Der kürzeste Weg nach Delfen II
Der kürzeste Weg nach Delfen II
Ich hatte zwei Möglichkeiten: entweder als Privateer ausschließlich von Privataufträgen zu leben, was in meiner Branche praktisch unmöglich war, oder mich an eine der großen Companies zu vermieten.
Urlaub konnte ich mir nicht leisten, und so stand ich noch am Tag meiner Kündigung in einem der vielen Büros von HumanFactor, einer der größten Companies auf dem Gebiet der Personalressourcen für physikalische Exploitation. Ein Berater namens Shellat O’Rourke präsentierte mir einen Fünfjahresvertrag und ich unterschrieb. Ich hatte keine Alternative, meine finanziellen Ressourcen waren am Ende, und die Company bot mir für die fünf Jahre Unterkunft und finanzielle Mittel.
O’Rourke erklärte mir, es könne ein paar Tage brauchen, bis man mir endgültig sagen könne, was mein nächstes Projekt war und wo ich eingesetzt werden würde. Bis dahin solle ich mir noch ein paar schöne Tage in Milan 2350 machen.
Ich hatte Besseres zu tun. Wenn mich HumanFactor für mehrere Jahre auf einen gottverlassenen Mond im Delfen-System schicken würde, und das war recht wahrscheinlich, dann wollte ich mich vorher noch von Natalia verabschieden. Das war ich nicht ihr, sondern vor allem mir selbst schuldig.
Ich fuhr also zum Bahnhof, wo mich ein Express binnen einer Stunde nach Paris bringen würde. Ich reiste in einer Lounge für Geschäftsleute, die mit Polstermöbeln, feinen Teppichen und einer Bar ausgestattet war.
In der Lounge traf ich einen Typen namens Peter Labrowe, der, wie es der Zufall wollte, im Dienst des Gemeinwesens unterwegs nach Lyon 2100 war. Ich erzählte ihm meine Geschichte und weswegen das Gemeinwesen mir nach zwanzig Jahren die Mitarbeit aufgekündigt hatte. Peter tat, als könne er es nicht fassen. Er erzählte mir im Vertrauen, er selbst würde einige Leute kennen, die von Zeit zu Zeit kleinere Aufträge für das Privatwesen erledigten. Er sprach natürlich von sich selbst, versuchte sich aber durch den albernen Trick mit der dritten Person Plural zu schützen. Verständlich. Ich hätte schließlich sonstwer sein können.
Ich konnte Peter anmerken, dass er zwar ein wenig Mitleid mit mir hatte, mich aber im Grunde doch für einen minderbemittelten Illoyalisten hielt, der unvorsichtig und blöd genug gewesen war, sich erwischen zu lassen. Irgendwie hatte er damit ja sogar Recht.
Den Rest der Reise plauderten wir über aktuelle Künstler und Komponisten, es war eine sehr oberflächliche, aber interessante Diskussion.
Paris 2200 war immer noch die Stadt, die sie die ganze Zeit gewesen war. Seit 650 Jahren, in denen der verrostete Eiffelturm nun schon Wind, Magnetismus und Wetter trotzte, war Paris die irdische Metropole gewesen, in der das menschliche Wort „Kultur“ sein Gegenstück in der Architektur gefunden hatte. Daran würden auch die regelmäßigen Umgestaltungen der Fassaden und Straßen nichts ändern können, die vorraussichtlich nächstes Jahr aus Paris 2200 Paris 2400 machen würden. Es war eben mal wieder an der Zeit. Nach 200 Jahren hatten sich die meisten Bewohner einfach sattgesehen an dem ganzen alten Zeug. Natürlich waren sich die Wenigsten der Tatsache bewusst, dass sich im Endeffekt immer nur zwei Stile abwechselten, der Neoklassizismus und der Neue Klassizismus nämlich.
