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Der Geschmack von Schafgarbe
Mein Herz schlägt bis zum Hals, als ich das Einkaufszentrum betrete. "Um 16 Uhr in dem Café im Schwabencenter", hat er am Telefon gesagt. Es ist fünf nach vier. Als ich die Passage durchquere, fällt mir ein, daß es hier zwei Cafés gibt. Ich schlucke immer wieder trocken, kratze nervös meinen Handrücken, bis er ganz rot ist und spannt. Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus und ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Die Menschen um mich herum kaufen ein, lachen, unterhalten sich, betrachten die Auslagen in den Schaufenstern. Wie können sie alle nur weitermachen, als wäre nichts geschehen? Wie können sie nur übersehen, daß dieser Tag etwas ganz Besonderes ist?
Ich stehe vor dem ersten Café, betrachte die Gäste, mein Blick bleibt prüfend an jedem männlichen Gesicht hängen. Nein, er ist nicht dabei. Das andere Café ist nicht weiter als zweihundert Meter entfernt.
Meine Nervosität wächst, steigert sich zu sinnloser Angst, als ich mich den Tischen nähere. Doch auch hier kann ich kein Gesicht entdecken, das mir etwas sagt.
Enttäuscht wende ich mich ab, gehe langsam den Weg zurück, den ich gekommen bin. Ich werde mich in den nächsten Bus setzen, nach Hause fahren und vergessen, was gewesen ist. Es war eine dumme Idee, ihn anzurufen, dumm zu glauben, daß man nach so vielen Jahren etwas Verlorenes wieder aufleben lassen kann.
Ohne zu wissen warum, wende ich mich nach links und steuere auf das Café zu, an dem ich zuerst gewesen bin. Plötzlich fühle ich mich wie ein Stückchen Metall, das von einem Magneten angezogen wird, ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich gehe direkt auf einen Tisch zu, an dem sich ein Mann mittleren Alters von seinem Platz erhebt und mich anstarrt. Er ist klein und schlank, mit schmalen Schultern und etwas schütterem Haar. Er kommt mir entgegen und wir umarmen uns, noch etwas zaghaft. Ich habe einen dicken Kloß im Hals und bemerke, daß seine Bewegungen fahrig sind.
"Laß uns gehen", sagt er leise. Er bezahlt und wir verlassen das Lokal.
Etwa in der Mitte der Einkaufspassage bleiben wir vor einer Aufzugtüre stehen. Ich war schon öfter hier, wieso ist mir nie aufgefallen, daß es hier einen Aufzug gibt? Ich dachte, er würde weit oben in dem Hochhaus wohnen, das über dem Schwabencenter thront, vielleicht im 14. oder im 19. Stockwerk. Doch der Lift hält schon im 2. Obergeschoß, die metallenen Türflügel gleiten zur Seite und geben den Blick frei auf einen kahlen Flur mit mehreren Wohnungstüren. Auf eine geht er zu, sperrt sie auf und tritt zur Seite, um mich hineinzulassen. Ich betrete einen winzigen Flur, der in ein kleines Zimmer führt. Eine Strohmatte liegt an der Wand auf dem Boden, daneben steht eine schöne alte Truhe. Außerdem gibt es noch ein paar Topfpflanzen, einen Hocker mit verschiedenen Fläschchen, Döschen und Tiegeln darauf und ein Bild an der Wand. Es zeigt einen kleinen, fetten Buddha mit freundlichem Gesicht. Keine Möbel, weder Tisch, noch Bett, noch Schrank. Bescheiden, fast kärglich wirkt alles. Er zieht seine Schuhe aus und ich tue es ihm gleich.
"Setz dich doch", sagt er und nimmt auf der Strohmatte Platz. Ich lasse mich ihm gegenüber auf dem Fußboden nieder. Beide sitzen wir im Schneidersitz und ich fühle, wie die Anspannung langsam von mir abfällt. Endlich nehme ich mir die Zeit, ihn anzuschauen, nach Vertrautem zu forschen und finde es sofort. In seinem Gesicht erkenne ich mich selbst wieder, meine Augen, meine breite Nase, meine Haarfarbe in seinem Bart. Ich suche nach Spuren der Krankheit, doch ich bin mir nicht sicher, ob sie es ist, die sein Haar schütter gemacht und Ringe unter seine Augen gemalt hat.
Nicht nur er selbst, auch seine Hände und Füße sind klein. Mein Blick fällt auf die krummen kleinen Finger und ich erinnere mich an die Geschichte, die meine Mutter mir so oft erzählt hat, davon, wie er mich als Neugeborenes genau untersucht hat und wie stolz er war, als er entdeckte, daß meine kleinen Finger denselben auffälligen Knick nach innen haben wie seine eigenen. Diese kurzen, breiten Hände, endlich weiß ich, woher ich sie habe. Er trägt keine Socken, seine Füße erscheinen mir fast winzig, keinesfalls größer als Schuhgröße neununddreißig. Ich lächle, blicke auf meine eigenen Füße und vergessen ist all der Ärger darüber, immer gezwungen zu sein, in der Kinderabteilung der Schuhläden einzukaufen und stundenlang nach einem passenden Paar Stiefel suchen zu müssen, weil meine Füße zu breit sind und der Rist zu hoch. Ich habe die Füße meines Vaters und das erfüllt mich mit Freude.
