umher, dann entschied er sich für einen Umweg, der oben über die Steine führte. Wachsam umherschauend gingen sie langsam voran, die Bögen mit aufgelegten Pfeilen in der Hand haltend. Plötzlich ließ sich Maisu fallen und rollte auf dem Boden hinter einen Stein, Jakintsu sah einen Pfeil über Maisu hinweg zischen und warf sich ebenfalls hinter einen Stein. Auch von der anderen Seite wurde ein Pfeil auf sie abgeschossen. Maisu und Jakintsu setzten sich und hielten beide Seiten im Auge, die Bewegung des anderen war das Signal zum Ausweichen. So überstanden sie noch ein paar Schüsse. Schließlich gingen die Angreifer mit Dolchen auf sie los. Es waren fünf Männer; Maisu und Jakintsu standen jetzt Rücken an Rücken, Jakintsu zwei, Maisu drei abwehrend. Jakintsu gelang es, seine zwei mit Dolchstichen außer Gefecht zu setzen. Maisu wurde von den übrigen drei Angreifern zu Fall gebracht, wobei er mit dem Hinterkopf auf einen Stein aufschlug. Sie fielen mit ihren Messern über ihn her. Jakintsu kam ihm zu Hilfe und wehrte die Angreifer ab, so daß Maisu wieder aufstehen konnte. Jakintsu konnte einen weiteren Angreifer töten, während Maisu dazu überging, seine Kupferaxt zu schwingen und hinter den letzten zwei Angreifern her zu toben. Die traten die Flucht an und waren nicht einzuholen.

Maisu und Jakintsu setzten die Wanderung zügig fort, wobei sie einen schnellen Aufstieg durch übersichtliches Gelände suchten. Erst nachdem sie ein sicheres Stück Weg hinter sich gelassen hatten, wagten sie eine kurze Rast. Maisu hate eine Platzwunde am Hinterkopf und einige Messerstiche am Arm davongetragen, die Jakintsu nun verband. Er reinigte die Wunden und streute ein Pulver auf, daß er durch Zerreiben eines Birkenporlings erzeugte; dieses würde einer Entzündung vorbeugen. Dann trug er Heilkräuter auf und verband die Wunden. Danach setzten sie den Aufstieg fort.

Gegen Abend wählten sie einen Rastplatz im Windschutz einer Schneewächte. Sie setzten sich eng nebeneinander und deckten sich mit einem Fell zu.
„Ich werde deine Hilfe brauchen“, begann Jakintsu das Gespräch, „bleib bei uns.“
„Das wäre ein schweres Vergehen“, entgegnete Maisu.
„Du könntest mein Kundschafter sein. Du könntest unser Volk auf die Gefahren aufmerksam machen, die ihm bevorstehen. Du wärest der geheime Verbündete unseres Volkes, mein und aller meiner Nachfolger Ratgeber. Es kommen schwere Zeiten auf uns zu. Wir brauchen dich.“
Maisu stand auf und ging einige Schritte von der Wächte weg auf die freie Fläche. Er nahm sein Schwirrholz aus einer Tasche seiner Jacke, wickelte das Band ab und ließ das Holz langsam linksherum um seinen Kopf kreisen. Es dauerte lange, bis das Holz so schnell wurde, daß ein gleichmäßiges Summen ertönte und Maisus Seele sich mit diesem Summen auf die Reise begab.
Jakintsu folgte jeder Bewegung des Schamanen, der stumm mit geschlossenen Augen in der Nacht stand und das Holz summend kreisen ließ. Die Sterne schienen über ihnen. Ein Asteroid leuchtete auf und verglühte. Maisu stand und schwang das Holz.
Schließlich wurde das Schwirrholz langsamer, Maisu nahm es wieder an sich, kam zurück und setzte sich neben Jakintsu unter das Fell. Er hatte sich entschieden.
„Ich bin durch alle Länder gereist, die uns umgeben. Überall herrschen diese fremden Völker mit ihren Geistern, die sie als Kundschafter aussenden können, für die sie Steine aufrichten und denen sie so lange opfern, bis sie zu mächtigen Dämonen heranwachsen, die die Macht an sich reißen und den Priestern befehlen, statt ihnen zu Diensten zu sein. Ich werde dir meinen zweiten Leib geben, damit unser Volk auch einen Verbündeten in der Zwischenwelt hat, einen einzigen.“
Maisu sah seinem Nachfolger tief in die Augen. „Wir werden nicht auf den Gipfel gehen. Du wirst, nachdem du mich getötet hast, meinen Leib nicht entkleiden und aufschlitzen, damit die Adler ihn schnell holen. Wir werden dicht unter dem Gipfel im Eis bleiben, wo mein Körper einfrieren wird und unter dem Schnee lange erhalten bleibt. Dadurch wird auch mein zweiter Leib lange leben. Mein Körper wird mit dem Gletscher talwärts wandern, aber das wird sehr lange dauern. Du wirst meinen zweiten Leib rufen und ihm Kräuter und Tiere opfern, damit er bei Kräften bleibt, und deinen Nachfolger ebenso unterweisen, wenn die Zeit gekommen ist. Mein zweiter Leib wird dafür stetig durch die Länder reisen, alles beobachten und euch mitteilen, was ihr für euer Überleben wissen müßt. Aber bedenke, daß dieser Verbündete keine Seele hat, daß er böse werden kann, daß du ihm nie gehorchen darfst, sondern daß stets du sein Herr bleiben mußt. Ich selbst werde nicht auf euch aufpassen können, denn ich werde in das Weltmeer reisen und für immer darin schwimmen…“
„Was ist, wenn das Eis deinen Körper wieder frei gibt?“, fragte Jakintsu.
„Mach´ dir darum keine Sorgen," antwortete Maisu. „das wird erst nach langer Zeit sein, wenn das Eis verschwindet. Dann wird es unser Volk nicht mehr geben und wir werden lange vergessen sein.“
Jakintsu nickte. Beide schliefen schnell ein.