Ich selbst kannte Paris nur aus den letzten Jahren. Nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob die nun bevorstehende Umgestaltung Sinn machte oder eher das Auge beleidigte. Daher trat ich auch keiner der zahlreichen Bürgerinitiativen im Untergrund bei, wie fast jeder, der mindestens für ein paar Tage im Jahr hier war. Die Initiativen hatten in den letzten Jahren durch blutige Anschläge auf belebte Plätze oder alte Gebäude die Umgestaltungen in vielen europäischen Städten erfolgreich abwenden können. Zumindest hatten sie sie aufgeschoben. Aber etwas Derartiges schien mir in Paris sehr unwahrscheinlich. Denn dafür liebten die Bewohner, auch die Mitglieder der verschiedenen Initiativen, ihre Stadt und ihre Gebäude einfach zu sehr.
Natalia traf ich noch am Abend meiner Ankunft. Ihre InCom-Nummer war immer noch die selbe wie im letzten Jahr, und wir verabredeten uns für 8p im Restaurant „Chez Robert“.
Sie sah umwerfend aus. Ihre schwarzen, lockigen Haare waren länger geworden und sie trug sie wieder offen. Ich fühlte mich unglaublich romantisch und verspürte spontan Lust, ihr meinen harten Schwanz in den Unterleib zu rammen. Das sagte ich ihr auch. Sie lächelte.
Wir bestellten einen guten Rotwein und ein Tofu-Menü für zwei. Nicht, dass ich
Fleisch nichts abgewinnen konnte, aber sie war Vegetarierin. In Paris waren zudem zwei einzelne Gerichte bis zu viermal so teuer wie ein vergleichbares Gericht für zwei. Wir unterhielten uns locker über unsere gemeinsamen Zeiten in dieser Stadt, vor allem natürlich über die lustigen Momente.
Natalia war inzwischen Generaldirektorin für die Societé Generale und schien in ihrem Job aufzugehen. Sie hatte sich während unserer kurzen Ehe kurz als Privateer versucht, war aber schnell genug frustriert gewesen, um vor Ablauf der Einjahresfrist zu ihrem altem Arbeitgeber zurückzukehren. In ihrer Brust schlug ein sehr harmoniebedürftiges, aber ebenso aufrührerisches Herz. Das konnte sie auch nach all den Jahren nicht verbergen, und so erzählte sie mir freimütig, wie wenig ihr die geplante Umgestaltung der Stadt zusagte.
Mein Entschluss, für HumanFactor zu arbeiten, schien sie nicht sonderlich zu überraschen. Sie hielt mich ihrerseits für einen im Grunde leicht aufrührerischen, aber dann doch viel zu harmoniebedürftigen Typen, das wusste ich. Dass ich die nächsten Jahre fort sein würde, schien ihr auch nicht viel auszumachen. Ich war ein wenig enttäuscht.
„Wir waren immerhin fast vier Jahre verheiratet, auch wenn es lange her ist.“
Sie lachte.
„Wie süß von dir. Ich war mit so gut wie jedem mal verheiratet, mit dem ich geschäftlich in dieser Stadt zu tun hatte. Aber es freut mich, dass du dich noch an mich erinnert hast.“
„Naja, ich dachte Paris ist sowieso mal wieder eine Reise wert...“
„Da hast du Recht. Erst recht jetzt, wenn die Idioten von der Societé tatsächlich die Stadt wie geplant umgestalten. Danach wird man nicht mal mehr erahnen können, wie es hier mal ausgesehen hat.“
„Ist das Zufall, dass du für die Societé arbeitest, aber trotzdem aus vollem Herzen ablehnst, was sie tut?“
„Möglicherweise.“
Sie lächelte mich an und trank noch einen Schluck von dem Rotwein.
Wir sprachen noch über vieles, und als ich nach einer Stunde erwähnte, dass ich noch einige Tage bis zu meinem nächsten Projekt Zeit hatte, bot sie mir an, für diese Zeit bei ihr zu wohnen.
Die Situation in Paris 2200 wurde während meines Aufenthalts immer angespannter. Der Beschluss zur Umgestaltung war mittlerweile von drei weiteren Parlamenten bestätigt worden und es lagen auch bereits die ersten konkreten Pläne auf dem Tisch: Der Eiffelturm sollte nun endgültig gesprengt werden, um einer gläsernen Büste Platz zu machen, (was schon bei den letzten drei Umgestaltungen vorgesehen und somit längst überfällig war), der Triumphbogen sollte drei weitere Etagen bekommen, die Tours de Montparnasse sollten um einen weiteren Wolkenkratzer aufgestockt werden und für das neue Thema der Fassaden hatte man sich auf „La Grande Nation“ geeinigt, eine überraschende Wahl.
