Der Geist
Es war ein kühler, diesiger Herbsttag. Der Wind pfiff leise über das kahle Land, trug einsame Vögel und wirbelte müde das Laub durcheinander. Dieser Anblick hätte einen spirituell veranlagten Menschen dazu bringen können, über die Schönheit des Lebens oder über die Vergänglichkeit desselben zu philosophieren.
All das beachtete Jones nicht, während er langsam die Straße entlangschritt. Er philosophierte auch nicht, weder über Schönheit noch über Vergänglichkeit. Das erste bedeutete ihm nichts, das zweite erinnerte ihn nur an Dinge, die er vor, wie ihm schien, sehr langer Zeit verloren hatte.
Und so setzte Jones einen Fuß vor den anderen, als es zu regnen begann und dicke Wassertropfen auf ihn niederprasselten. Ein Teil von ihm erinnerte sich an eine Zeit, als er dieses Gefühl noch geliebt, als es ihn noch daran erinnert hatte am Leben zu sein. Im Rest seiner selbst herrschte Stille. Wenn die menschliche Seele, wie es einer seiner ehemaligen Kameraden mal ausgedrückt hatte, eine Oase war, dann erstreckte sich hinter Jones leerem Blick nur noch Wüste.
Es war bereits früher Abend, als er in dem kleinen Küstenstädtchen ankam und sich zielstrebig in ein kleines Lokal begab, wo er auch nicht lange brauchte bis er Holly entdeckte, sie begrüßte und dann ihr gegenüber Platz nahm.. Holly war seine Ex-Frau. 5 Jahre war es jetzt her, dass sie sich hatten scheiden lassen.
Sie betrachtete ihn eine Weile.
„Schön, dass Du hier bist“, sagte sie dann.
Jones bestellte ein Bier und lehnte sich vorsichtig zurück. Die Narbe am Rücken machte ihm manchmal Probleme, wenn er sich zu schnell bewegte.
„Du klingst überrascht.“
Holly lächelte, ein Anblick, wegen dem er sich damals so schlagartig in sie verliebt hatte. Jetzt fühlte er dabei nichts mehr.
„Ehrlich gesagt habe ich nicht geglaubt, dass Du kommst.“
„Semper Fi, Holly, Semper Fi.”
Sie nickte langsam und trank einen Schluck.
„Wie geht es dir?“, fragte sie dann.
„Ganz gut“, log er.
Abermals nickte sie, dieses Mal jedoch langsamer, so wie sie es tat, wenn sie jemandem nicht glaubte, aber keinen Streit vom Zaum brechen wollte. Für einen Moment versanken sie in dumpfem Schweigen.
„Und wie geht es dir?“
„Ich lebe noch.“
„ Das ist gut. Kann man von vielen anderen nicht behaupten.“
Das brachte sie zum Lachen. Und ließ sie sofort wieder verstummen, als sie sich daran erinnerte, was Jones damals erlebt hatte.
Wieder versanken sie in Schweigen.
„Machst du deine Therapie noch?“, fragte sie dann plötzlich.
Er schüttelte nur den Kopf.
„Warum nicht?“
Lügen brachte nichts. Sie hatte das seltene Talent, jede seiner Lügen sofort als solche zu entlarven.
Also zuckte er nur mit den Schultern.
„In meinem Fall ist das rausgeschmissenes Geld. Das sollten sie lieber dafür verwenden, irgendeinem anderen armen Teufel zu helfen.“
„Wie kommst du darauf?“
„Weil es stimmt. Seit 4 Jahren werde ich von Doc Johansson behandelt. Und bisher hat er mir noch nichts sagen können, was ich nicht ohnehin schon wusste.“
„Aber..“
„Nein!“
Sie verstummte und vergrub ihren Blick im Bierglas.
„Als ich dich Vorgestern anrief, wollte ich eigentlich nur wissen…“
„Wie es mir geht?“
Sie nickte
„Ich war erstaunt , als ich hörte, dass du bereits hierher unterwegs warst. Was genau willst du hier? Und sag nicht, du wärst wegen mir hier.“
„Warum sollte ich das nicht sagen?“
„Weil ich 80 Kilometer entfernt wohne und dies das erste mal ist, dass ich hier rauskomme. Also, was suchst du hier.“
Jones schüttelte den Kopf.
