- Beitritt
- 12.04.2007
- Beiträge
- 6.498
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 24
Der Geselle und sein Meister, der Tod und die Null
Der Geselle und sein Meister, der Tod und die Null
oder
Back to the Routes
Ohne selbst eine einzige Zeile hinterlassen zu haben, sind mancherlei Aufzeichnungen über den unbestechlichen Meister auf uns gekommen. Manchem seiner Worte sind darüber Flügel erwachsen. Wer etwas auf sich hält und etwas gelten will, hat sicherlich schon einmal im Werke seines bekanntesten und bedeutendsten Schülers geblättert, um die Hebammenkunst des Meisters zu bewundern. Können wir uns daraus ein leidliches Bild seines Intellektes machen, so sind fast keine Aufzeichnungen über den Charakter des Meisters überliefert. Bisher sind wir darum auf ein einziges, eher zweifelhaftes Gemälde angewiesen, welches uns sein jüngster, aber nicht weniger bedeutsamer Schüler vom geringen Heldentum und der mangelnden Tapferkeit des Meisters gezeichnet hat.
Diese Charakterstudie könnte gar bald um eine Nuance verfeinert werden, wenn in diesen Tagen ein weiterer, bisher unbekannter und doch umso bedeutsamerer Fund über den alten Meister ans Licht der Öffentlichkeit gedrungen wäre. Unweit des Turiner Grabtuches beim Renovieren einer kleinen Mietwohnung wurde hinter einigen älterer Lagen Tapeten ein Dokument gefunden, welches die Welt verändern könnte, müssten die zuständigen Behörden nicht um den Erhalt des Fundes bangen. So aber erklärten die Behörden nicht ohne einen gewissen Stolz den Fundort in toto zum Reliquiar, indem sie sich auf die kirchliche Reliquie in der Nachbarschaft bezogen. Dieses Reliquar muss keine Konkurrenz fürchten gleich andern und ist doch zugleich weitaus älter als irgend ein andres. Sei’s ein Grab- oder Schweißtuch der Veronika und ein beliebiger Splitter von Golgatha, wär’s ein abgenagter Knochen eines Königs, Magiers oder Heiligen, ein eingetrockneter Tropfen Blutes Jesu auf einem unerreichbaren Montsalvage oder eines sonstigen x-beliebigen heiligen Dinges. Wie nebenbei verspricht man sich positive Auswirkungen auf die Touristik, was der behördlichen Regelung die Zustimmung der einheimischen Wirtschaft beschert, welche die Heiligtümer unterm Stichwort „4 Tour-in 04“ vermarktet.
Das kleine Schriftstück – oder besser für die große Gemeinde der Wissenschaftsgläubigen: die Reliquie wirft ein anderes Licht auf die Grundfesten abendländischer Kultur als es Platon oder der arme BB jemals hätten entzünden können. Es sind handschriftliche und damit über alle Zweifel erhabene Notizen des Giuseppe Peano, des Meisters Schüler aus den italischen Kolonien, die zugleich die Geburtsstunde der vollständigen Induktion bezeugen.
»… Gewitzt und übermütig saßen wir [Anm. d. Hg.: gemeint sind der Meister und G. P., der mutmaßliche Autor der Zeilen] am Rande des Marktplatzes. Die Macht des Weines verhalf uns schnell, den Seekrieg und seine Folgen zu vergessen wie auch die chaotischen dreißig Tyrannen, um uns der großen Zeit des Perikles hinzugeben. Wir redeten befreit und offen über dies und das, über Athen, Pallas Athene und das Athenäum, Panathinaikos und die Welt, über Apoll, Apollinaire und dem fernen Apollinarisbrunnen, als ein Bote der Tyrannen über den Platz eilte und überraschend an uns herantrat, um uns mitzuteilen, dass Freund Alki… [der vollständige Name des Freundes ist den Herausgebern bekannt] vom Satrapen und persischen [nach einer andern Lesart „iranischen“ oder „ironischen“] Schurken Pharmabajazzo ermordet worden sei, was dem Meister einige wenige Tränen in die Augen trieb, auf dass er wie geistesabwesend murmelte: „Hätt’ also die spartanische Fraktion auf janzer Linje obsiegt. Aber mein junger Freund wusste, wat ihn erwartete“, um mit festerer Stimme zu schließen: „Welchen Jrund sollt’et also zur Trauer jeben?“
Nachdem der Meister mit dem Handrücken über seine Augenhöhlen gefahren war und die Tränen getrocknet hatte, murmelte er gefasst und geläutert wie immer: „Wenn dat kein Grund is’, wat dann?“, um eine weitere Karaffe Weines zu erbitten nebst einer Flasche billigsten Fusels.