Überall auf den großen Plätzen der Stadt versammelten sich tausende Menschen zu Großkundgebungen und seltsamerweise gelang es den Initiativen nicht nur, die üblichen Aufrührer zu mobilisieren. Es schien eher, als hätten sie einen Nerv der Bevölkerung getroffen, und so protestierten auch ganz normale Leute gegen die Umgestaltung. Leute, die gegen die vorhergehenden Umgestaltungen nichts einzuwenden gehabt hatten.
Von Zeit zu Zeit schlug der Unmut der Leute auch in handfeste Gewalt um, und so war schon am Tag meiner Ankunft ein toter Demonstrant zu verzeichnen gewesen. Am nächsten Tag waren es zwei tote Sicherheitsbeamte und ein toter Passant.
Zu allem Überfluss meldete sich auch schon einen Tag nach meiner Ankunft HumanFactor bei mir und hatte mein nächstes Projekt schon hinreichend vorbereitet.
Ich staunte nicht schlecht, als Shellat O’Rourke plötzlich vor Natalias Tür stand.
„Sie hier? Damit hätte ich so schnell gar nicht gerechnet. Sind sie extra wegen mir nach Paris gekommen?“
„Sparen Sie sich ihre humanoiden Floskeln, Dannon. Für einen holographischen Kundenberater wie mich stellt es überhaupt keinen Aufwand dar, in wenigen Sekunden von Milan dreinundzwanzig-fünfzig nach Paris zwo-zwohundert zu gelangen.“
„Tut mir leid.“
„Keine Ursache. Hier sind die Papiere, die ihnen ihr nächstes Projekt erläutern und ihr sind noch zwei Formulare, die sie vorab unterschreiben müssten.“
Ich sah mir die beiden Formulare an. Das erste war eine Erklärung, in denen ich das volle Risiko für meinen Transport zu meinem Einsatzort übernahm. Sollte mir etwas zustoßen, würden eventuelle Hinterbliebene leer ausgehen. Das zweite Formular war eine Erklärung, dass ich die finanzielle Verantwortung für das anstehende Projekt übernahm und HumanFactor im Falle von Verlusten von etwaigen Forderungen des Kunden befreien würde. Standarformulare. Ich hatte insgeheim schon mit einer Voraberklärung meinerseits für eine Vertragsstrafe im Fall von Fremdaufträgen gerechnet.
Shellat O’Rourke verschwand, nachdem ich unterschrieben hatte. Ich sah mir die Unterlagen über mein Projekt an. Ich sollte auf Delfen II die Verantwortung für eine Bergbaukolonie mit etwa 300 Mitarbeitern übernehmen. In zwei Tagen hatte ich mich in Milan 2350 einzufinden, von wo mich dann ein AirExpress rauf nach Delfen bringen würde.
Mir blieben also noch zwei Tage in Paris, und ich war festentschlossen, daraus zwei schöne Tage mit Natalia zu machen. Als Mitarbeiter von HumanFactor genoss ich in Paris zahlreiche Privilegien, wie beispielsweise freien Eintritt in Museen, Kinos und Table Bars. Es hätte so schön werden können.
Dummerweise tauchten noch am selben Nachmittag vier von Natalias Freunden mit einer Kiste voller Bücher auf und es sah nach einem Diskussionsnachmittag aus. Ich kaufte mir zwei Biergetränke im Prisuniq und beschloss, mitzudiskutieren. Schließlich war ich ein politisch interessierter Mensch.
