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Der Hof ist zu klein
Wieder ein Fall für Onkel Luca, denke ich. Der Onkel wird entzückt sein. Durch das Fenster beobachte ich, wie der Typ zu einem der Tische mit Blick auf den Hafen schlufft, seinen Rucksack abwirft und auf einen Stuhl niedersinkt. Er streckt die Beine aus, reibt sich die Schultern, das Gesicht, bückt sich, löst die Schnürsenkel und zieht dann Wanderschuhe und Socken aus, nimmt ein Päckchen Tabak aus der Tasche, dreht sich routiniert eine Zigarette, zündet sie mit einem Streichholz an und raucht.
„Was hat er bestellt?“, fragt Onkel Luca, der, wie aus dem Nichts, jetzt neben mir am Fenster des Gastraumes steht und den neuen Gast beguckt.
„Was sie alle bestellen. Das Billigste“, sage ich, obwohl ich seine Bestellung noch nicht aufgenommen habe. „Pasta und Wasser.“
„Wir machen ihm Pasta und danach eine schöne Dorade“, beschließt Onkel Luca. „Frische Dorade á la Luca.“
„Er wird das nicht bezahlen.“
„Er zahlt, was er bestellt.“
„Warum machst du das immer?“
„Weil ich sehe, wenn jemand Hunger hat. Und in meiner Küche liegen fünf frische Doraden. Schau dir die schmalen Schultern an. Diese Beinchen. Und dieses Ungetüm von Rucksack. Er hat Hunger. Basta.“
Ich seufze und Onkel Luca, der kleine Mann mit einem kohlkopfgroßen Buckel, marschiert zurück in seine Küche.
Als ich nach der Pasta mit dem Fisch komme, will der Typ den nicht. Schüttelt mit dem Kopf, wedelt mit den Händen, wiederholt Worte, die ich nicht verstehe, außer: „No, no.“
Ich nicke, zeige auf ihn, auf den Fisch und stammle: „Si, si.“
Er will mir den Teller zurückgeben. Jetzt schüttle ich den Kopf. „No, no.“
Irgendwann sagt und tut er gar nichts mehr. Stellt den Teller ab und guckt mich nur noch an. Ich geh zurück zu Luca.
„Wie? Er will den Fisch nicht? Hat er denn keinen Hunger?“
„Was weiß ich. Vielleicht denkt er, er muss den bezahlen. Ist mir auch egal. Ich habe jetzt Feierabend.“
„Und was wird nun mit dem Fisch?“
„Red' du mit ihm!“
"Bin wieder da", rufe ich ins Haus, als ich von der Mittagsschicht heimkomme.
„Franca? Komm und hilf! Enric hat sich das Knie aufgeschlagen", ruft Mama zurück.
Ich streife die Sandalen ab und lauf barfuß in unsere Küche. Mein kleiner Bruder sitzt auf dem Esstisch und schreit, während Mama mit einem Handtuch das Blut abwischt. Meine Schwester Lore nimmt hinter ihrem Rücken die Keksdose aus dem Regal.
„Stell die Kekse zurück!“, befiehlt Mama. Sie kann Lore nicht gesehen haben, und doch weiß sie genau Bescheid. Mir drückt sie das Tuch in die Hand. „Ich muss mich umziehen. Ich muss in die Schule. Wegen Lore“, sagt sie.
„Was ist diesmal?“, frage ich, nehme Enric auf den Arm und öffne die Schublade mit dem Verbandszeug.
„Frag sie. Und mach endlich, dass er mit dem Geplärr aufhört.“ Damit hastet Mama ins Badezimmer. Ich nehme jeden einzelnen Verband aus der Schublade und errichte einen Turm aus Mull. Das Schreien flacht zu einem Wimmern ab. Ich setze Enric zurück auf den Tisch und beginne vom Fuß aufwärts sein Bein einzuwickeln.
„Was war diesmal?“, frage ich Lore, die über die Keksdose herfällt.
„Sie haben mich mit Vlado erwischt.“
„Erwischt? Wobei?“
„Beim Knutschen.“ Sie grinst.
„Ist Vlado jetzt dein Freund?“
Lore nickt eifrig.
„Wie lange seid ihr schon zusammen?“
„Seit heute.“
„Mit zwölf knutscht man nicht gleich am ersten Tag“, sage ich streng, während ich Enrics anderes Bein verbinde. Lore guckt mich an, als hätte ich ihr die Keksdose geklaut. „Erst ab dem zweiten Tag.“
Sie kapiert und strahlt wieder wie eine Sonntagsfee.
