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Der Hüter der Ebenen
Der Hüter der Ebenen
Es war an einem Wintermorgen, als Hanna leise schimpfend durch den hohen Schnee stampfte. Ihre zierlichen Hände steckten in dicken Wollhandschuhen und ein blauer Schal verhüllte ihren Hals und fast die Hälfte ihres Gesichts. Nur die leuchtend blauen Augen blitzen aus der Lücke zwischen der tief gezogen Mütze und dem Schal hervor.
Hannas Schritte machten knirschende Geräusche, die bei ihr normalerweise eine Gänsehaut hervorriefen, doch heute sie scherte sich nicht darum. Das Mädchen war zu sehr damit beschäftigt ihren Fellmantel enger um den schmalen Körper zu ziehen und zum Horizont hinüber zu blicken.
Diesen konnte man kaum ausmachen, denn er verschmolz fast vollständig mit dem grauen Winterhimmel. Nur an einer Stelle hob sich ein kleiner Hügel, bestückt mit blätterlosen Bäumen deutlich sichtbar ab.
Das Mädchen steuert genau auf diese Anhöhe zu und vermied es stur sich umzudrehen. Sie wollte nicht zurück blicken, denn alles was hinter ihr lag, war vergangen und nur in ihren Erinnerungen würde sie es wagen dorthin zurück zu kehren.
Harmas hieß das Dorf in dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Dort lebten ihre Eltern, ihre Geschwister und ihre Freunde. Doch Hanna hatte beschlossen, dass sie dort nicht mehr leben wollte.
Zuerst war dieser Beschluss nur eine vage Ahnung gewesen, doch schließlich hatte er sich in ihr gefestigt und war zu einer Entscheidung herangereift.
Schon immer hatte Hanna gespürt, dass in ihr etwas schlummerte, was sie von dem Rest der Dorfgemeinschaft unterschied. Doch sie hatte nichts davon wissen wollen und ihr Geheimnis lange Zeit bewahrt, bis an einem besonders kalten Wintertag ein Unglück die Dorfgemeinde heimsuchte und Hanna dazu gezwungen wurde ihre Gabe zu offenbaren.
Instinktiv hatte sie gehandelt und seit der übergroße Braunbär, von Hannas magischem Feuer versengt in den schmelzenden Schnee sank, waren ängstliche Blicke und deutliches Mistrauen ihre engste Begleiter geworden.
Jedermann verstummte, wenn sie einen Raum betrat, Gerüchte kamen auf und das Mädchen spürte, dass die Angst und das Misstrauen der Dorfbewohner sich jederzeit in Hass verwandeln könnten.
So packte die junge Magierin also eines Nachts ihr Bündel, gab Mutter und Vater einen Abschiedskuss und ging.
Drei Tage und Nächte, von klirrender Kälte und flockigen Schneegestöber beherrscht, dauerte ihre Reise nun schon an. Hanna wusste, dass der Winter in ein paar Tagen noch einmal kräftiger und kälter werden würde. Bis dahin musste sie einen guten Unterschlupf gefunden haben. Sonst wäre sie des Todes, würde erfrieren in einer eiskalten, von Sturm beherrschten Hölle und niemand wäre fähig sie aus ihr zu erretten.
Schneestürme brausten während dieser Tage über die Jenizatebenen, rüttelten an den Fensterläden und die Temperatur sank so tief unter Null, das man innerhalb von wenigen Minuten erfrieren konnte.
Kein Mensch verließ während dieser Zeit die schützende Wärme eines sorgsam beheizten Hauses. Es war eine Zeit des Wartens und des Hoffens. Warten, auf das Ende der verfluchten Jenizatstürme und Hoffen darauf am Leben zu bleiben.
Viele Sagen kursierten über dieses Naturereignis. Einige glaubten, die Ursache sei in den Jenizathügeln zu finden. Dort lebte, der Legende nach, ein böser Zauberer, dessen Herz so kalt und hasserfüllt war, dass es all diese inner Frostigkeit nicht mehr in sich zu tragen vermochte. Daher öffnete der Zauberer einmal im Jahr sein gefrorenes Herz und dessen Kälte entwich in die Ebenen.
Andere dachten, ein uralter Drache, der in den Höhlen tief unter der Erdeoberfläche hauste, hätte das Feuerspeien mit den Jahren verlernt und konnte daher die Erde von innen nicht mehr wärmen.
Der alte Mann saß an seinem Feuer und blickte hinaus in die verschneiten Jenizatebenen, seit ein paar Minuten beobachtete er eine Gestalt, welche sich durch das Schneegestöber auf die Jenizathügel zu bewegte.
Dabei hinterließ sie tiefe Fußspuren in dem lockeren Neuschnee.