Nach einigen Überlegungen zu Camus und seiner Bedeutung für den heutigen, neoliberalen Alltag brach das Gespräch in eine unerwartete Richtung aus, als Bradburys Prognosen in Bezug auf moderne Architektur, wie sie sich in Fahrenheit 451, aber auch in den Mars-Chroniken offenbarten, zur Debatte standen. Jemand brachte die bevorstehende Umgestaltung der Stadt zur Sprache, worauf die Anderen zunächst angeödet stöhnten. Bloß Natalia schien ein wenig erschrocken und blickte erst angespannt zu mir, dann zu den Anderen. Schließlich drehte sie sich ganz zu mir um und blickte mich lange bedeutungsvoll an, was die Anderen dann auch taten. Schließlich fing sie leise an zu sprechen.
„Es gibt da noch etwas, was du wissen solltest.“
Ich sah sie fragend an.
„Bis auf dich sind alle hier im Raum Anwesenden Mitglieder der Bürgerinitiative ‚Gestalten ja, aber nicht so!‘. Wir treten dafür ein, dass die geplante Umgestaltung der Stadt verhindert wird.“
„Wieso geplant? Ich dachte, das wäre bereits beschlossen.“
„Natürlich ist es bereits beschlossen, daher wird es ja auch Zeit zum Handeln. Wir gehören nicht zu den Bürgern, für die der demokratische Prozess mit Beschlüssen endet. Du sicher auch nicht, sonst hättest du wohl kaum deine Karriere als Communeer nach mehreren Verwarnungen für ein paar Privataufträge aufs Spiel gesetzt.“
„Äh, ich weiss nicht.“
„Noch heute nach wird in dieser Stadt eine Demonstration stattfinden, die den Menschen die Augen öffnen wird. Du wirst es erleben.“
Ich war sprachlos. Ich konnte nicht glauben, dass Natalia wirklich Mitglied in so einer Vereinigung war. Dass sie eine feste politische Meinung hatte, wusste ich. Aber dass sie auch vor Gewalt nicht zurückschrecken würde, hätte ich nicht gedacht. Was sie von der Demonstration erzählt hatte, registrierte ich kaum. Mir fiel es erst später wieder ein, als ich mit Natalia und ihren Freuden in der Metro unterwegs ins Stadtzentrum war.
Die Bürger liefen Sturm. Wahrscheinlich stimmten die, die revoltierten, sogar noch mit den meisten Vorschlägen zur Umgestaltung überein, es war die Summe all der bevorstehenden Veränderungen, die sie wütend machte. Hätte man die Umgestaltungen wie noch vor ein paar Jahrhunderten Schritt für Schritt und nicht auf einen Schlag durchgeführt, hätte sich wahrscheinlich überhaupt niemand daran gestört.
Angeheizt von Bürgerrechtlern mit Megaphonen und Transparenten schlugen sie mit Eisenstangen auf Fensterscheiben und Autos ein. Jüngere Demonstranten legten Feuer. Auf der Strecke, auf der die Bahn nicht im Untergrund, sondern auf Stelzen durch die Stadt fuhr, sahen wir, wie kleinere Raketen auf dem Asphalt der Umgehungsstraßen einschlugen. Das sollte also die Demonstration sein?
Alle fünf Minuten hörten wir Durchsagen, in denen uns eine angenehme Frauenstimme erklärte, dass aufgrund der Demonstration die Umsteigemöglichkeiten am Gare du Lyon, dem Gare du Nord und dem Gare de l’Est teilweise drastisch eingeschränkt seien und dass die Demonstranten bereits sämtliche Straßen, die aus der Stadt herausführten, gesperrt und sogar teilweise zerstört hatten. Die Durchsagen hielten uns immer auf dem Laufenden, und so erfuhren wir nach und nach, dass alle Bahnhofsgebäude der Stadt so stark beschädigt wurden, dass überhaupt kein Expressverkehr mehr aufrecht erhalten werden konnte.
Ich realisierte mit Schrecken, dass ich praktisch keine Möglichkeit hatte, die Stadt zu verlassen und rechtzeitig nach Milan 2350 zu kommen. Dass sich das bis zum nächsten Tag ändern würde, bezweifelte ich. So war ich ziemlich nachdenklich geworden, als wir die Metro schließlich am Champs de Mars verließen, um uns die Großkundgebung anzuhören. HumanFactor würde mir eine satte Vertragsstrafe verpassen, das stand jetzt schon fest.
