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- 07.01.2018
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Der Gedankenleseapparat
Mama erwartete mich in der Tür, als ich von der Schule nach Hause kam. Ich sprintete die letzten Meter über den Gartenweg.
„Was ist denn?“, fragte ich, nachdem ich eingetreten war.
Sie legte einen Finger an die Lippen und drückte die Tür hinter mir ins Schloss. Sie winkte mich in die Küche. Durch die Jalousien fielen einige Streifen Sonnenlicht auf den blanken Küchentisch.
Ich ließ mich auf der Treppe nieder und zog meine Schuhe aus. „Was ist denn?“, wiederholte ich.
„Ist das Auto noch da?“, zischte sie. Sie setzte sich neben mich auf die Treppe, flüsterte mir ins Ohr: „Das schwarze Auto. Es stand den ganzen Tag vor dem Haus.“
„Ich habe nicht darauf geachtet“, sagte ich und drehte den Kopf weg. Ihr heißer Atem an meinem Ohr und ihr bohrender Blick ließen mich schaudern. „Ich muss Hausaufgaben machen.“ Ich schnappte meinen Rucksack und floh die Treppe hinauf.
Sie folgte mir auf mein Zimmer und spähte aus dem Fenster, das zur Straße hinausging. Kopfschüttelnd zog sie die Vorhänge zu.
„Die sind immer noch da“, sagte sie mit einem Zittern in der Stimme. „Die sollen dich nicht sehen.“
Ich ging zum Fenster und spähte durch den Schlitz im Vorhang. Vor dem Haus parkte ein schwarzer BMW. Die hinteren Scheiben waren getönt, vorne saß niemand. Das Kennzeichen war von außerhalb.
„Der parkt nur“, sagte ich. „Bestimmt haben die Nachbarn Besuch.“
„Nein, nein. Gestern ist das gleiche Auto die ganze Zeit neben der Tram hergefahren“, entgegnete Mama und nickte heftig mit dem Kopf. „Die beobachten mich.“
„Wer sind denn die?“
„Was weiß ich?“ Sie warf die Hände in die Luft, ließ sie jedoch sofort wieder sinken. Dann wurde ihr Gesichtsausdruck weich, und sie strich mir über die Wange. Ich wehrte ihre Hand ab. „Ich möchte dich da nicht hineinziehen“, sagte sie. „Lass nur die Vorhänge zu, okay?“
„Okay“, murmelte ich.
Leise schloss sie die Tür hinter sich.
Am nächsten Tag ging Mama nicht zur Arbeit. Sie sagte, sie sei krank. Ich versprach, einkaufen zu gehen, obgleich sie mich wieder und wieder beschwor, vorsichtig zu sein. Als ich sie fragte, wovor ich mich denn in Acht nehmen sollte, antwortete sie: „Man weiß ja nie so genau. Sei einfach vorsichtig.“
Zu meiner Erleichterung stand der BMW nicht mehr vor dem Haus. Ich hatte Unterricht bis zum Nachmittag, danach kaufte ich ein. In unserer Straße angekommen, schaute ich mir die Autos an, die vor dem Haus standen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte ein roter Fiat Panda. Und der schwarze Peugeot unserer Nachbarin. Heute kam es mir so vor, als sähe ich den Peugeot zum ersten Mal. Ich überquerte noch einmal die Straße, betrachtete das Auto aus der Nähe. Das Sonnenlicht ließ den schwarzen Lack in vielfarbige Partikel zerspringen. Es war ein älteres Modell, aber es war wohl kürzlich in der Waschstraße gewesen. Alles an ihm sah harmlos und gewöhnlich aus.
Was tat ich hier eigentlich? Detektiv spielen? Wofür denn? Ich wandte mich von dem Auto ab.
Ich ging den Gartenweg hinauf zu dem alten Haus mit dem schiefen Dach, in das Mama und ich nach der Scheidung eingezogen waren. Oma hatte hier bis zu ihrem Tod gewohnt. Mama und Papa wollten das Haus eigentlich verkaufen, doch nach der Scheidung war Mama froh, einen Ort zum Leben zu haben. Das dachte ich zumindest damals. Heute aber kämpfte sie. Sie kämpfte einen ausweglosen Kampf gegen den Schimmel und die Mäuse.
Mama empfing mich wie am vorherigen Tag in der Tür. Sie winkte mich direkt in die Küche. „Also?“, fragte sie, während ich die Einkaufstasche auf den Tisch stellte.
