- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Der Insektenforscher
„Jaaaaaaaa!“
Die Lupe zitterte in Prof. Köhlers Hand. Endlich! Da war es! Das Ereignis, von dem er schon länger als die Hälfte seines Lebens geträumt hatte.
Noch einmal blickte er durch die Lupe, nachdem er sich den Schweiß von der Stirn gewischt hatte. Vor ihm zeigte sich ins Groteske vergrößert die braune, von Rissen und Gräben durchzogene Rinde eines Baumes. In einer der Spalten bewegte sich etwas. Eine etwa sieben Millimeter große Fliege, deren Körper gelb-schwarz gefärbt war. Es war nicht irgendeine Fliege, sondern eine Schwebfliege, eine Baumsaft-Schwebfliege – Brachyopa bicolor – und auch nicht irgendeine Baumsaft-Schwebfliege, sondern eine, die keiner der bisher bekannten zwölf Arten von Baumsaft-Schwebfliegen zugeordnet werden konnte. Nein. Wenn sich Prof. Köhler je im Leben einer Sache sicher war, dann dieser. Er hatte eine neue, die dreizehnte Art Baumsaft-Schwebfliegen entdeckt. Die Form der Flügel, nicht spitz zulaufend, sondern ausgeprägt elliptisch, die gelben Streifen am Körper, die eigentlich mehr Punkte als Streifen waren, ließen keinen Platz für Zweifel. Sein Lebenstraum war in Erfüllung gegangen.
Beweise. Die Wissenschaft brauchte Beweise. Er musste ein unversehrtes Exemplar präsentieren können. Vorsichtig, ohne die Fliege aus den Augen zu lassen, griff Prof. Köhler mit der linken Hand in die Brusttasche seiner Jacke und fingerte darin herum, bis er endlich das Gesuchte fand. Er holte die Spraydose heraus und näherte sie Millimeter für Millimeter dem Insekt, das nichts ahnend an der Rinde klebte und von dem Saft des Baumes naschte.
Ein Druck auf den Knopf der Spraydose – nichts. Die Hand mit der Lupe begann wieder zu zittern. Prof. Köhler führte die nutzlose Spraydose langsam von dem Baum weg und ließ sie ins Gras fallen. Jetzt hatte er die linke Hand wieder frei und wischte sich mit ihr den Schweiß von Stirn und Augenbrauen. Einige Schweißtropfen waren bereits auf seine Brille gelangt und zu milchigen Salzkrusten verdunstet, aber das ließ sich jetzt nicht ändern.
Er überlegte. Die üblichen Fanggeräte, sein Kescher, die Klebestreifen oder das Gaze-Netz, ließen sich wegen der Kleinheit des Objektes und der Rauheit der Oberfläche der Rinde nicht einsetzen. Vorläufig blieb die Fliege an Ort und Stelle, aber wie lange noch? Wenn sie jetzt wegfliegt, dachte er und sogleich fühlte er einen Eisklumpen in seiner Magengrube. Das durfte sie einfach nicht tun! Er verfluchte seine Nachlässigkeit. Warum hatte er nicht heute Morgen noch einmal seine Ausrüstung überprüft? Er müsste in seinem Rucksack nachsehen, aber dazu die Beobachtung der Fliege für kurze Zeit unterbrechen. Würde sie nicht misstrauisch werden, wenn er die Lupe wegzog und sich die Lichtverhältnisse änderten?
Prof. Köhler blickte auf und schaute sich kurz um. In ungefähr zweihundert Metern Entfernung leuchtete am Waldrand zwischen dunklen Baumstämmen das bunte Kleid seiner Tochter. Sie jagte bestimmt wieder Schmetterlingen hinterher.
„Astrid!“, rief Prof. Köhler.
Auf seinen Ruf hin geschah zweierlei. Seine Tochter drehte sich zu ihm und die Baumsaft-Schwebfliege breitete ihre Flügel aus. Rasch presste Prof. Köhler die Lupe gegen den Baum.
„So nicht, Freundchen“, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Das „Freundchen“ klappte die Flügel wieder zusammen und krabbelte in der Furche – durch die Lupe betrachtet ähnelte sie einem gezackten Canyon – nach oben.
„Astrid!“, schrie Prof. Köhler abermals, während seine Hand mit der Lupe den Bewegungen der Fliege folgte und über den Baum nach oben glitt.
„Was gibt’s denn?“, rief Astrid.
„Komm her, schnell!“
Der Arm mit der Lupe war bereits fast gestreckt. Fieberhaft überlegte Prof. Köhler, was er tun könnte. Mit der linken Hand brach er rasch ein Stück Rinde ab und bugsierte das Stück zur Lupe. Es gelang ihm, das Tal, in dem sich die Fliege befand, zu verbarrikadieren. Allerdings hatte er sich inzwischen auf die Zehenspitzen stellen müssen, was zusammen mit seinen beiden nach oben gereckten Armen eine äußerst unbequeme Körperhaltung ergab. Lange hielt er das nicht aus. Außerdem hatte er die Fliege nicht mehr im Blick.
„Astrid!“, rief er wieder, doch sein Schrei war mehr ein Ächzen. Er linste zum Waldrand. Astrid kam herbeigeschlendert. Wenn sie dieses Tempo durchhielt, war sie in spätestens einer Stunde bei ihm.
Zorn ließ seine Stimme anschwellen.
„Beeil dich!“
Endlich begann Astrid zu rennen.
„Was ist denn los?“, schrie sie zurück.
Astrid erreichte Prof. Köhler, der immer noch auf Zehenspitzen stand, mit der rechten Hand die Lupe gegen den Baum presste und mit der linken das Rindenstückchen als Barriere hielt. Sie starrte ihn verwirrt an.
„Was machst du da, Papa?“, fragte sie.
Prof. Köhler atmete schwer. „Die Spraydose“, ächzte er, „in meinem Rucksack.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung Lupe. „Da ist eine Schwebfliege.“ Durch die Bewegung verschob sich die Lupe um eine Winzigkeit. Die Fliege erkannte ihre Chance und entschwebte. Fassungslos sah ihr Prof. Köhler nach. „Das kann doch nicht wahr sein!“, stöhnte er.
Plötzlich hörten sie ein lautes Summen über sich. Sie blickten nach oben und sahen, wie tausende gelb-schwarzer Fliegen vom Baum herunter auf sie zusteuerten.
„Was zum …“, stammelte Prof. Köhler. Wenig später waren sie in eine Wolke aus gelb-schwarzen Leibern gehüllt, die gezielt Gesicht, Arme, Beine anflogen. Prof. Köhler registrierte ihre ausgeprägt elliptischen Flügel und entdeckte noch ein Detail der bisher noch unbekannten dreizehnten Baumsaft-Schwebfliegenart. Die Beißwerkzeuge der Insekten waren äußerst scharf. Bemerkenswert, wahrscheinlich ernähren sie sich nicht nur von Baumsaft, schlussfolgerte er, während sie wild mit den Armen fuchtelnd aus dem Wald rannten.