Wir konnten die aufgebrachte Menschenmenge bereits hören, als wir aus dem Zug stiegen. Das gesamte Ausmaß der Demonstration sahen wir aber erst, als wir die Metro-Station verließen. Schätzungsweise zehntausend Menschen hatten sich auf dem Champ de Mars versammelt. Die riesige Fläche, auf der sonst nur Grün zu sehen war, war ein einziges Menschenmeer.
Kleinere Feuer loderten an den Straßenecken und die Sonne war inzwischen ganz untergegangen. Der Geräuschpegel war immens. Ich fühlte mich an einige Schulfilme über die französische Revolution erinnert, die ich in der Schule gesehen hatte.
„Ob sie die Bastille wohl auch schon gestürmt haben?“ fragte ich mit einem verbitterten Unterton.
„Sehr witzig, Dannon. Diese Leute hier meinen es ernst. Ihr Gewaltpotential ist nicht zu unterschätzen.“
„Das tue ich auch nicht, keine Sorge.“
„Unglaublich, dass wir wirklich so viele Leute mit unserer Botschaft erreicht haben. Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet.“
„Welche Botschaft?“
Einer von Natalias Freunden drehte sich zu mir um und sah mich ernst an.
„Die Botschaft, dass es sich nicht lohnt, über den Willen der Bürger hinweg zu entscheiden. Die Botschaft, dass das Geld den Willen des Volkes niemals beugen kann.“
„Ich glaube nicht, dass diese Botschaft bei den Leuten hier draussen angekommen ist. Sieht eher aus, als hätte ihnen jemand gesagt, sie würden heute ausnahmsweise mal nicht bestraft, wenn sie alles in der Stadt kurz und klein schlagen.“
Natalia sah mich vorwurfsvoll an.
„Ich dachte, du seist auch ein politischer Mensch.“
„Das bin ich auch . Allerdings nicht so sehr, dass ich für mich selbst angesichts des Chaos hier in Anspruch nehmen würde, im Namen des Volkes zu sprechen.“
Das war es gewesen. Natalias Freunde vermieden es nach diesem Satz den ganzen Abend lang sorgsam, mit mir zu sprechen oder mir ins Gesicht zu schauen. Allerdings wirkten sie dabei eher angestrengt, so als müssten sie sich zwingen, mich zu ignorieren. Natalia selbst schien einerseits peinlich berührt, andererseits aber auch zweifelnd. Ihre Freunde schienen ihr viel zu bedeuteten. Aber meine Worte hatten sie ins Grübeln gebracht, das war deutlich zu sehen. Wenigstens ein kleiner Erfolg am Abend dachte ich, denn heute nacht würde sie mich nicht zu sich ins Bett lassen, da war ich mir sicher.
Ich versuchte mehrmals an diesem Abend, HumanFactor zu erreichen, um meine Situation zu schildern, ohne Erfolg. Sämtliche InCom-Netze, die mein Gerät unterstützte, waren zusammengebrochen. Mir blieb nur Hoffen und Beten, dass bis morgen wenigstens eine Expresslinie aus der Stadt herausfuhr.
Unmittelbar vor dem Eiffelturm war eine große Bühne aufgebaut. Die Bühne selbst konnten wir aus der Entfernung nicht erkennen, aber durch die Luft schwenkende Lichtkegel markierten ihre Position überdeutlich. Die Ansprachen auf der Bühne wurden über mehrere Lautsprecher in den ganzen Park übertragen.
Plötzlich wurde die aufgebrachte Menschenmenge merkwürdig still, als ein grauhaariger, schmächtiger Mann die Bühne betrat. Er blickte sich erst einige Sekunden freudig um, bevor er mit ruhiger, aber eindringlicher Stimme zu reden begann.
„Meine – lieben Freunde. Ihr habt Euch heute hier versammelt, weil ihr nicht einverstanden seid.“
Plötzlicher Applaus hielt ihn davon ab, weiter zu sprechen.
„Nicht einverstanden mit dem, was über Eure Köpfe hinweg entschieden wird.“
Wieder kam Applaus auf, ein wenig verhaltener als beim ersten Mal. Der alte Mann sprach sehr langsam. Er wusste, dass es darauf ankam, bedeutungsvoll zu klingen.