„Warum interessiert dich das? Wir haben 6 Monate nicht miteinander gesprochen.“
Holly wurde sauer.
„Warum mich das interessiert? Das fragst du mich ernsthaft?“
Jones nickte.
„Ja.“
Holly seufzte traurig.
„Weil wir 11 Jahre zusammen waren. 11 Jahre, in denen ich zusehen musste, wie ein fröhlicher Mann sich in einen Eisklotz verwandelt. Und weil du mir, ob du’s glaubst oder nicht, immer noch was bedeutest.“
Jones schüttelte nur den Kopf.
„Das ist schlecht.“
„Was?“
„Das ist schlecht. Es wäre das Beste, wenn du mich einfach vergisst.“
„Warum sollte ich?“
„Weil ich dir ansonsten nur wieder weh tun werde.“
Die Antwort kam geradeheraus, ohne Verzögerung. Diesmal starrte sie ihn nur an.
„Und du glaubst, du tust mir nicht weh indem ich dich hier so sehe. Verdammt, was glaubst du wie häufig ich noch an unsere erste Begegnung denke. Wie du mich angelächelt hast und wir tanzen waren. Wie wir unsere erste gemeinsame Wohnung bezogen und du gegen die frisch gestrichene Wand gefallen bist. Wie du mir stolz deine neuen Rangabzeichen gezeigt hast, Ghost.“
Ein Teil von ihm zuckte zusammen, als sie ihn bei seinem ehemaligen Rufnamen nannte.
„Sowas vergisst man nicht“, beendete sie den Satz.
Ein weiterer tiefer Schluck spülte kühles Bier ihre Kehle hinunter.
„In all den Jahren hast du mir nie genau erklärt was eigentlich mit dir geschehen ist.“
Jahrelang aufgestauter Schmerz, hervorgerufen durch Sorge, Unverständnis und hilflose Wut gegenüber Jones kamen in diesem einen Satz zum Ausdruck. Sie klang unerträglich gequält.
„Bitte, wenn du es mir erzählst kann ich dir vielleicht helfen.“
Abermals schüttelte er den Kopf.
„Nein, das kannst du nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil du es nicht erlebt hast.“
Sie wollte etwas sagen, doch der Mund blieb ihr offen stehen als ihr einfach nichts Sinnvolles einfiel. Was hätte sie auch sagen sollen.
Jones betrachtete sie einen Moment. Dann schien in ihm, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit, ein Damm zu brechen. „Du hast nicht erlebt, wie es ist, wenn neben dir deine Kameraden zerfetzt werden. Wenn du versuchst sie zu retten, aber du ihnen doch nur beim sterben zusehen kannst.“
Vor seinem inneren Auge zogen die blutüberströmten Körper vorbei, die ihn manchmal noch im Schlaf heimsuchten.
„Du weißt nicht, wie es ist, wenn du versehentlich einen Zivilisten tötest und dann mit der Schuld leben musst. Du hast noch nicht gesehen, wie Leichen zu Haufen aufgeschichtet werden, weil es so viele davon gibt, dass man damit die Straßen pflastern könnte.“
Jones schaute ihr jetzt tief in die Augen.
„Und vor allem kennst du keine Angst. Du hast Angst um deinen Job oder Angst morgens den Bus nicht zu kriegen. Du weißt nicht wie es ist, wenn dir Kugeln um die Ohren fliegen oder wenn du gezwungen wirst Russisch Roulette zu spielen, als kleine Einstimmung auf Elektroschock-Folter. Das ist eine Angst, die dich wahnsinnig macht. Die dich in ein hilflos bibberndes Wrack verwandelt, während sie deinen Verstand zerreißt. Nein, all das kennst du nicht. Und darum beneide ich dich.“
Er machte eine Pause und trank einen Schluck. Holly sagte kein Wort. Sie war schockiert, doch weniger davon, was er sagte, sondern vielmehr wie er es sagte. Als er angefangen hatte zu erzählen, hatte sie eine Art Gefühlsausbruch erwartet, der der Tiefe all dieses Schmerzes angemessen gewesen wäre. Doch stattdessen hatte er jedes Wort ruhig und gelassen gesprochen, ohne Anzeichen irgendeiner Gefühlregung.