„Ich habe keine Bio-Eier bekommen. Ich habe Freiland gekauft.“
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Hast du etwas Verdächtiges beobachtet?“
Ich runzelte die Stirn, betrachtete ihr schmales Gesicht. Sie trug immer noch ihren Schlafanzug. „Was meinst du?“, fragte ich. In meiner Magengrube kribbelte es.
„Die schwarzen Autos?“
„Ja, das Auto von Frau Schicker steht vor ihrem Haus“, antwortete ich und versuchte, möglichst beiläufig mit den Achseln zu zucken.
„Hast du das Kennzeichen?“
„Nein?“ Ohne dass ich es beabsichtigt hatte, klang meine Antwort wie eine Frage. In Mamas Augen flackerte es.
„Kannst du mir einen Gefallen tun, Ole?“, fragte sie. Sie strich sich eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Klar“, sagte ich, „immer.“
„Ich kann nicht aus dem Haus gehen“, erklärte sie, „aber ich darf die Männer nicht aus den Augen lassen. Also, könntest du …“
„Die Männer?“, unterbrach ich sie.
Sie starrte mich irritiert an, blinzelte, dann fuhr sie fort: „Könntest du mir die Kennzeichen von allen schwarzen Autos aufschreiben, die du in der Straße siehst?“
Ich holte tief Luft. „Warum?“
„Es ist wichtig“, antwortete sie mit einem milden Lächeln. „Ich will dir nicht mehr sagen. Je weniger du weißt, desto sicherer bist du. Du musst mir einfach vertrauen.“
Ich starrte sie an, als könnten ihre Züge mir verraten, was sie nicht sagen wollte. Auf ihrer Stirn hatte sich eine neue Falte gebildet. „Okay“, murmelte ich schließlich.
Am Donnerstag kam ich erst abends nach Hause. Die Sonne warf vor mir einen langen Schatten auf den warmen Asphalt. Vor der Hecke am Grundstück schräg gegenüber parkte ein schwarzer Corsa. Seine Seiten waren schlammig, und auf der Heckscheibe lag eine Staubschicht. Ich blieb stehen. Nicht, um das Kennzeichen zu fotografieren. Der Corsa sah freundlich aus mit dem schrägen Kühlergrill. Er sah aus, als grinste er. Ich schlenderte zum Heck des Wagens und zeichnete mit dem Finger einen Smiley in den Staub.
„Ole!“, rief plötzlich eine Stimme. Leise, als wollte sie gar nicht rufen.
Mama lehnte sich auf der anderen Straßenseite über die geschlossene Gartenpforte. Ich ließ die Schultern hängen. In meiner Magengrube regte sich ein seltsames Gefühl, als hockte dort ein kleines Tier, das aus seinem Nachmittagsschlaf erwachte.
Ich lief zur Gartenpforte. Mama sah nicht bloß bleich aus. Im goldenen Licht der Abendsonne wirkte ihre Haut durchscheinend. Als wäre sie ein Gespenst. Ihre Augen waren gerötet, und einzelne Haarsträhnen hingen lose aus ihrem Pferdeschwanz.
„Hey, Mama“, sagte ich.
„Komm ins Haus.“ Sie öffnete die Gartenpforte für mich.
„Hast du geweint?“, fragte ich. „Was ist passiert?“
„Wo warst du den ganzen Tag?“, entgegnete sie, ihre Stimme bebte.
„Am See. Mit Johann und so …“ Ich überlegte. Das Rumoren in meinem Bauch war stärker geworden. „Ich dachte … Du sagst doch, ich sei erwachsen und müsste mich nicht bei jeder Kleinigkeit abmelden. Warum hast du mich nicht angerufen?“
Sie ging vor mir her zur Haustür. Ihre Hände flatterten wie kleine Vögel, und ihre Schultern zuckten. Sie gestikulierte, ohne etwas zu sagen.
Es war meine Schuld. Die ganze Zeit, während ich mir am See die Sonne auf den Bauch scheinen ließ, saß sie zu Hause und sorgte sich.
„Mama, es tut mir leid“, sagte ich, als sie an der Haustür stehen blieb.
Sie strich sich durch das Haar, wodurch sich noch mehr Strähnen aus ihrer Frisur lösten. „Könntest du aufschließen? Ich habe vergessen, den Schlüssel mit rauszunehmen.“
Ich kramte in meiner Hosentasche.
„Hallo, Julianne.“
Ich drehte mich um und erblickte Frau Schicker, die mit ihrem Cockerspaniel an der Gartenpforte stehengeblieben war. Ich fragte mich, was sie wohl sah. Meine bleiche, verheulte Mutter mit ihrem zerzausten Haar und mich mit der Schuld und einem Sonnenbrand auf dem Gesicht.