Nun fand ich den Mut, zum ersten Male an diesem Tag mich direkt und ungefragt an den Meister zu wenden mit den vorsichtig tastenden Worten: „Meister, eben sagtest Du, dass Du nichts wüsstest …“ und versuchte ihn zu locken: „ … außer um Dein Nichtwissen.“ Als er dem schweigend zuzustimmen schien, wagte ich fortzufahren: „Damit bewiesest Du aber doch etwas zu wissen.“
Da wieder keine Reaktion erfolgte, zweifelte ich daran, dass der Meister überhaupt noch zuhörte und meinte heftiger: „Zumindest wüsstest Du etwas, von dem wir alle nichts wissen“, worauf der Meister den Kopf schüttelte und ganz ruhig erwiderte: „Nee, mein Freundchen, dat trifft’et nich’! –
Meinste nich’, datt ich dann schon wie unser armer Freund hinjerichtet worden wär, jilt doch auch hier die Regel, wer zu viel weiß, wird erschossen! –
Der muss zumindest sterben – is’ ja ejal wie … und wodurch. -
Ich sagte schlicht und einfach, datt ich nix zu wissen wisse.“
Als ich nun schwieg, lachte er heftig, schaute mich dann neugierig und hernach herausfordernd an, dass ich fortsetzte: „Wenn Du aber weißt, dass Du nichts weißt, so weißt Du doch mehr, als dass Du nichts wüsstest.“
Hier brach der Meister sein Schweigen, dass es aus ihm hervorsprudelte: „Mein lieber Juppi, ’t is’ nich’ janz so, wie De’t schilderst. Mein Wissen is’n natürliches, will sagen, unjeschultes Wissen. Und jedes natürliche Wissen umschließt sein Nichtwissen: aus’m Wissen folgt’et Nichtwissen als’ner höhern Form. –
Verstehst’e? –
Nee, ne? –
So wie etwa eins und eins zwo, die zwo aber nix ohne die eins is’."
Der Meister unterbrach sich selbst, um zu ergründen, ob ich ihn verstanden hätte, und zugleich einen kräftigen Schluck Ouso zu nehmen.
Ich hatte verstanden! und setzte ein: „Dein natürliches Wissen folgt aber nicht notwendig aus dem Nichtwissen, denn dieses weiß nichts von sich selber, so wie etwa eins keiner natürlichen Zahl nachfolgt."
Ich schluckte kurz vom Anis und fuhr fort: „Deinem Wissen ums Nichtwissen folgt also etwas anderes als etwa ein Nichtwissen um Dein Wissen. Das wäre, träfe es nicht zu, ein endloser Zirkel."