Am darauffolgenden Tag setzten sie bei strahlendem Sonnenschein ihren Weg zum Gipfel fort, wobei sie auf dem Eis auf die Gletscherpalten achtgeben mußten. Maisu beobachtete mit prüfenden Blicken das Eis und schätzte dessen Bewegungen ab, um eine passende Stelle für seinen Abschied zu finden.
Gegen Mittag waren sie dicht unter dem Gipfel in einer kleinen Senke angekommen, die Maisu geeignet erschien. Das Eis drückte diese Fläche langsam talwärts, ohne sie aufzureißen; nach Jahrtausenden wird das Eis im Tal ankommen und auftauen – genug Zeit. Maisu suchte sich seinen Platz, von dem aus er auf seine letzte Reise aufbrechen würde. Damit er aufrecht sitzend im Schnee bleiben und schnell vollständig einschneien würde, gruben er und Jakintsu eine kleine Vertiefung, in die sich Maisu setzen konnte. Die Gegenstände seiner Ausrüstung stellte Maisu um diesen Platz herum auf: den Bogen, den Köcher mit den Pfeilen, seine Axt mit der Kupferklinge. Den Dolch behielt er am Körper, das Schwirrholz gab er Jakintsu: „Das kannst du jetzt haben; es führt ohnehin nur dorthin, wo mein zweiter Leib jetzt hingeht; die anderen Gegenstände, die ich sonst dir übergeben hätte, wird mein zweiter Leib noch benötigen – leider.“

Ohne ein weiteres Wort oder einen Abschied setzt sich Maisu in die Vertiefung und bedeutete Jakintsu, daß er bereit sei. Jakintsu zögerte. Jetzt war der Augenblick gekommen, auf den er sich viele Jahre lang vorbereitet hatte. Er sah Maisu an, der jedoch seine Sitzposition bezogen und die Augen geschlossen hatte. Jakintsu ging zurück – zwanzig Schritte hinter Maisus Rücken; das war die Regel. Er drehte sich um und sah Maisu unbeweglich und dunkel im glitzernden Schnee sitzen; die Sonne stand direkt über ihm. Jakintsu nahm den Bogen in die rechte Hand, einen Pfeil aus dem Köcher – legte den Pfeil auf – seine Hände zitterten; er nahm den Bogen wieder herunter. Er spürte, wie seine Erregung zunahm; er mußte sich beeilen, sonst würde er gar nicht mehr schießen können. Ein zweites Mal hob er den Bogen, legte den Pfeil auf, zielte, „nicht auf das Herz, nicht auf das Herz!“, hörte er eine Stimme von links; „auf das Herz, das ist die Regel“, hörte er eine Stimme von rechts. Ihm wurde warm ums Herz und er erinnerte sich an den Abend, als Maisu ihm gezeigt hatte, wie sich der Weg des Herzens anfühlt. Beide Stimmen wurden lauter, „Ziele genau auf das Herz!“ und „Nicht auf das Herz!“ drang es immer wieder auf ihn ein. Dann hörte er Maisu sprechen; ganz ruhig sprach er in seinem Inneren zu ihm und wiederholte, was er ihn vor vielen Jahren gelehrt hatte: „Wenn Dein Verstand und Dein Gefühl sich nicht einigen können, wenn du nicht weißt, was du tun mußt, dann vertraue dich ganz deiner Seele an, übergib dich ihr und überlasse ihr die Führung, deine Seele weiß immer, was richtig ist.“ Die Stimmen verstummten. Plötzlich hob Jakintsu mit ungeahnter Kraft den Bogen, legte den Pfeil auf, spannte – seine Augen waren voller Tränen und er sah Maisu nur noch verschwommen als dunklen Schatten, als er endlich schoß. Dann fiel er vornüber in den Schnee.

Jakintsu hatte nur einen Augenblick dagelegen, als er sich wieder besann und aufschaute. Da saß Maisu aufrecht in der Sonne, der Pfeil steckte oben in der linken Schulter! Damit konnte er noch tagelang leben, selbst wenn er den Lungenflügel getroffen hätte, würde es Stunden dauern, bis er starb. Welch ein böses Omen! Fassungslos starrte Jakintsu zu Maisu. Da neigte sich Maisu leicht zur Seite, sein Kopf legte sich auf seine Schulter – er starb. „Wie konnte das sein?“, dachte Jakintsu. „Er stirbt tatsächlich; ich muß unter dem Schlüsselbein die Armschlagader getroffen haben!“, durchfuhr es ihn. Maisu rührte sich nicht mehr, Jakintsu spürte in seinem Herzen, wie Maisus Herz langsamer und langsamer schlug und dann stehenblieb. Jakintsu blieb unbeweglich sitzen und sah zu Maisu hinüber. Aus dessen Körper erhob sich ein riesiger, weißer Adler, mit wenigen Flügelschlägen war er bei Jakintsu, drehte eine Runde um die beiden, dann kam er ganz nah an Jakintsus Kopf vorbei und rief schrill: „Danke für den lieben Schuß!“, wehte ihm mit einem Schlag seiner großen Schwingen einen kräftigen zärtlichen Windstoß in das Gesicht, daß seine Haare tanzten und flog zurück zu Maisus Körper; über dem blieb er im leichten Talwind reglos in der Luft stehen und ließ sich langsam in die Höhe tragen. Jakintsu sah ihm nach; er entdeckte, daß der Adler an seiner rechten Schwinge eine schwarze Feder hatte; er verstand und sah dem Adler zu, wie er an Höhe gewann, ohne sich zu bewegen, bis Jakintsu ihn im strahlenden Himmel aus den Augen verlor.