„Hallo“, sagte ich.
Mama nahm mir den Schlüssel aus der Hand, schloss auf, huschte ins Dunkel des Flurs. Ich folgte ihr. Im Haus war es kühl.
Mama zog die Tür zu. „Ole“, sagte sie ernst. Im Zwielicht sah sie anders aus. Nicht abgekämpft, viel entschlossener. „Das ist eine besondere Situation. Ich möchte nicht, dass du unnötige Ausflüge unternimmst. Ich möchte immer wissen, wo du gerade bist. Ist das klar?“
„Warum?“, fragte ich. „Wegen der Autos?“
„Natürlich nicht wegen der Autos!“, fuhr sie mich plötzlich an. „Wegen den Männern!“ Sie machte eine Pause, presste zwei zittrige Finger gegen ihre Schläfen. „Du hast doch bestimmt Hausaufgaben zu erledigen.“
Ich wartete, gab ihr die Gelegenheit, sich dafür zu entschuldigen, mich angeschrien zu haben. „Klar“, seufzte ich schließlich. Ich schob mich an ihr vorbei. In der Küche schleuderte ich meine Schuhe von den Füßen und trampelte die Treppe hinauf. Ich knallte die Zimmertür ins Schloss. In der vorwurfsvollen Stille des Hauses war das Donnern eine Wohltat.
Die Vorhänge im Zimmer waren immer noch zugezogen. Ich öffnete sie und riss das Fenster auf, ließ die warme Sommerluft hineinströmen. Einen Moment stand ich reglos im Luftzug, zwang mich, ruhig zu atmen. Vergeblich versuchte ich, meinen Kiefer zu lockern. Das flaue Gefühl in meiner Magengegend blieb.
Ich setzte mich auf die Fensterbank. Es fühlte sich gefährlich an, der Straße den Rücken zuzukehren, doch ich hielt es aus. Das waren nur Mamas Befürchtungen. Nicht meine.
Ich zog mein Handy aus der Hosentasche. Samuel hatte mir geschrieben. Er wusste Bescheid, ihm hatte ich alles erzählt. Er kannte sich aus mit Politik, legte sich im Unterricht mit unserer Politiklehrerin an, sprach mit lauter Stimme und hochrotem Kopf. Wenn mir einer sagen konnte, was wirklich vor sich ging, dann er.
Du solltest das ernst nehmen. Habe dir ein paar Links rausgesucht. Bitte informier dich. Es folgte eine lange Liste mit Links, eine Nachrichtenflut.
Ich ließ meinen Daumen über dem ersten Link schweben, horchte in mich hinein. Wollte ich mich damit beschäftigen? Dann dachte ich daran, wie Samuel während eines Referats über Geheimdienste gesprochen hatte, die Privatpersonen in der ganzen Welt abhörten, sein Stand fest, seine Stimme klar. Niemand riss sich darum, Referate zu halten. Niemand außer Samuel. Er sagte, es sei ihm wichtig, uns aufzuwecken.
Ich öffnete den ersten Link und begann zu lesen.
Ich spürte die Hitze auf der Motorhaube des Chevrolets, als ich meine Hand wenige Zentimeter darüber hielt. Der dunkelblaue Lack sog das Sonnenlicht förmlich auf. Ich fotografierte das Kennzeichen. Das Fahrzeug war hier im Landkreis zugelassen. Ein amerikanisches Auto.
Gestern verbrachte ich die ganze Nacht damit zu lesen, was Samuel mir geschickt hatte. Unzählige Zeitungsartikel und Augenzeugenberichte. Danach recherchierte ich weiter. Heute fotografierte ich nicht nur die schwarzen Autos. Und nicht nur die Kennzeichen. Ab jetzt würde ich alles, was sich vor unserem Haus bewegte, sorgfältig dokumentieren.
Ich schlich um den Chevrolet herum und spähte durch das Beifahrerfenster. Ein Kaffeebecher in der Halterung zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. Eine Sonnenbrille auf dem Armaturenbrett. Vom Rückspiegel hing eine Schnur mit durchsichtigen Glasperlen daran. Auf dem Beifahrersitz lagen mehrere gelbe Mappen. Die oberste war beschriftet: Mind Reading 1.
Eine Weile starrte ich auf die schwarzen Lettern. Sie verschwammen kurz vor meinen Augen, tanzten umher. Mühsam fing ich mich. Ich fotografierte durch das Beifahrerfenster.
