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Der Hüter meines Bruders
Die ersten Wochen nach der Geburt meines Bruders waren nicht leicht für mich gewesen. Zehn Jahre lang hatte es nur mich gegeben; jetzt auf einmal musste ich meine Eltern mit einem schreienden, rosafarbenen Würmchen teilen. Meine Mutter spürte, was in mir vorging. Eines Abends nahm sie mich beiseite und sprach davon, dass ich jetzt ihre »Große« sei, die auf das Brüderchen Acht geben müsse. Ich durchschaute ihre Taktik, gab ihr aber dennoch mein Versprechen.
Vier Jahre später zogen wir aus unserer engen Wohnung in ein geräumiges Haus mit Garten. Für mich bedeutete das neue Heim den Freiraum, nach dem sich Teenager sehnen und für Philipp viel Platz zum Spielen. Ich hatte in diesen Sommerferien noch keine neuen Freundschaften geschlossen und lag nachmittags meist auf der Wiese, während Philipp ein paar Meter weiter Sandburgen baute. Hin und wieder steckten unsere Nachbarn ihren gleichaltrigen Sohn Tristan dazu. Ich widersprach nie, erhielt ich doch am Wochenende gewöhnlich fünf Mark für meine Mühe, die keine war.
Tristan war ein Engel. Natürlich liebte ich meinen Bruder, aber Tristans blonde Locken und sein schüchternes Lächeln übten einen ganz eigenen Zauber auf mich aus. Wenn ich ihn abends zu seinen Eltern zurückbrachte, ertappte ich mich manchmal dabei, ihn nicht hergeben zu wollen. Einmal umklammerte Tristan beim Abschied auf der Schwelle meine Knie. Gerührt löste ich die Hände und küsste ihn in sein Haar, das nach Pfirsich duftete. Tristan winkte mir nach und einen albernen Moment lang glaubte ich, dass ich ihn nie wieder sehen würde.
Ein paar Tage später hatte ich mich nachmittags mit Walkman und Zeitschrift auf meine Decke verzogen. Philipp und Tristan saßen im Schatten unter den Apfelbäumen. Ab und an warf ich einen Blick zu den beiden, die ganz in ihr Spiel vertieft waren. Die Sonne schien auf meine eingeölten Beine, die vor Schulbeginn unbedingt noch bräunen sollten, ein Popstar sang von erster Liebe und jugendliche Models lachten mir aus der Zeitschrift entgegen. In zwei Wochen würde die Schule beginnen. Meinen Eltern erzählte ich pausenlos, wie sehr ich mich darauf freute, in Wahrheit hatte ich Angst vor den neuen Mitschülern. Es fiel mir nicht leicht, auf andere Menschen zuzugehen. In meinen Träumen war alles anders. Ich schloss die Augen und lauschte der Musik. Vielleicht würde es nicht so schlimm werden. Vielleicht würden mich alle mögen. Vielleicht fände ich die besten Freunde meines Lebens. Vielleicht ...
Ich riss die Augen auf. Mein Blick fiel auf die Stelle unter den Apfelbäumen. Sie war leer. Ich sprang auf und schrie nach den Jungen. Sekundenbruchteile später entdeckte ich sie am Straßenrand und einen weiteren Wimpernschlag darauf einen weißen Kleinbus, der um die Ecke bog. Ich sehe meinen kleinen Bruder lachen, ich sehe Tristans goldene Locken, ich sehe die Motorhaube und dann weiß ich nur noch, dass ich zufasste und mich zur Seite warf. Bremsen quietschten, Menschen liefen zusammen, fremde Hände berührten mich und halfen mir beim Aufrichten. In meinem Arm lag Tristan, benommen, aber nicht bewusstlos. Mein Herz stockte, ehe ich Philipp entdeckte. Ein junger Mann hatte ihn im letzten Moment ergriffen. Als ich meinen kleinen Bruder in die Arme schloss, brach es aus mir heraus und ich weinte, bis mich irgendein gütiger Mensch zum Haus zurückführte.
Die nächsten Stunden sind in meiner Erinnerung verschwommen. Tristans Eltern bedankten sich immer wieder für mein rasches Handeln, meine eigenen drückten mich unentwegt an sich, verschiedene Passanten redeten. Einmal fiel das Wort »Heldin«. Ich war keine Heldin, ich wollte ins Bett.
Erst in der Nacht kamen die Gedanken, die mich bis heute verfolgen. Ich sehe Tristan und Philipp auf der Straße und im nächsten Moment liege ich mit Tristan auf dem Bürgersteig, ein junger Mann reicht mir den weinenden Philipp. Einmal träumte ich, dass mein Bruder mich fragte, warum ich nach Tristan statt nach ihm gegriffen habe. Ich weiß es nicht. Es war Zufall, nehme ich an und in meinem Traum sagte ich das zu ihm. Manchmal sage ich es auch zu mir selber. Es war bloß Zufall.