„Nicht einverstanden mit dem, was hier vor Euren Augen geschieht.“
Abermals zierte Applaus das Ende eines seiner Sätze..
„Die Verantwortlichen der Societé sind heute abend nicht hier.“
Gegen Ende diesen Satzes ließ er seine Stimme bedrohlich nach unten sinken, um nach einer kurzen Pause fortzufahren:
„Sie mögen es nicht für nötig gehalten haben, zu kommen, aber, und dessen, meine Freunde, bin ich mir sicher, sie werden sehen, was sie davon haben, und zwar bei sich zuhause auf ihren Fernsehschirmen. Vielen Dank.“
Er verließ die Bühne unter tosendem Applaus. Um uns herum kamen Diskussionen darüber auf, was er gemeint haben könnte. Was würde noch geschehen können, um die Verantwortlichen vor ihren Fernsehern zu erreichen? Natalia und ihre Freunde sagten nichts dazu, sahen sich aber lange und betont geheimnisvoll an.
Ich fuhr zusammen, als das Spektakel begann. Eine Explosion von ungeheurer Sprengkraft detonierte im Restaurants des Eiffelturms und ließ den Boden um uns herum erzittern. Ein Feuerball löste sich aus dem Inneren des Restaurants und erleuchtete nicht nur den Nachthimmel für einen Moment taghell, sondern ließ auch den Regen aus Glassplittern und geborstenem Stahl sichtbar werden, der vom Turm herabregnete.
Die Masse der Protestierenden starrte mit offenen Mündern schockiert nach oben und hatte noch Mühe, das gerade Gesehene zu verarbeiten, als eine zweite Explosion auf Höhe des oberen Aussichtsplattform die Stille erneut zerriss. Auf den dumpfen Knall der Detonation folgte nach einer kurzen Pause ein langes, tiefes metallisches Knirschen, das die Stille der Nacht wie das Heulen eines Riesen durchschnitt.
Wie nach solchen Anschlägen üblich, begannen einige der Demonstranten schon zu klatschen, als sich plötzlich ein Schatten über den Turm bewegte. Ich brauchte einige Augenblicke, bis ich begriff, dass es sich dabei um die obere Hälfte des Turms handelte, die bedrohlich hin und her schwankte, und im Begriff war, abzustürzen.
Als die Turmspitze schließlich mit der Wucht eines Erdbebens auf dem Champ de Mars einschlug, stoben die Demonstranten schon panisch auseinander. Ehe ich selbst fähig war, zu reagieren, wurde ich vom Menschenstrom mitgerissen. Natalia und ihre Freunde verlor ich im Gedränge und traf sie erst drei Stunden später wieder.
Rund um den Champ de Mars herrschte das reine Chaos. Es fuhren weder die Metro noch Autos. Die Straßen waren übersät mit Verletzten und brennenden Autos. So blieb mir nur, mich zu Fuß zu Natalias Appartement in Aubervilliers zu bewegen. Ich hatte insgesamt betrachtet noch Glück gehabt. Die Nachrichten berichteten am nächsten Tag von über zwölfhundert Toten in dieser einen Nacht, von denen allein achthundert von der Turmspitze erschlagen wurden.
Ich wusste auch vier Tage später, als ich schließlich im AirExpress nach Delfen II saß, was all das für einen Sinn gehabt hatte. Sicher, die Umgestaltung wurde erst einmal aufgeschoben und frühestens in einigen Jahren würde die Stadt die neuen Planungen bereit haben. Aber irgendwie schien mir der Preis dafür ein wenig hoch. Sicher, die Bürgerrechtler waren frustriert, weil sie nicht genug Kapital hatten, um sich selbst einen Parlamentsplatz zu kaufen. Doch das Problem war, dass all die Toten in dieser einen Nacht am Allerwenigsten dafür konnten.
Meine Vertragsstrafe hatte ich wie erwartet erhalten, ich hatte HumanFactor schließlich drei volle Tage defakturiert. Was mich im Delfen-System dieses Mal erwartete, war mir relativ unwichtig. Auf Delfen II gab es wenigstens keine Städte.