Mein Herz schlug wie wild. Ich richtete mich auf und entfernte mich rasch einige Schritte von dem Auto. Nicht, dass mich jemand sah, als ich ins Innere des Fahrzeugs starrte. Nicht, dass mich der Besitzer erwischte.
Unsere Gartenpforte neben dem zerzausten Ginster war nur noch wenige Meter entfernt. Ich ging darauf zu, während ich das Foto auf meinem Handy betrachtete. Die dicken, geraden Buchstaben waren deutlich zu erkennen. Gedanken lesen.
Ich riss den Kopf hoch, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf unserem Gartenweg wahrnahm. Ein Mann öffnete die Gartenpforte. Er war kräftig gebaut und trug ein weißes Hemd und dunkle Jeans. Sein Haar war rabenschwarz. Über seiner Schulter hing eine Umhängetasche. Er trat auf die Straße und zog die Pforte hinter sich zu.
Im Vorbeigehen nickte er mir zu. Dann stieg er in den Chevrolet.
Wie erstarrt blickte ich ihm nach, als er in dem bulligen Auto davonfuhr. In meinem Kopf summten die Gedanken wie in einem Bienenstock. Was hatte der Typ bei uns gewollt? Was hatte es mit der Mappe auf sich? Mit Mind Reading 1?
Samuel hatte recht. Ich hätte nicht über Mama lachen dürfen.
Nachdem das Auto auf die Hauptstraße eingebogen war, rannte ich zum Haus. Ich klingelte und schloss gleichzeitig auf. Klingelte Mama herbei. Sie öffnete gerade die Windfangtür, als ich die Haustür hinter mir zufallen ließ.
„Ole?“, fragte sie. „Wieso klingelst du?“
„Was wollte der Typ?“, brachte ich hervor.
„Hat er dich gesehen?“
„Ich war gerade an der Pforte.“
Sie atmete aus. „Hat er dich angesprochen?“
„Nein. Was wollte er? Wer war das?“
„Das ist nicht wichtig.“
„Mama!“, protestierte ich. „Du kannst mich da nicht einfach außen vorlassen. Guck, was ich in seinem Auto gesehen habe.“ Ich hielt ihr mein Handy hin.
Sie starrte eine Weile darauf. „Oh“, murmelte sie.
„Denkst du, er ist vom Geheimdienst?“
„Vom Geheimdienst?“
„Von der … von der CIA. Diese Mappe sieht ganz schön offiziell aus.“
„Von der CIA?“ Ihre Augen waren unendlich müde. „Wie kommst du darauf?“
„Ich habe recherchiert“, erklärte ich. Meine Wangen glühten, und die Worte sprudelten nur so aus mir heraus: „Ich habe einen Kumpel, der sich damit auskennt. Ich glaube, wir sind da einer riesigen Sache auf der Spur. Ich habe mir alle Autos in der Straße genau angeschaut und auch reingeguckt. Also, was wollte der Typ?“
Wir schauten einander an. Ich schwankte auf dem Fußballen, wartete auf ihre Antwort. Sie sah mitgenommen aus, verletzt. Was der Typ wohl mit ihr gemacht hatte? Ich traute mich nicht, zu fragen.
Schließlich seufzte sie. Sie ging vor mir her in die Küche. Freitags kochte sie immer, und der Tisch war schon gedeckt.
„Mama?“ Ich setzte mich auf meinen Platz. Neben meinem Teller lag ein Stoß Papier. Als ich ihn beiseiteschieben wollte, fiel mir auf, dass es sich um die Fotos von den Kennzeichen handelte.
Während Mama energisch mit einem Schneebesen in einem Topf rührte, betrachtete ich die Fotos. Kennzeichen um Kennzeichen, die meisten aus dem Landkreis. Die meisten wiederholten sich. Das Auto von Frau Schicker hatte ich jeden Tag fotografiert. Mama wollte die Fotos trotzdem haben. Sie hatte das jeweilige Datum auf die Rückseite geschrieben.
Plötzlich fiel mir zwischen den Fotos ein Zettel auf, der nicht bedruckt war. Als ich darüberstrich, blieben Spuren aus Graphit auf meinen Fingerkuppen zurück. Es war eine Bleistiftzeichnung, und ich erkannte mühelos Mamas weiche Strichführung. Wir zeichneten gemeinsam, seit ich einen Stift halten konnte. Ich würde ihren Stil überall erkennen.