 
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Liebe Literaten,

eigentlich sollte bei "Historik" ja immer angegeben werden, zu welcher Zeit die Geschichte handelt, was allerdings wenige befolgen. Falls es jemand nicht bemerken sollte: diese Geschichte spielt ungefähr 3200 v.Chr. in den Ötztaler Alpen.
Ich habe versucht, die scheinbaren Widersprüche des aktuellen archäologischen Befundes, die sich auch auflösen ließen, indem sie mit Kenntnissen der Religionshistoriker und der Ethnologen zusammen betrachtet würden, zu erklären nach der Devise: Wissenschaft muß beweisen, Literatur darf spekulieren.
Die wesentlichen ungeklärten Umstände sind "Ötzis" Verwundungen am Arm und am Hinterkopf kurz vor seinem Tod, der tödliche Schuß von hinten auf den sitzenden "Ötzi", der durch das Schulterblatt unter dem Schlüsselbein die Armarterie traf und der Umstand, daß trotz offensichtlicher Ermordung Wertsachen wie das Kupferbeil nicht geraubt worden sind. Vielleicht findet ja jemand meine Deutung plausibel.

Gruß Set

 

Lieber Set,
ich möchte mich nur freundlich für deine Geschichte bedanken. Ich finde sie wirklich gelungen. Als besonders hilfreich habe ich deine Anmerkungen gefunden.
Tolle Umsetzung deiner Idee - und plausibel. So erklärt sich die Kampfszene. Geht die vielleicht ein bisschen kürzer? Es stehen doch vielmehr die spirituellen Sichtweisen im Vordergrund.
ich lese noch mal rein und melde mich nochmals.
LG vom Papui

 

Hallo Set,

da ist Dir in der Tat eine interessante Interpretation um "Ötzi" gelungen, wenn zu Beginn der Bronzezeit der Schamane sein Amt an einen Jüngeren abgibt, auch wenn Du die Bedrohung durch "Einwanderer" anführst, die eine - wahrscheinlich - komplexere Gesellschaftsform mitbringen.

Analogien tun sich zum alten Griechendland auf: nach Ranke-Graves ist z. B. "Oidipus" der Titel des thebanischen Thronfolgers und der Vorgänger wurde zu Übergangszeiten vom Matriarchat zum Patriarchat - das mit den vier Einwanderungswellen im 2. Jtsd. "eingeführt" wurde - geopfert, womit sich der Mord Oidipus' an seinem Vater zum Ritus relativiert.

Komme später ausführlicher drauf zurück,
bis dahin schöne Feiertage

Friedel

 
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hallo friedel,

interessant, was Du für Parallelen kennst - es gibt wahrscheinlich viele. Ich habe mich hier mehr bei den Schamanismusstudien von Mircea Elide bedient, und ein bißchen auch bei der Literatur von Juri Rytchëu. Die spezielle Form der schamanischen "Amtsübergabe" ist für den Alpenraum der Jungsteinzeit natürlich nicht belegt.
Die christlichen Inhalte sind dem Tag geschuldet, an dem ich dies geschrieben und eingestellt habe. Aber auch diese habe ich ja benötigt, um die Fakten zu deuten.

Schöne Weihnachten!

Set

 

Hi Set,
eine sehr interessante Geschichte. Während des Lesens konnte ich Zeit und Ort des Geschehens nicht einordnen, was dann Deine Anmerkung getan hat.

Tolle Idee, sich mal des Lebens von Ötzi anzunehmen. Ich könnte mir vorstellen, dass es sehr viele Deutungsmöglichkeiten bzgl. seines Todes gibt. Ein sehr spannendes Thema. Aber da bist Du ja der Experte, ich bin da außen vor und möchte hier keine unqualifizierten Kommentare abgeben.

Besonders gefällt mir aber an Deiner Geschichte, dass sie in einer für uns so völlig fremden Zeit spielt, über die man nicht wirklich viel weiß. Deshalb unterscheidet sie sich auch von dem, was man hier im Forum im allgemeinen liest und das finde ich super. Gerade das ist es aber, wovor ich z.B. Angst hätte, denn es gibt so wenig Fakten und soviele Interpretationsmöglichkeiten. Ich würde mich wahrscheinlich vergaloppieren.

Jedenfalls habe ich mich gefreut, mitten im Weihnachtsstress was Schönes von Dir zu lesen.

Ich wünsche Dir frohe Weihnachten.

LG
Giraffe.

 

Hi Giraffe,

"Ich würde mich wahrscheinlich vergaloppieren."

Das habe ich mich sicherlich auch, aber darauf kommt es doch nicht an, oder?

Wenn Du mal eine Erzählung von Juri Rytchëu liest, merkst Du, was ich alles geklaut habe...ich gehe einfach davon aus, daß Schamanen in nordischen kalten Regionen alle ungefähr gleich handeln, seit Jahrtausenden, also vor 5000 Jahren in den Alpen nicht anders als vor 60 Jahren in Sibirien.
Wissenschaftlich gesichert? Wir sind doch hier im Literaturforum!

Schöne Weihnachten, Set

 

Hallo Set,

nun komm ich tatsächlich noch einmal auf diesen durchaus beeidruckenden Text zurück.