Als Mama das Badezimmer verlässt, bin ich bereits mit Enrics Armen fertig. In Unterwäsche steht sie mitten in der Küche und hält zwei Blusen auf Bügeln hoch. Ich verbinde Enrics Bauch.
„Die, oder die?“
„Die gelbe“, sage ich.
„Die bunte“, sagt Lore.
„Knutschen mit zwölf. Von wem sie das jetzt wieder hat?“
„Du warst sechzehn“, setze ich an.
„Ja ja, weiß ich doch“, unterbricht sie mich. „Stimmt es eigentlich, was die Leute erzählen?“
„Was erzählen sie denn?“
„Dass mein Bruder einen Zigeuner bei sich aufgenommen hat.“
„Zigeuner sagt man nicht.“
„Ist er einer?“
„Er heißt Jorska.“
„Es stimmt also. Mama mia, Luca wird es nie kapieren. Irgendwann verschenkt er noch sein Haus.“
„Jorska hilft ihm in der Küche.“
„Was? Soll das heißen, der Kerl wandert nicht weiter? Wie lang ist er schon da?“
„Eine Woche.“
„Und wo wohnt er? Sag nichts. Er wohnt bei Luca. Beklauen wird er ihn. Sag Luca, er soll zusehen, dass er diesen Zigeuner wieder loswird, bevor es ihm leidtut.“
„Mama! Zigeuner sagt man nicht!“
„Aber er ist einer, ja? Wo kommt er her?“
„Moldawien.“
„Aha.“ Sie streift die bunte Bluse vom Bügel und zieht sie sich über. Ich bin froh, nicht mehr ihre Brüste sehen zu müssen. Dann rauscht sie fort und kommt zurück - vollständig bekleidet mit Rock und Strumpfhose. Inzwischen habe ich auch Enrics Kopf verbunden. Geheilt klettert er vom Tisch und rennt zu seinen Freunden auf die Straße.
„Sag meinem Bruder, dass ich ihn gewarnt habe“, ruft Mama aus der Diele. „Er soll ja nicht angejammert kommen, wenn dieser Zigeuner, wenn ihm alles geklaut wurde.“
„Ich sag es ihm. Und er heißt Jorska.“
„Jorska. Von mir aus. Ich muss los.“ Mit diesen Worten eilt sie zu unserem klappernden Fiat und hupt die Kinder von der Straße.
Jorska ist nun schon seit drei Wochen bei Onkel Luca. Der Onkel hat ihm eines der drei Gästezimmer überlassen. Dafür fährt Jorska zum Fischmarkt einkaufen, putzt und schnippelt Gemüse, nimmt den Fisch aus und schrubbt die Küche nach Feierabend. Er bemüht sich, Italienisch zu lernen, er lernt schnell. Ansonsten versuchen wir es mit Englisch oder mit Händen und Füßen. Wenn in der Küche nichts zu tun ist, sitzt Jorska auf der Hintertreppe zum Hof, liest in einem seiner Bücher oder lernt die Worte, die Onkel Luca ihm in ein kleines Heft schreibt. Anfangs forderte Luca ihn immer wieder auf, sich doch nach vorn, auf die Terrasse, zu setzen, aber Jorska bevorzugt die Hoftreppe, wo er statt auf's Meer, auf die Mülltonnen, auf das Fass fürs Altöl, auf die graue Mauer rund um den Hof und Lucas beulige Blechkiste mit dem Mercedesstern guckt.
„Bis Dienstag“, verabschiede ich mich.
„Gibt es hier irgendwo einen Billard?“
„In der Stadt. Du kommst mit dem Bus hin.“
„Fährst du mit mir?“
Billard. Warum eigentlich nicht. Morgen ist Ruhetag. So entkomme ich Mamas Bügelwäsche. „Ja.“
Jorska lächelt. Er ist schön.
Wir trinken Bier, wir spielen Billard, Jorska raucht und ich gucke ihm zu. Am Tresen vorn sitzen zwei ältere Männer. Sie schlürfen Kaffee und Grappa, verfolgen ein Radrennen im Fernsehen. Ab und an schauen sie zu uns rüber. Ich mag sie nicht. Ich mag nicht, wie sie gucken.
Als unsere Flaschen leer sind, geht Jorska an die Bar, zwei neue kaufen. Einer der beiden Männer sagt etwas zu ihm. Ich kann nicht verstehen, was er sagt, aber Jorskas Lächeln verschwindet. Der andere bläst ihm seinen Zigarrenrauch ins Gesicht. Der Wirt knallt die Flaschen auf den Tresen, so dass das Bier überschäumt. Jorska bezahlt, lässt die Biere stehen, kommt zu mir und sagt: „Wir gehen.“
„Aber wir sind doch noch nicht fertig.“
„Egal. Komm.“
„Was hat der Opa zu dir gesagt?“, frage ich laut und auf Italienisch, so dass es Jorska nicht verstehen kann, aber die beiden da vorn.