Mit großem Interesse las der Zauberer die Gedanken der jungen Frau, und ein kleines Lächeln zierte seine schmalen Lippen dabei.
„Ich glaube du wirst bald einen anderen Gefährten bekommen, Nermel!“, rief er dann in Richtung Höhleneingang, welcher hinter ihm lag.
Aus der kleinen Höhle, die nun schon seit mehren Jahren seine Heimat war, erklang ein lautes Seufzen.
„Das sagst du schon seit Jahren, Itznikol.“, meinte eine tiefe Stimme leicht vorwurfsvoll.
Der Zauberer zog ärgerlich die buschigen Brauen zusammen und schimpfte in Gedanken über seinen aufmüpfigen Gefährten. Seit er ihn vor vielen Jahren gebeten hatte, mit in seine kleine Höhle zu ziehen, waren seine Tage wirklich nicht mehr langweilig gewesen.
„Aber dieses Mal scheint es wirklich soweit zu sein.“, betonte der alte Zauberer nachdrücklich.
„Und wenn diese junge Frau wieder nicht deinen Ansprüchen entspricht?“.
„Soll das etwa ein Vorwurf sein? Du weißt genau, dass ich meinen Nachfolger sorgfältig auswählen muss!“.
„Ja ja, das alte Lied.“, grummelte es etwas gelangweilt aus der Höhle.
Itznikol musste seinen Nachfolger wahrhaftig sorgsam auswählen, schließlich würde er über die Jenizatebenen wachen müssen. Er müsste die Jahreszeiten lenken, und jeder von ihnen seinen Platz zuweisen und vor allem musste er die Jenizatstürme über das Land hereinbrechen lassen, um die bösartigen Winterfeuer am Ausbrechen zu hindern.
Bevor dieses Land einen Hüter gehabt hatte, waren diese alljährlich über die Ebenen hereingebrochen und hatten die Dörfer und Siedlungen der Menschen zerstört.
Das durfte niemals wieder geschehen.
Der alte Zauberer blickte zu dem jungen Mädchen, das sich nun den ersten Hügelhängen näherte und dann raffte er seinen blauen Umhang zusammen und machte sich auf dem Weg.
Als Hanna nun auf die ersten Ausläufer der Jenizathügel zuschritt, dachte sie an keine dieser Sagen. Sie war darauf bedacht etwas Rinde von den vereinzelten Bäumen zu schaben, um daraus einen wärmenden Tee zu brühen. Selbstverständlich musste sie zuvor ein wenig Feuerholz sammeln und etwas von dem Schnee zu ihren Füßen schmelzen.
Mit einer winzigen magischen Flamme wollte sie das Feuer entzünden.
Mit einem Lächeln auf den Lippen, dachte sie an den wunderbaren Rindentee der ihr bevorstand und beschleunigte ihre Schritte, den süßen Geschmack schon auf der Zunge.
Doch kurz bevor sie die Hügel erreicht hatte, zwang sie ein inneres Warnsignal inne zuhalten. Ihre blauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und ihr Atem stockte für einen Moment.
Mit ihren magischen Fühlern taste sie die Umgebung ab und genau in diesem Moment bewegte sich etwas zwischen den nahen Bäumen.
Hanna bündelte ihre Energien und bereitete sich auf einen bevorstehenden Kampf vor.
Ihre Lippen bewegten sich lautlos und formten einen, von ihr verfassten Zauber. Es war derselbe Zauber, der auch den wütenden Bären vernichtet hatte.
Die junge Magierin spürte wie ihre Hände zu zittern begannen, hielt aber den erwachenden Zauber noch zurück, um sich weiterhin aufmerksam umzusehen.
Plötzlich trat hinter einem dicken Stamm eine vermummte Gestalt hervor, sie trug einen dunkelblauen Umhang und hatte die Kapuze tief in ihr Gesicht gezogen, so dass Hanna nicht erkennen konnte, wer vor ihr stand.
Die Hände jedoch hatte die Gestalt drohend erhoben und vor Schreck entwich dem Mädchen der eben heraufbeschworene Zauber. Weiße Flammen schossen auf die Gestalt zu und würden diese in wenigen Sekunden in ein Häufchen Asche verwandelt haben.
Hanna schloss ihre blauen Augen, wollte sie doch nie wieder den Anblick einer verbrennenden Kreatur erleben müssen. Einige Minuten lang wartete das Mädchen regungslos, in der Hoffnung, die Asche möge von dem kräftigen Wind zerstreut worden sein.
Dann öffnete sie die Augen und ein entsetzter Schrei entsprang ihren Lippen.
Der Mann hatte inzwischen seine Kapuze herunter geschlagen und blickte sie aus seinen grauen Augen nachdenklich an. An seiner Kleidung und an seinem Körper waren keine Spuren von Hannas magischem Feuer zu erkennen, und da begriff die junge Frau, dass er ihren Zauber abgewehrt hatte.