Der Text beeindruckt schon deshalb, weil jeder Beschädigung des Similaun-Mannes eine Erklärung beigegegeben wird, die sich wie in einem Kammerspiel (wenn auch unter freiem Himmel) an die Einheit von Zeit und Ort hält: die letzten Stunden Ötzis eben.

Verständnis kann ich gegenüber Maisus schwarz-weiß-malerischen Prophezeiung zeigen, sieht er doch die Gefahr für die Gesellschaftsform, der er entstammt, die mit den Fremden kommt. Die befinden sich aber eben nicht auf der Flucht. Die Vorfahren dieser "Bauern" kommen von Anatolien über Griechenland und den Balkan. Die verbesserten Nahrungsquellen führten zu einer wachsenden Bevölkerung und der zunehmende Bevölkerungsdruck zur Wanderung. Dabei brachten die Leute neben dem Ackerbau ihre Sprache mit, deren Varianten mit Ausnahme von Basken, Finnen und Ungarn alle europäischen Völker sprechen. Diese "Wanderwelle" kam im Schneckentempo vorwärts: jede Generation kam vielleicht 30 km weiter und da sie nicht menschenleere Räume vorfanden, vermischten sie sich mit den "Einheimischen". Das "Indoeuropäische" wurde eben nicht, wie generationenlang geglaubt wurde, durch erobernde Reitervölker, sondern durch überwiegend fußläufige Bauern verbreitet.

So viel oder wenig vom verschnupften

Friedel,

der ein gutes neues Jahr wünscht.

 

Hallo set,

deine Geschichte um Ötzis letzte Stunden ist schon ein Sahnestück für jemanden wie mich, der mystische Geschichten liebt.

Textzeug:

wie ein Leuchtturm wies sie ihm den Weg zurück
Leuchtturm finde ich als Vergleich zu neuzeitlich und maritim, vielleicht Leuchtfeuer ?

Ihr Weg führte sie dem Bachlauf entlang bergan.
Bei Nachstellung der Präposition mit Akkusativ, es sei das ist typisch schweizerrisch ;)

Ihr Weg führte sie den Bachlauf entlang bergan

Bei Vorstellung der Präposition mit Dativ

Ihr Weg führte sie entlang dem Bachlauf bergan

So wanderten sie schweigend
Wortwiederholung

Abends waren sie schon an der Baumgrenze angekommen und rasteten hinter einem Felsvorsprung.

Jakintsu machte ein kleines, rauchloses Feuer.

Ein starkes Verb kann ein schwaches ersetzten daher: entfachte

Schweigend saßen sie und wärmten sich

www

Als die ersten Sterne sichtbar wurden, fing Maisu an zu sprechen:
Hier hätte ich geschrieben, nachdem ich das vorherige schweigend eleminiert hätte ;)

Die ersten Sterne wurden am Himmel sichtbar und Maisu unterbrach die Schweigsamkeit mit singender Stimme ;)

Da sie glauben, die Erde zu besitzen, werden sie ständig darum Kriege führen…“
Da sie glauben, die Erde zu besitzen, werden sie darum ständig Kriege führen …“

„Ja, denn sie werden ein Volk von Knechten sein, nicht frei wie wir. Man weist ihnen den Weg, den zu gehen sie im Tode frei werden. Nicht vorher, wie sollten sie sonst ihren Herren dienen?“

Die Essenz des Christentums?

Ein wenig ungenau formuliert wie ich finde; vielleicht so?:

Man weist ihnen den Weg, den sie im Leben gehen müssen, damit sie im Tode frei werden


Als der Morgen dämmerte, waren die beiden Männer schon auf dem Weg zum Gletscher, den sie für den Aufstieg zum Gipfel überwinden mußten.
Manchmal liegt in der Kürze die Würze ;)

In der Morgendämmerung brachen sie auf. Ihr Weg zum Gipfel führte sie über einen Gletscher.

Gegen Mittag näherten sie sich einer Stelle, an der ihr Weg durch eine kleine Schlucht führte, die von hohen Steinen umgeben war – eine gute Deckung für einen Hinterhalt. Maisu blieb stehen und sah prüfend umher, dann entschied er sich für einen Umweg, der oben über die Steine führte.
Steine sind für mich handgroße Dinger, die ich werfen kann und mir fehlt es auch hier an einer knackigen, bildhafteren Formulierung.
Daher mein Vorschlag:
Gegen Mittag näherten sie sich einer Schlucht, deren hohe Felswände Deckung für einen Hinterhalt bot. Daher entschied sich Maisu für einen anderen Weg, oberhalb der Felsen, auch wenn dieser Pass ein Umweg war.


Wachsam umherschauend gingen sie langsam voran, die Bögen mit aufgelegten Pfeilen in der Hand haltend. Plötzlich ließ sich Maisu fallen ... Die traten die Flucht an und waren nicht einzuholen.
Das Kampfgeschehen wird doch arg in die Länge gezogen und ich frage mich warum? Wird was wichtiges transportiert?


einer Schneewächte.
Einer was? Wie sieht so was aus?

sein Schwirrholz
sein was? Wie sieht so was aus?

Ein Asteroid leuchtete auf und verglühte. Maisu stand und schwang das Holz

Bei Asteroiden denke ich immer, dass ein Einschlag auf die Erde erfolgt, weil diese doch etwas größer sind, als eine Sternschnuppe

Dann fiel er vornüber in den Schnee.
Wer? Jakintsu der Schütze oder der Getroffene Maisu? Aus dem nächsten Absatz kann ich erkennen, dass Jakintsu in den Schnee gekippt ist, aber ich kann mir nicht vorstellen warum.