Die Zeichnung zeigte einen Kasten, dunkel schattiert. Aus den Seiten ragten verdrehte Antennen wie die Fühler eines seltsamen Insekts. Auf der Vorderseite prangte ein achteckiges Symbol mit verschlungenen Linien darin.
„Was ist das?“, fragte ich und hielt das Blatt hoch.
Mama wandte sich vom Herd ab. Augenblicklich verfinsterte sich ihre Miene. Mit zwei Schritten war sie bei mir und entriss mir die Zettel. Einige segelten zu Boden. Doch als ich aufstand, um ihr zu helfen, wehrte sie meine Hände ab.
„Lass das!“ Sie warf die Zettel auf die Anrichte neben dem Herd und drehte sich zu mir um, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Kein Wühlen in meinen Sachen, keine Recherchen, keine Ausflüge! Haben wir uns verstanden? Das ist gefährlich!“
„Mama …“ Ich hob die Schultern. „Bitte, ich will dir helfen.“
„Nein, willst du nicht. Schlag dir das aus dem Kopf!“
Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Doch mein Kopf war wie leergefegt. Ich klappte den Mund wieder zu.
Es gab Kartoffeln mit Soße, in der noch mehlige Klumpen von der Kochmischung schwammen. Die Beilage schien Mama vergessen zu haben. Wir kauten schweigend auf den kaum gekochten Kartoffeln.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Das Tier in meiner Magengrube war wieder erwacht. Solche Magenkrämpfe hatte ich zuletzt gehabt, als ich gelauscht hatte, wie Mama und Papa sich jeden Abend stritten. Genauso wie damals warf ich mich in meinem Bett herum, bis das Laken nassgeschwitzt war. Ich strampelte die Bettdecke von mir und lag unbedeckt auf dem Rücken, starrte zur Decke.
Anders als damals durchbrachen keine streitenden Stimmen die Stille der Nacht. Lediglich das Zischen in den Leitungen und das Knacken im Gebälk. Das alte Haus lebte. Mama pflegte zu sagen, dass es viele Geschichten zu erzählen hätte und deshalb diese Laute von sich gäbe. Wir müssten nur seine Sprache lernen.
Die grünen Ziffern meines Radioweckers zeigten 01:18. Ich wälzte mich auf den Bauch. Mein Kopfkissen roch nach Schweiß.
Das Bild von dem seltsamen Kasten flackerte vor meinem inneren Auge auf. Es schien sich in meine Netzhaut eingebrannt zu haben. Wann immer ich die Augen schloss, sah ich es vor mir. Die insektenhaften Antennen, das verschlungene Symbol. Wenn ich nur wüsste, was es damit auf sich hatte. Wenn ich nur die Möglichkeit hätte, Mama zu helfen.
Schließlich stand ich auf und ging zur Toilette. Ich hatte zwar keine große Hoffnung, dadurch die Bauchschmerzen beruhigen zu können, doch einen Versuch war es wert. Ich schlich über den Flur zum Badezimmer. Vor Mamas Schlafzimmertür blieb ich stehen. Sie stand offen.
„Mama?“, flüsterte ich in die Dunkelheit.
Keine Antwort.
Ich machte einen Schritt ins Zimmer. Ihr Bett war zerwühlt und verlassen. Mama konnte oft nicht schlafen, seit wir hier wohnten. Die uralte Stimme des Hauses wühlte sie auf. In diesen schlaflosen Nächten schaute sie fern, und ich konnte die Geräusche bis hinauf in mein Zimmer hören. Heute jedoch durchbrach nur das Raunen des Hauses die Stille.
Ein Zittern ergriff mich. Was, wenn ihr etwas zugestoßen war?
Ich lief die Treppe hinunter. „Mama?“, flüsterte ich auf dem Treppenabsatz, hoffte, das bläuliche Flackern des Fernsehers durch die angelehnte Wohnzimmertür zu sehen. Was ich stattdessen erblickte, ließ mich straucheln.
Am anderen Ende der Küche stand eine Tür geöffnet, die sonst immer verschlossen war. Dahinter herrschte gähnende Dunkelheit. Die Kellertür.