Dann sehe ich in seine Augen und die Zeit bleibt stehen. Ohne Worte teilen wir uns einander mit, all den Kummer, der sich in den Jahren der Trennung angesammelt hat, all den Schmerz, den jeder von uns erleben mußte. Ich verliere das Gefühl für Zeit, kann nicht sagen, ob es zwei Minuten sind, oder eine Stunde, die wir nur dasitzen und uns ansehen. Schließlich fallen wir uns in die Arme. Tränen, viel zu lange aufgespart, laufen mir heiß über die Wangen und ich höre ihn leise an meinem Ohr schluchzen.
Als wir aufhören zu weinen, sind die Hemmungen gefallen. Er erzählt mir von seinen Reisen, die ihn quer durch Asien geführt haben und von denen er so viel Weisheit mitgebracht hat. Ich erzähle ihm Belanglosigkeiten aus einem belanglosen Teenagerleben. Die schmerzhaften Dinge behalte ich für mich. Er soll kein schlechtes Gewissen haben müssen.
Irgendwann kocht er Tee aus selbstgesammelten Kräutern für mich. Er ist heiß und etwas bitter. Ein fremdartiges, doch angenehmes Aroma läßt mich fragend die Stirn runzeln.
"Das ist Schafgarbe", klärt er mich auf. Nie werde ich diesen Geschmack vergessen.
Wir treffen uns nicht oft. Jedesmal, wenn ich ihn sehe, grinst mich die Krankheit unverfrorener aus seinem Gesicht an. Sie zehrt ihn aus, frißt seine Lebenskraft. Es tut weh, das zu beobachten.
Das letzte Mal, als ich ihn sehe, liegt er auf der Intensivstation des Klinikums. Er schläft, dunkle Schatten liegen um seine geschlossenen Augen, und trotz der Sonnenbräune wirkt er fahl und blutleer. Mein Großvater erzählt mir, daß er wieder in Thailand war, dort leichtsinnigerweise ohne Hut herumlief und einen Hitzschlag erlitt. Er wurde bewußtlos, fiel um, mit dem Körper in den Schatten, nur seine Füße lagen den ganzen Tag in der Sonne und verbrannten dort, bis die Haut schwarz war.
Fremd sieht er aus, die Malaria hat ihn zusätzlich gezeichnet und der Schmerz, ihn so zu sehen, schneidet mir ins Herz.
Ich stand in meinem Zimmer vor dem Spiegel und föhnte mein Haar, als plötzlich die Türe aufging und meine Mutter hereinkam. Der Ausdruck in ihrem Gesicht beunruhigte mich, ihre Lippen waren schmal und bleich, ihre Augen kalt und hart. Eine dunkle Vorahnung überkam mich und mein Magen krampfte sich zusammen.
"Dein Vater ist vor einem halben Jahr gestorben", sagte sie knapp, drehte sich um und ließ mich wieder allein. Ich stand da, den Föhn in der Hand und fühlte mich wie betäubt. Sollte ich jetzt nicht weinen, schreien, Schmerz verspüren? Doch ich fühlte mich nur schuldig, leer und einsam.
Neben dem Park, in dem ich mich manchmal mit Freunden traf, gab es eine Kneipe, wo ich einige Flaschen Bier kaufte. Die Parkanlage war dunkel, die Laterne, die in einiger Entfernung stand, vermochte die Schatten aus meinem Herzen nicht zu vertreiben. Ich setzte mich in einer düsteren Ecke auf eine Bank und fing an, mich zu betrinken.
"Schau mal, was ich gefunden habe!" rief meine Großmutter und wedelte mit einem Zeitungsausschnitt vor meiner Nase herum. Ich blickte von den Hausaufgaben meiner Tochter auf und meine Oma nahm neben mir am Küchentisch Platz. Auf dem Bild war ein Teil einer Mauer aus losen Ziegelsteinen zu sehen, die in einem Bogen auf dem Platz vor dem Stadttheater aufgebaut worden war.
"Das war eine Veranstaltung der Aidshilfe", erklärte sie mir. "Auf jedem Stein steht der Name eines Bürgers unserer Stadt, der an Aids gestorben ist. Und jetzt sieh Dir diesen Zufall an, ausgerechnet auf dem Stück Mauer, das hier abgebildet ist..." Ihr Finger deutete auf einen Stein, inmitten Dutzender gleichartiger Steine. In großen weißen Buchstaben hatten sie seinen Namen daraufgeschrieben: Wilfried.