Danke für den lieben Schuß!“, wehte ihm mit einem Schlag seiner großen Schwingen einen kräftigen zärtlichen Windstoß in das Gesicht, daß seine Haare tanzten und flog zurück zu Maisus Körper; über dem blieb er im leichten Talwind reglos in der Luft stehen und ließ sich langsam in die Höhe tragen. Jakintsu sah ihm nach; er entdeckte, daß der Adler an seiner rechten Schwinge eine schwarze Feder hatte; er verstand
Ich habe die schwarze Feder nicht verstanden (:


Was mir auch noch gefehlt hat, dass Jakintsu den Leichnam mit Eis bedeckt hat, denn schließlich ging es ja darum, dass der Körper erhalten bleiben sollte um als Wächter im Zwischenreich das Volk zu schützen.


LG
GD

 

Danke, GD,

ich habe im Augenblick nicht die Zeit, ausführlich zu antworten. Aber fast alles fand ich sehr hilfreich und richtig.
Daß Du hiermit etwas anfangen kannst, hätte ich nun gar nicht erwartet; die letzte Geschichte, die ich von Dir gelesen habe, kam aus einer gänzlich anderen Welt...muß wohl mal mehr von Dir lesen.

"als er endlich schoß. Dann fiel er vornüber..." Bezug unklar? natürlich fällt der Schütze.

"daß der Adler an seiner rechten Schwinge eine schwarze Feder hatte; er verstand."
Es ist bei den Schamanen wir mit Gandalf the Grey und Gandalf the White: Weiß steht für ethisch rein, nicht im Reich der Magie. Die schwarze Feder zeigt die Verletzung der ethischen Regel an, die wieder Karma erzeugt; Maisu hat die Magie nicht gänzlich hinter sich gelassen. Die Zurücklassung des mumifizierten Körpers erscheint hier als sehr kleiner Makel, weil sie in bester Absicht erfolgt. Die schwarze Feder ist an der rechten Schwinge, weil die rechte Seite die der Aktion ist - nicht die der Wahrnehmung und des Empfindens.

Märchen erklärt man auch nicht; sie wirken, weil wir alle die Deutung der Symbole im Unbewußten vornehmen können. Was hier vielleicht stört, ist der Zusatz: "er verstand." Der kann auch wegfallen.

Bin jetzt eine Woche im Reich der Trolle, offline.

Liebe Grüße

Set

 

Hallo set

Daß Du hiermit etwas anfangen kannst, hätte ich nun gar nicht erwartet; die letzte Geschichte, die ich von Dir gelesen habe, kam aus einer gänzlich anderen Welt...muß wohl mal mehr von Dir lesen.

Ich versuche für alle Rubriken zu schreiben. Was nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit dem was ich lese :)

Weiß steht für ethisch rein, nicht im Reich der Magie. Die schwarze Feder zeigt die Verletzung der ethischen Regel an, die wieder Karma erzeugt;
Märchen erklärt man auch nicht; sie wirken, weil wir alle die Deutung der Symbole im Unbewußten vornehmen können. Was hier vielleicht stört, ist der Zusatz: "er verstand."

Symbole muss man auch nicht erklären, wenn sie werkimmanent sind. Ich bin da leider nicht drauf gekommen, :(- Vieleicht war ich durch dieses er verstand zu sehr eingeschüchtert und auf das bewußte Lesen fixiert.

Grüße mir Norwegen. Ist schön kalt da! Mir ist dort schon ein Sektglas an den Händen festgefroren :)


GD

 

Liebe Set,
deine Geschichte hält, was meine Erwartung mir nach deiner PN versprochen hat! Ein sehr guter, auch realistischer Einblick in die Spielregeln der Schamanen und die Naturreligion. Sehr gut recherchiert! Auch die poetische Darstellung kommt nicht zu kurz, ebenfalls nicht die vermutliche Sprache und Bilderwelt der Protagonisten. Sehr schöner, rührender Schluss! Nur zwei Dinge haben für mich nicht in die damalige Bilder- und Wissenswelt gepasst: das Wort "Asteroid" ist mir zu neuzeitlich-wissenscahftlich, und auch über die "Armarterie" dürften die Menschen damals noch nichts gewusst haben. statt "Asteroid" würde ich einfach das umgangssprachliche Wort "Sternschnuppe" wählen, statt "Arterie" vielleicht "Blutbahn" oder "Blutweg"? Herzlichen Glückwunsch zu dieser schönen Geschichte! LG venusBonn (schön, dass mein Lieblingsplanet, die Venus, so gut wegkommt!)

 
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Hallo Goldene Dame,
hier nun endlich mein Kommentar zu Deinen ausführlichen Anmerkungen:

Leuchtturm finde ich als Vergleich zu neuzeitlich und maritim, vielleicht Leuchtfeuer ? Okay.

Ihr Weg führte sie dem Bachlauf entlang bergan.
Bei Nachstellung der Präposition mit Akkusativ, es sei das ist typisch schweizerrisch
Okay.

Jakintsu machte ein kleines, rauchloses Feuer.
Ein starkes Verb kann ein schwaches ersetzten daher: entfachte

Okay.

Die ersten Sterne wurden am Himmel sichtbar und Maisu unterbrach die Schweigsamkeit mit singender Stimme
Ja, danke.

Da sie glauben, die Erde zu besitzen, werden sie darum ständig Kriege führen …“
Ja, okay.