„Lass. Komm“, flüstert er.
„Nein!“ Ich stemme die Arme in die Hüften. „Was glotzt ihr so? Wo ist das Problem?“, brülle ich.
Jorska hebt mich hoch und wirft mich wie ein Handtuch über die Schultern. Er trägt mich raus, während ich die beiden weiter beschimpfe. Vorsichtshalber trägt Jorska mich noch ein Stück die Straße runter. Ich fluche so lange, bis mir klar wird, dass die beiden mich längst nicht mehr hören. Erst, als ich still bin, setzt Jorska mich ab. Wir stehen ganz nah beieinander. Jorskas Geruch macht etwas mit mir. Ich werde ganz ruhig und weich und zärtlich und wild.
„Warum?“, frage ich. Er schüttelt den Kopf, legt mir einen Finger über die Lippen. „Psst.“
Küsst er mich jetzt? Das ist doch so ein Moment, wo man sich küsst. Bitte, küss mich!
Sein Finger fährt zärtlich die Konturen meines Mundes nach.
Küss mich! Küss mich! Küss mich!
Aber Jorska küsst mich nicht. Er weicht zurück und entschuldigt sich.
„Kein Problem“, sage ich und schluck' die Enttäuschung hinunter.
„Fahren wir?“
Ich nicke. Vielleicht können wir ja noch schwimmen gehen, hoffe ich.
Aber wir gehen nicht schwimmen. Zurück im Dorf nimmt Jorska das Küchenradio, das kaputt ist, solange wie ich mich erinnern kann, setzt sich auf die Hoftreppe und schraubt es auseinander. Schweigend und ohne einen Blick für mich.
Am nächsten Tag spielt das Radio. Onkel Luca singt, Jorska pfeift. Obwohl die Saison inzwischen voll angelaufen ist, und die Essenbons wie Konfetti durch die Küche fliegen, flucht Onkel Luca nicht. Auch kommt er nicht mehr zu mir ans Fenster, um nach jungen Leuten mit großen Rucksäcken zwischen den Segeltouristen Ausschau zu halten, damit er ihnen ein Essen spendieren kann. So bekommen sie, was sie bestellen: Pasta und Wasser, manche einen Viertel billigen Weines dazu.
Nach dem Mittagsgeschäft geht Jorska schwimmen. Seit wir in der Stadt waren, seit er mich fast geküsst hat, warte ich. Mit hochgelegten Beinen und zwei Espressi warte ich darauf, dass er wiederkommt. Mit nassen, tropfenden Haaren, in Badehose und Haut, die nach Sonne und Salz riecht. Er setzt sich dann zu mir, raucht eine Zigarette und zieht sich schließlich in sein Zimmer zurück. Ich gehe nach Hause und schließe mich für eine halbe Stunde ein.
„Bei Alfredo fehlt ein Huhn“, sagt meine Mutter.
„Ihm fehlen immer mal Hühner“, sage ich und feile weiter meine Nägel, ohne aufzublicken.
„Er hat es geklaut“, sagt meine Mutter.
„Wer?“
„Der Zigeuner.“
„Er heißt Jorska. Zigeuner sagt man nicht.“
„Man hat ihn gesehen.“
Jetzt gucke ich Mama doch an. Sie schrubbt die Kasserole, als ob Milch drin angebrannt wäre, dabei hat sie nur Gemüse gedünstet. „Was soll er mit dem Huhn?“
„Was weiß denn ich.“
„Der Fuchs wird es geholt haben.“
„Hörst du mir überhaupt zu? Er wurde gesehen.“
„Wann?“
„Heute Nacht.“
„Wo?“
„Was fragst du denn so dämlich? Bei Alfredo natürlich.“
Das kann nicht sein, denke ich. Aber ich kann es Mama nicht sagen. Sie würde auf der Stelle einen Herzinfarkt bekommen.
„Ich glaub, es war der Fuchs. Jorska braucht kein Huhn.“
Jorska saß schon auf der Hoftreppe, als ich die letzten Gäste abkassierte. Ich räumte die Aschenbecher von den Tischen, schob die Stühle zurecht, reinigte den Tresen und schielte ständig zur Hintertür, die offen stand. Jorska, Jorska, Jorska. Ich dachte nichts anderes mehr. Onkel Luca war zu einem Freund gefahren. Wir waren allein. Ich setzte mich hinter ihn und legte meine Hände auf seine Augen.
„Woran denkst du?“, fragte ich.