Für einen Augenblick verlor der Meister seine Contenance und schimpfte gleich einem Rohrspatz: „Dat is’ doch kein Zirkus hintern sieben Bergen! Ich weiß um eure italische Jeschäftstüchtigkeit aus allem und vor allem aus Nix ein Event zu machen! Wat kommst’e Lauser mir mit’nem Wort, datt et hier bei mir jar nich’ jibt! Dat is’ fast noch schlimmer, als schaute ich auf’ne Armbanduhr, trüge’nen Ring durch die Nase oder – wat am schlimmsten wäre - einen Ehering! Dat eine jebührt dem Ochsen, dat andre dem, der unter Pantoffeln jerät, und die Zeit der Patriarchin, die ihr Itaker Frau Papa nennt …“, dass er ans Schreien kam und alle, die zu Markte krochen, uns anstarrten: „Ich bin keine circensische oder cabaret-reife Nummer! Und wenn noch ma’ so’n Lapsus jeschieht, hau ich Dir den Anis um d’e Ohren!“
Da der Meister erschöpft wirkte und nur noch nickte, meiner vorherigen Rede trotz allem zuzustimmen schien, sprach ich nun selbst heftiger weiter: „Dein Wissen niederster Art, eben: das Wissen ums Nichtwissen kommt jedem Wissen zu, da es dieses umschließen muss", dass er nunmehr brüllte: „Macht dat nich’ den Unterschied, datt der Klugscheißer weiß, dat er nix weiß, der Dummkopp aber nich’?“
Da ich nun länger erschrocken schwieg, fragte der Meister, nun wieder ruhig, was denn der Rede Sinn und Nutzen sei.
Ich antwortete forsch, niemand könne sagen, was nicht gesagt werden könnte. Trotz des Bluts im Alkohol durchschaute er die Zweideutigkeit meiner Antwort und war überrascht, kannte er mich doch bisher nur als Liebhaber des Eindeutigen, und erwiderte, ob denn jeder sagen könne, was gesagt werden könnte. Und er gab selbst die Antwort, nun wieder milde gestimmt: „Nee, nee, mein Sohn, denn auch wat jesagt werden kann, wird oft verschwiegen und meistens nich’ma’ jedacht."
Aber das wäre schon ein anderes Kapitel, denn gerade da kam der Haussklave des Meisters und berichtete im Auftrage seines Eheweibes, dass der gemeinsame Sohn gerade gestorben sei. Was für eine Welt!, dachte ich melancholisch beschämt, aber der Meister antwortete wie zu sich selbst: „Wusst’s’e nich’, datt ich nur’nen Sterblichen jezeugt hab?“
Und dann deutlich zu dem haushaltsnah Beschäftigten - nun wieder Herr seiner selbst: „Sag der Hausfrau, datt ihr doch bekannt sein sollte, datt s’e nur’nen Sterblichen zur Welt jebracht habe und sie möge mich nich’ immer in meiner Berufung stören!“, um nun den Fusel in sich hineinzukippen.
Der Haussklave verließ uns verwirrt oder verängstigt, was ich nicht zu beurteilen vermag. Der Meister aber murmelte nun wieder wie zu sich selbst: „Nee, zur Zankthippe krie’n mich keine zwölf Pferde mehr …“
An diesem Abend beantragte m. W. der Meister den Schirlingsbecher durch Selbstanzeige, doch ließen die gar bald wechselnden Regierungen den Antrag liegen und hielten ihn somit offen, um offensichtlich dem Meister die Flucht zu ermöglichen. Dieses verschwiegene Angebot nahm der freilich sein Leben lang nicht an, war ihm doch jedes Gräuel erträglicher, als … [Anm. d. Hg.: Von hier an ist das Dokument ursächlich durch Feuchtigkeit beschädigt, dass nur noch bruchstückhafte Stellen erhalten sind, die freilich zwei Varianten zulassen:] … sich mit seinem rechtmäßigen Weibe zu unterhalten« oder »sein rechtmäßiges Weib zu unterhalten.«
Bliebe noch anzufügen, dass dem Meister mehr als vier Jahre nach diesem Vorfall der Schirlingsbecher gereicht wurde. Freilich nicht auf seine Selbstanzeige hin, sondern auf die Klage des Wirtes, der dem Meister in unendlicher Geduld den überaus reichlichen Verzehr bis zum eigenen Ruin hin angeschrieben hatte.