„Ja, denn sie werden ein Volk von Knechten sein, nicht frei wie wir. Man weist ihnen den Weg, den zu gehen sie im Tode frei werden. Nicht vorher, wie sollten sie sonst ihren Herren dienen?“
Die Essenz des Christentums
? Ja, jedenfalls ein Teil von dem, was als Christentum transportiert wird.
Ein wenig ungenau formuliert wie ich finde; vielleicht so?:
Man weist ihnen den Weg, den sie im Leben gehen müssen, damit sie im Tode frei werden -

hier ist mir nicht stark genug betont, daß der Schamane im Leben frei ist, der Christ erst im Tode.

Zitat:
Als der Morgen dämmerte, waren die beiden Männer schon auf dem Weg zum Gletscher, den sie für den Aufstieg zum Gipfel überwinden mußten.
Manchmal liegt in der Kürze die Würze:
In der Morgendämmerung brachen sie auf. Ihr Weg zum Gipfel führte sie über einen Gletscher.

Kann ich bei Dir einen Kursus buchen?

Steine sind für mich handgroße Dinger, die ich werfen kann und mir fehlt es auch hier an einer knackigen, bildhafteren Formulierung.
Daher mein Vorschlag:
Gegen Mittag näherten sie sich einer Schlucht, deren hohe Felswände Deckung für einen Hinterhalt bot. Daher entschied sich Maisu für einen anderen Weg, oberhalb der Felsen, auch wenn dieser Pass ein Umweg war.
Ja, gut.

Das Kampfgeschehen wird doch arg in die Länge gezogen und ich frage mich warum? Wird was wichtiges transportiert?
Ich finde die zwölf Zeilen nicht lang. Es passiert ja sonst nichts auf diesem "langen Aufstieg". Ich hatte natürlich nicht nur vor, eine Kg zu schreiben, sondern auch den archäologischen Befund zu erklären: Ötzi hatte die DNA-Spuren von vier Personen an seinem Dolch, dazu die Schnittverletzungen am linken Arm und die Platzwunde am Hinterkopf, alles kurz vor seinem Tode entstanden. Es ranken sich alle möglichen Theorien zur Erklärung darum, denen ich nicht folgen mag. Insoweit ist es auch an dieser Stelle ein Stück ernstgemeinte wissenschaftliche Hypothesenbildung.

Nochmal zur Hypothesenbildung, die mir neben der Geschichte ja auch Spaß macht: Die wesentliche, von mir hier formulierte Hypothese ist, daß Ötzi rituell mit seinem Einverständnis hingerichtet wurde. Sonst hätte er seine Waffen nicht mehr dabei gehabt.
Mit der Wahl des Ortes für Maisus Abschied habe ich auch eine andere Hypothese formuliert, als die Archäologen es zur Zeit tun: Der Fundort ist m.E. nicht der Todesort. Es ist m.E. unmöglich, daß eine Leiche 5000 Jahre von einem Gletscher überschoben wird und heil bleibt, Eis ist plastisch und hat immer Bodenkontakt, auch in einer Vertiefung; Hohlräume unter dem Eis sind nicht langfristig stabil. Die These von der "Querrinne", in der Ötzi unter dem Gletscher 5000 Jahre überdauert haben soll, halte ich für Unsinn (wie hätte er denn dort hingelangen sollen, bei der damaligen Eisdicke?) Stattdessen halte ich es für sinnvoll, daß Ötzi oben nahe am Gipfel umkam und mit dem Gletscher einige Kilometer zu Tal gefahren ist, wo er dann durch die klimabedingte Gletscherschmelze freigelegt wurde. So habe ich es in die Geschichte eingebaut. Ich weiß nicht, ob die Archäologen mal einen Glaziologen hinzugezogen haben...es gibt immer Probleme mit der Interdisziplinarität.

Zitat:
einer Schneewächte.
Einer was? Wie sieht so was aus?

Ich hab es falsch geschrieben.
Als Wechten bezeichnet man die im Mittel- und Hochgebirge an Plateauabbrüchen, an Geländekanten wie Kämmen oder Graten, durch Schneeverfrachtung hervorgerufenen, stark verdichteten Schneeablagerungen direkt auf der windabgewandten und vornehmlich steileren Seite eines Grates mit keilförmigem Überhang auf die Leeseite.
(Wikipedia)
Neben der Lawinengefahr hat die Wechte auch Windschutz zu bieten, deshalb die Rast an der Wechte.

Zitat:
sein Schwirrholz

sein was? Wie sieht so was aus?
Ein Schwirrholz ist ein flaches Stzück Holz, das an einer Schnur befestigt wird. Man kann es um den Kopf kreisen lassen, es macht dann einen gleichmäßigen Summton. Der Summton ermöglicht dem Schamanen die Transzendenz und das Verlassen des Körpers für eine Erkundungsreise.
Schwirrhölzer sind leichter zu transportieren als Trommeln. Deshalb kommen sie bei umherziehenden Jägern in kalten Regionen vor.
In Hamburg wurden Schwirrhölzer der sogenannten Ahrensburger Stufe, das waren nomadisierende Rentierjäger, ausgegraben, etwa 12.000 Jahre alt.

Zum Schluß nochmal Wikipedia:
Es ist ein flaches, meist ovales Stück Holz oder Knochen von 15 bis 50 cm Länge, mit abgerundeten Kanten, an dem eine etwa 1 bis 2,5 Meter lange Schnur befestigt ist, mit der es im Kreis geschwungen wird. Dabei wird das Gerät um sich selbst in Drehung versetzt und erzeugt dadurch einen tiefen, auf- und abschwellenden Ton, der bei Steigerung der Geschwindigkeit in ein Sirren übergeht. Sein Klang ähnelt keinem anderen Musikinstrument und hängt von der Form des Gerätes und der Drehgeschwindigkeit ab. Durch den auch bei Wind weithin hörbaren Klang kann über große Strecken hinweg mit diesem Instrument kommuniziert werden.