Dann sprach er weiter.
„Ich wollte es mir nicht eingestehen, doch ich war kaputt. Nichts außer Schmerz, Trauer und Angst, die mich aufzufressen schienen, jeden Tag zu jeder Minute, ob ich nun wachte oder schlief. Alles was ich mir wünschte war, nicht mehr zu fühlen, frei von Schmerz zu sein. Und irgendwann fühlte ich tatsächlich nichts mehr.“
Jones starrte aus dem Fenster, an das mittlerweile wieder der Regen anklopfte. Holly hing gebannt an seinen Lippen
„Der Schmerz war fort. Doch genauso alles andere. Ich konnte nicht mehr lachen und nicht mehr weinen. Es war als wäre ich bereits tot. Und irgendwie stimmte das auch. Ich hatte aufgehört zu leben. Eigentlich funktionierte ich ab da nur noch. Wie eine Maschine. Ohne Herz.“
Jones leerte sein Glas in einem Zug.
„Damals war mein Rufname Ghost. Geist. Eigentlich treffend. Geist wurde ich genannt und genau dazu bin ich geworden. Zu einem Geist.“
Ruckartig umfasste Holly seine Hand.
„Das stimmt nicht!“, schrie sie ihn fast an.
„In dir pumpt dasselbe warme Blut wie auch in mir. Du bist kein Geist, sondern ein Mensch!“
Sein Blick ruhte einen Moment auf ihrer Hand, die die seine umklammerte. Dann lächelte er und streifte ihre Hände ab.
„Geister sind nicht anderes als Menschen, die gestorben sind und sich weigern diese Welt zu verlassen. Insofern ist das eine passende Analogie.“
Langsam richtete Jones sich auf und zog seine Jacke an.
„Bitte, lass mich dir helfen“, flehte sie ihn fast an.
Er lächelte.
„Das kannst du nicht.“
Blitzschnell beugte er sich zu ihr herunter und küsste sie.
„Es ist gut, dass du mich angerufen hast. Ich wollte dich noch einmal sehen.“
„Wo gehst du jetzt hin?“
„Zum Meer. Das ist immer ein herrlicher Anblick.“
Er küsste sie noch einmal.
„Werd glücklich, Holly. Alles Gute.“
Damit ließ er sie los und verließ das Lokal. Holly sank zurück in ihren Stuhl. Das Gespräch hatte sie erschüttert und verwirrt. Im Geiste ging sie es wieder und wieder durch und fühlte sich dabei jedes Mal hilfloser. Wie sollte sie diesem Mann helfen? Konnte sie das überhaupt?
Dann plötzlich, beim vierten Durchgang, kam ihr ein Verdacht. Er hatte sich so merkwürdig endgültig ausgedrückt. Er würde doch nicht…?“
Mit einem Aufschrei sprang sie auf, schnappte sich ihre Jacke und rannte zum Strand.
Sie erreichte ihn 10 Minuten später und schnaufend wie ein Walross. Die Sonne versank bereits langsam am Horizont und schickte ihre letzten rötlichen Strahlen über den Menschenleeren Strand, wobei sie verspielt auf den Wasser glänzten. Auf dem Wasser und auf der kleinen Blutlache, die sich neben dem reglosen Körper am Strand ausgebreitet hatte.
Holly schrie nicht, während sie langsam über den Strand ging. Vielmehr bewegte sie sich wie in Trance, als sie sich neben Jones in den Sand fallen ließ. Seltsam friedlich sah er aus, wie er die Augen so geschlossen hatte. Wären nicht die Pistole in seiner Hand und das Loch in seinem Kopf gewesen, hätte man meinen können er würde schlafen.
Jones war tot. Der Geist war fort.