„Ihr seid ein Magier!“, rief sie erstaunt aus.
Die grauen Augen des Mannes funkelten belustigt auf.
„So? Bin ich das?“, seine Stimme hatte einen spöttischen Unterton.
Hanna blickte nun in das Gesicht des alten Mannes, welches von tiefen Narben durchfurcht war. Man konnte daran erkennen, dass er wohl sein ganzes Leben lang nur draußen in der Natur gelebt hatte, und Hanna fragte sich unweigerlich, wie er wohl die Jenizatstürme überlebt hatte.
Der alte Mann lachte daraufhin und sein Lachen schnitt durch die Kälte, es war ein eisiges Lachen.
„Komm mein Kind, ich will dir mein Geheimnis verraten.“, er bedeutet ihr, ihm zu folgen und drehte ihr sogleich den Rücken zu, um etwas höher auf den Hügel zu klettern. Hanna folgte ihm nach kurzem Zögern, hoffte sie doch, etwas mehr über ihre seltene Gabe zu lernen.
Etwas seitlich am Hügel befand sich eine kleine Höhle auf die der Zauberer zusteuerte und in dessen Eingang ein kräftiges Feuerchen brannte.
Hanna dachte sofort wieder an ihr Vorhaben, einen starken Rindentee aufzusetzen, und schritt beherzter aus.
Als sie den alten Mann erreichte, hatte dieser schon neben dem Feuer Platz genommen und bedeutete ihr dasselbe zu tun. Die junge Frau ließ sich nicht lange bitte und nahm ebenfalls am Feuer Platz, froh darüber sich an ihm aufwärmen zu können.
Währenddessen betrachtete sie der Mann eindringlich.
„Wie heißt du, mein Kind?“, wollte er schließlich von ihr wissen. Hanna war nicht sicher, ob sie ihm ihren Namen anvertrauen konnte. Namen bedeuteten Macht und der, der sie wusste, konnte sich ihrer bedienen.
„Hanna.“, sagte sie schließlich, nachdem sie den alten Mann eine Weile betrachtet hatte und zu dem irrtümlichen Schluss gekommen war, dass er ihr nicht gefährlich werden konnte.
Der alte Zauberer lächelte.
„Du weißt noch nicht viel über Magie.“, murmelte er und bevor Hanna erbost etwas erwidern konnte, sprach er schon weiter.
„Mein Name ist Itznikol, ich bin der Hüter der Ebenen.“
Hanna riss erstaunt die Augen auf.
„Ich möchte dir einen Handel anbieten, mein Kind.“, während er sprach, waren seine Augen fest auf sie gerichtet.
„Was für einen Handel?“.
„Wir sprechen morgen darüber, Mädchen. Die Sonne geht unter und du hast eine lange Reise hinter dir. Ruh dich nun etwas in meiner Höhle aus.
Dort ist genug Platz für zwei.“.
Als hätten die Worte ihre Müdigkeit erst geweckt, schaffte das Mädchen es kaum noch, ihre blauen Augen offen zu halten. Müde schritt sie in die kleine Höhle und fand in ihrem Inneren zu ihrer Überraschung zwei Felllager.
Sie legte sich instinktiv auf das rechte und sank fast sofort in einen tiefen Schlaf.
„Ist sie die richtige?“.
„Ja, sie könnte es schaffen.“.
In ihrem Traum sprach der alte Mann mit einer anderen Person, die das Mädchen nicht zu erkennen vermochte.
„Hat sie die nötige Ausbildung?“.
„Nein, aber mein Buch wird ihr helfen, sie ist lernfähig und sehr begabt.“.
Die andere Person schien unsicher zu sein.
„Aber … es ist eine wichtige Aufgabe!“.
„Ich weiß oder hast du vergessen, dass ich sie selbst all die Jahre lang ausführen musste?“.
Hannah hörte die andere Person leise lachen.
„Ja, du hast es oft genug erwähnt.“.
Der alte Mann lachte ebenfalls und schulterte dann sein Bündel. Am Höhlenausgang blickte er sich noch einmal um.
„Gib gut auf sie acht, Nermel.“.
„Das werde ich, Itznikol.“.
Die andere Person trat aus einem verwinkelten Höhlengang und blickte auf das schlafende Mädchen herunter.
Hanna erkannte zu ihrem Schrecken, dass es ein kleiner Drache war. Er war vollständig von weißer Farbe, bis auf seine durchdringend blauen Augen und gehörte unverkennbar zu der Rasse der Schneedrachen.
„Du hast eine schwere Aufgabe vor die, Hanna Hüterin der Ebenen.“.