Das Schwirrgerät wurde bereits in der Steinzeit verwendet und kam in den unterschiedlichsten Kulturen von Afrika (Südafrika) über Asien bis Australien zum Einsatz. Heute ist es noch bei den Aborigines Australiens und einigen Indianervölkern Nordamerikas in Gebrauch. Die Aborigines setzen ihre oft reich bemalten und mit Schnitzereien versehenen Schwirrgeräte auch zur rituellen Kommunikation mit ihren Ahnen ein.

Zitat:
Ein Asteroid leuchtete auf und verglühte. Maisu stand und schwang das Holz
Bei Asteroiden denke ich immer, dass ein Einschlag auf die Erde erfolgt, weil diese doch etwas größer sind, als eine Sternschnuppe

Der Unterschied ist nur sprachlich: Sternschnuppe klingt zu sehr nach Kindermärchen, Asteroid zu sehr nach Astronmomie.

Was mir auch noch gefehlt hat, dass Jakintsu den Leichnam mit Eis bedeckt hat, denn schließlich ging es ja darum, dass der Körper erhalten bleiben sollte um als Wächter im Zwischenreich das Volk zu schützen.
Jakintsu hat noch viel zu tun: er muß den Abstieg schaffen der ja durch die zwei geflüchteten Feinde bedroht ist, er muß schnell zu seinem Stamm, der ebenfalls bedroht ist. Mit Maisus Abschied beginnt diese Geschichte, deswegen hört Maisus Geschichte hier auf. Ich finde den Schluß auch so schöner als mit einer "Abrundung", die Jakintsus Tätigkeit als Ausklang darstellt.


Danke nochmal für den ausführlichen Kommentar.

Hallo VenusBonn,

danke Dir auch für Deine Zustimmung. Die Kenntnisse der Schamanen und überhaupt der Jäger über Anatomie dürften besser gewesen sein als die von Nicht-Medizinern heute. Die Sprache ist eine Gratwanderung: das wissenschaftliche stört, zu hergeholt oder märchenhaft sollte es aber auch nicht sein, also: Armschlagader geht, Sternschnuppe geht irgendwie nicht.

Euch beiden Liebe Grüße

Set

Überarbeitung folgt.

 

Hallo set

Ötzi hatte die DNA-Spuren von vier Personen an seinem Dolch, dazu die Schnittverletzungen am linken Arm und die Platzwunde am Hinterkopf, alles kurz vor seinem Tode entstanden. Es ranken sich alle möglichen Theorien zur Erklärung darum, denen ich nicht folgen mag. Insoweit ist es auch an dieser Stelle ein Stück ernstgemeinte wissenschaftliche Hypothesenbildung.

Nach meiner textimmanenten Analyse konnte ich diese Hypothese nicht erschließen ;)

Als Wechten bezeichnet man die im Mittel- und Hochgebirge an Plateauabbrüchen, an Geländekanten wie Kämmen oder Graten, durch Schneeverfrachtung hervorgerufenen, stark verdichteten Schneeablagerungen direkt auf der windabgewandten und vornehmlich steileren Seite eines Grates mit keilförmigem Überhang auf die Leeseite.

Meine Bildungslücke rührt wohl daher, dass ich ein Flachlandtiroler bin, der das Gebirge nur im Sommer kennt.

Ein Schwirrholz ist ein flaches Stzück Holz, das an einer Schnur befestigt wird. Man kann es um den Kopf kreisen lassen, es macht dann einen gleichmäßigen Summton. Der Summton ermöglicht dem Schamanen die Transzendenz und das Verlassen des Körpers für eine Erkundungsreise.
Schwirrhölzer sind leichter zu transportieren als Trommeln. Deshalb kommen sie bei umherziehenden Jägern in kalten Regionen vor.

Eine weitere Bildungslücke, die ich nun schließen konnte. :)

Da ich mir vorstellen kann, dass auch andere als ich, vielleicht sich nicht vorstellen können, was was ist, finde ich eingebaute textliche Hinweise, die "erklären" hilfreich. So wie man z.B ein engliches Wort in Englisch erklärt, statt auf einne deutsche Vokabel zurückzugreifen. Verstehst du, was ich meine?

LG
GD

 

hallo Goldene Dame,

das mit den Verletzungen und den DNA-Spuren habe ich nur im Prinzip umgesetzt, nicht exakt. Und zum Schwirrholz, ich schreibe da:

Maisu stand auf und ging einige Schritte von der Wächte weg auf die freie Fläche. Er nahm sein Schwirrholz aus einer Tasche seiner Jacke, wickelte das Band ab und ließ das Holz langsam linksherum um seinen Kopf kreisen. Es dauerte lange, bis das Holz so schnell wurde, daß ein gleichmäßiges Summen ertönte und Maisus Seele sich mit diesem Summen auf die Reise begab.
Jakintsu folgte jeder Bewegung des Schamanen, der stumm mit geschlossenen Augen in der Nacht stand und das Holz summend kreisen ließ. Die Sterne schienen über ihnen. Ein Asteroid leuchtete auf und verglühte. Maisu stand und schwang das Holz.
Schließlich wurde das Schwirrholz langsamer, Maisu nahm es wieder an sich, kam zurück und setzte sich neben Jakintsu unter das Fell. Er hatte sich entschieden.
„Ich bin durch alle Länder gereist, die uns umgeben.