„Der Hof ist klein.“
Ich lachte. „Und woran noch?“
„An vieles.“
„Auch an mich?“
„Auch an dich.“
„Ich denke auch an dich.“ Ich gab seinen Blick wieder frei, schob ihm das Haar aus dem Nacken und atmete auf seinen Hals.
„Du wirst es bereuen“, sagte er.
„Nein“, sagte ich. „Niemals.“
Mama hat sich furchtbar mit Onkel Luca gestritten. Sie redet jetzt nicht mehr mit ihm. Ich ergreife still Partei für Luca, sage es Mama aber nicht, damit sie sich nicht noch mehr aufregt.
Onkel Luca fährt wieder selbst zum Einkaufen auf den Fischmarkt. Jorska bäckt in der Zeit das Brot und bereitet die Pasta vor.
Die Mittagspausen verbringen Jorska und ich auf seinem Zimmer. Er hat noch nie in dem Bett geschlafen, seit er in dieses Zimmer gezogen ist. Er schläft auf dem Balkon, bei Regen auf dem Fußboden. Mit Schlafsack und Isomatte.
„Warum?“, habe ich ihn gefragt, und das strahlend weiße Bettzeug ohne Falten und Knitter betrachtet.
„Ich mag es so“, hat er geantwortet und schob mich ins Badezimmer, unter die Dusche, wo wir uns vor der Hitze versteckten.
Nachts gehen wir schwimmen, wenn alle schlafen und das Meer nur uns gehört. Danach schleiche ich mich zu Hause ins Zimmer, um niemanden zu wecken, vor allem nicht Mama.
„Du kommst jetzt immer sehr spät“, hat sie gesagt. „Und nachmittags überhaupt nicht mehr.“
„Es gibt viel zu tun.“
„Hier auch.“
„Ich weiß“, sage ich und gebe Mama einen Kuss. „In einem Monat ist die Saison vorbei.“ Ich überlege, was ich Mama erzähle, wenn die Segelboote nach und nach ausbleiben, der Hafen irgendwann nur noch mit Winterschläfern belegt ist, aber ich will nicht dran denken. Noch kommen die Boote.
„Sag Luca, er soll nicht angejammert kommen“, sagt Mama, als ich mich zum Frühstück setze.
„Du redest nicht mit ihm.“
„Richte es ihm aus!“
„Warum sollte er jammern?“
„Sein Zigeuner ist abgehauen. Heute Morgen. Mit dem Bus.“
Ich spucke den Kaffee aus, pruste ihn über den Tisch. „Nein!“
„Er hat die Kasse mitgenommen. Bestimmt hat er das. Sag Luca, ich hab ihn gewarnt.“
„Woher weißt du?“
„Man hat ihn gesehen.“
So, wie man ihn bei Alfredos Hühnern gesehen hat? Ja, so muss es sein. Ich verzichte auf mein Frühstück, beeile mich mit Anziehen und wische noch schnell den Tisch ab.
„Wohin?“
„Zu Luca. Ihm deine Worte ausrichten.“
Ich renne, so schnell ich kann, zum Hafen runter, zu Luca. Aus der Küche kommt kein Ton. Kein Radio, kein Pfeifen, kein Singen. Die Küche ist leer, Jorska und Luca sind nicht da. Ich haste die Treppe hoch, zu den Zimmern, zu Jorskas Zimmer, nehme zwei Stufen mit einmal. Das Zimmer ist leer. Strahlend weiß das Bett. Als wäre er nie da gewesen. Ich lasse mich darauf fallen, zerwühle es, schlage es, ersticke meine Schreie in den Kissen. Schmiere Rotz und Tränen aufs Laken. Ich weiß nicht, wie lange ich oben geblieben bin, aber die Sonne steht hoch, als ich die Treppen wieder hinabsteige. Auf der Tafel am Eingang steht: Heute geschlossen.
Ich finde Onkel Luca auf der Treppe im Hof. Auf Jorskas Treppe. Er wirkt viel kleiner, schmaler, sein Buckel dafür umso größer. Ich setze mich zu ihm. Wir schweigen, sagen nichts. Irgendwann geht Onkel Luca hinein, kommt mit Wein und ein paar Broten wieder heraus.
„Der Hof ist klein“, sagt er. „Viel zu klein.“
„Wieso?“, frage ich und denke, er ist doch genauso groß wie alle Höfe in der Gegend, vielleicht sogar ein Stückchen größer.
Onkel Luca legt mir eine Hand aufs Knie. „Irgendwann wirst du es verstehen.“
„Was? Was soll ich verstehen?“
„Dass der Hof zu klein ist.“ Dann nimmt er seine Hand wieder fort und gießt uns Wein ein.