Hier werden doch die Benutzung und Bedeutung des Schwirrholzes erklärt - reicht das wirklich nicht? Ich führe es genauso ausführlich ein wie die Benutzung der Trommel; nur daß die eben bekannter ist; aber auch nicht jedem.

Danke,

Gruß Set

 

Hallo set

Ja das Schwirrholz kann ich daraus erkennen. Aber nicht so gut wie ich es aus der anderen Erklärung jetzt weiß. Es ist in Ordnung. Bischen muss der Leser auch mitdenken.

GD

 

Hallo Set,
Wieder eine sehr packend und interessant erzählte Geschichte. Die beiden Schamanen waren für mich glaubhaft dargestellt. Da hast du gut recherchiert.
Sprachlich fand ich die Geschichte nüchtern und ohne Verschnörkelungen. Ein angenehm lesbarer Stil.
Ich musste lange nachdenken, bis ich etwas zum Aussetzen fand:

Maisu ließ seinen Blick über den Himmel schweifen. Ein Krähenschwarm zog vorüber, um sich in dem nahen Wald zur Nachtruhe zu begeben. Die Krähen wirkten unruhig, flogen unschlüssig mal hierhin, mal dorthin.
Hier geht die Geschichte sehr gemächlich los. Sie ist nachher sehr spannend und hätte sich schon bei den ersten Sätzen mehr dichte und mehr Nähe zu den beiden Protagonisten verdient.
Meine Zeit ist gekommen. Ich werde euch verlassen. Deine Zeit ist gekommen.
Meine Zeit ist gekommen ... Deine Zeit ist gekommen ; Eigentlich ist ja Maisus Zeit vorbei
opfern sie ihnen und beten die mächtigsten von ihnen an.
Mächtigsten
Schließlich gingen die Angreifer mit Dolchen auf sie los. Es waren fünf Männer;
für mich wäre es interessant zu wissen, wie die Angreifer aussehen.

LG
Bernhard

 

Moikka Set,

bin noch nicht so lange dabei, und wäre wohl nie zu Deiner wunderbaren Geschichte gelangt, wäre sie nicht wieder neu 'ausgegraben' worden.

Ich bin wirklich außerordentlich angetan: erstmal findest Du eine schöne stilitische Balance zwischen Dramatik, Leichtigkeit, den Ritualen und der damaligen (angenommenen) Weltsicht. Die Religiösität ist ernsthaft, aber nie kitschig - das schaffst Du sogar bei dem weißen Adler am Schluß, puha, Hut ab!

Dann entspricht Dein Stil, das Tempo, genau der Zeit, in der Du Dich bewegst - wenn es 70 Stunden brauchte, um ein Loch in einen Axtkopf zu bohren, muß der Lebensrythmus ein anderer als heute sein.


Mir geht es sehr sehr oft wie Dir: obwohl ich keineswegs eine Expertin bin, gehen mir viele Erklärungen und Interpretationen seitens der Archäologen oder Historiker einfach gegen den Strich - und hier finde ich Deinen Ansatz sehr angenehm und schlüssig. Eine ruhige Selbstverständlichkeit, auch Verzweiflung und Zweifel, alles an richtiger Stelle.

Ebenfalls perfekt gelöst: Die Prophezeiung, die - sehr schön als 'fremd' wirkende - Aussicht auf das Heute. In Literatur und auch Filmen ist dies oft aus unserer heutigen Sicht beschrieben: überdramatisch, hochemotional. Deine Figuren sind aber zeitlich so weit davon entfernt, daß sie es mit einer Mischung aus Staunen, Befremden und leichtem Schrecken begreifen können; aber es ist nicht ihr eigener Schrecken, sondern reine Empathie.

Nicht nur eine astreine Recherche, sondern auch ein stimmiges, komplett durchgehaltenes Gefühl für Deine Figuren.

Vielen Dank!

Heippa hei,
Katla

 

Hallo Bernhard,
danke für die "Ausgrabung", und für die Kommentare - ich werde das einarbeiten. Mit dem Aussehen der Angreifer mußte ich pasen; vielleicht fällt mir etwas ein. Natürlich müssen die Vertreter der eingewanderten Ackerbauern etwas anders aussehen als die Jäger und Sammler.

Hallo Katla,
freut mich sehr, daß es und wie es Dir gefällt, was ich hier als Hypothese formuliert habe. Meine kleine Auseinandersetzung mit dem Christentum finde ich selbst nicht so authentisch wie Du; ich hatte nur Spaß daran, diese Bewertung aus "Schamanensicht" hier reinzubringen. Nach allem, was wir über diese alte Kultur wissen (viel ist es nicht), wird der Schamane hier mit seiner Weitsicht und seinem Überblick über religiöse Wege stark überhöht.
Ich wollte aber nicht in allem nüchtern bei den belegbaren Fakten bleiben.

Danke und Gruß Euch beiden

Set

 

Hallo Bernhard & Set,

vielleicht lieg ich total daneben - aber eben nur vllt.

Vor zwo Jahren stand selbst im EL-Kurier - EL ist konservativ und streng katholisch und voller Gartenzwerge - dass unsere (europäischen!) Vorfahren (Homo sapiens sapiens) dunkelhäutig waren, und keiner regte sich auf.

Die Hautfarbe wird nicht sonders schnell gebleicht worden sein. Wie sehen Afrikaner heute aus? Die Antwort gäbe immer noch eine beachtliche Bandbreite des individuellen Aussehens.

Gruß aus viel Afrika bei wenig Dortmund

Friedel

 

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