Seit Jahren hatte ich mich nicht in den Keller getraut, und Mama ging es genauso. Vier Räume mit niedriger Decke, in denen das Licht nicht funktionierte. Ohne Taschenlampe war man dort unten blind. Oma hatte Gerümpel aus einem ganzen Leben darin angehäuft. Sie hatte sich in den labyrinthartigen Gängen aus Bücherregalen und Schränken ausgekannt. Als ich klein war, hatte sie mir manchmal einige ihrer Schätze gezeigt. Einen Degen aus einer Zeit noch vor dem Zweiten Weltkrieg, eine Pappschachtel mit Fotos von ihrem Vater, der ein Nazi gewesen war, ein vergilbter Fächer, den Opa aus China mitgebracht hatte, eine Truhe voller alter Kleider. In diesem Keller war alles verborgen, was Oma je besessen hatte. Verborgen in einem Reich aus tiefen Schatten, plötzlichen Luftzügen und rätselhaften Bewegungen.
Als Mama und ich nach der Scheidung in Omas Haus einzogen, wagte einer der Umzugshelfer einen Blick in den Keller. Er kehrte kopfschüttelnd zurück und sagte, wir müssten dringend etwas gegen den Schimmel unternehmen. Seitdem blieb die Kellertür verschlossen.
Einen Moment stand ich wie angewurzelt auf der vorletzten Treppenstufe. Ich wollte umdrehen, zurück in mein Bett und mir die Decke über den Kopf ziehen. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich starrte in die Schwärze des Kellers. Mama hatte die Tür sicher nicht geöffnet. Jemand war im Haus.
Ich schluckte heftig. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an.
Ich musste mich jetzt bewegen. Ich musste etwas tun. Darum bemüht, kein Geräusch zu verursachen, stieg ich die letzten beiden Stufen hinunter. Die Küchenfliesen waren eiskalt unter meinen bloßen Füßen. Ich wandte den Blick nicht von der undurchdringlichen Dunkelheit hinter der Kellertür, während ich mich in Richtung Telefon schob, das auf der Anrichte stand.
Beinahe hätte ich aufgeschrien, als die Schwärze plötzlich von einem weißen Lichtstrahl durchschnitten wurde. Ich hechtete zur Anrichte und schnappte mir den ersten Gegenstand, der mir in die Hände fiel – das Brotmesser. Schritte auf der Kellertreppe, eine dunkle Silhouette hinter dem Licht der Taschenlampe.
Ich bewegte mich auf das Licht zu. Meine Hände schwitzig, rutschig am Messergriff.
Das Licht fiel direkt auf mich. Ein Schrei. Mamas Stimme.
Hinter dem Lichtstrahl kam ihre Gestalt zum Vorschein. Sie trug ihre Hose für die Gartenarbeit und schwarze Handschuhe. Auf ihrem weißen Top waren graue Flecken.
„Scheiße.“ Ich ließ das Messer sinken. Ich musste mich an der Anrichte abstützen. Mit einem Mal schien mich sämtliche Kraft zu verlassen. Mein Herz raste, und schwarze Sternchen tanzten vor meinen Augen. Das Tier in meinem Magen brüllte schmerzerfüllt auf.
„Was machst du denn?“, fragte Mama mit aufgerissenen Augen.
„Was machst du denn im Keller?“, gab ich zurück. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“
Sie reckte das Kinn. „Ich suche etwas. Jetzt leg das Messer weg. Was willst du damit?“
Ich schob das Messer von mir. „Was suchst du denn? Da ist doch nur … Zeug.“ Zeug von Oma. Zeug, um das wir einen großen Bogen machten.
„Das ist egal.“
Ich wollte sie schütteln, wollte sie anschreien, sie fragen, warum sie mich nicht einweihte, warum sie mir nichts zutraute. Aber ich kannte die Antwort schon. Die Antwort war immer gleich: Es ist besser, wenn du nichts weißt.
„Ich hasse dich“, sagte ich.
„Ole.“ Sie schaltete die Taschenlampe aus, ließ uns im Zwielicht zurück. „Es tut mir leid.“
Ich zuckte die Achseln. Beinahe wünschte ich mir, dass sie mich zurückrief, als ich mich abwandte und die Treppe hinaufstieg. Aber sie blieb stumm. Ich rollte mich in meinem Bett zusammen.
Lange Zeit fand ich keinen Schlaf. Ich lag bewegungslos da und versuchte, die Geschichten zu entschlüsseln, die das Haus zu erzählen hatte. Irgendwann übermannte mich die Müdigkeit. In meinem Traum tastete ich mich durch den muffigen Keller. Auf einem Schrank erblickte ich einen dunkelbraunen Kasten. Durch seine verdrehten Antennen sendete er Signale durch das Haus, ein geheimnisvolles Flüstern, das uns den Verstand raubte.
Die Hitze lag drückend über unserer Straße. Während ich im Supermarkt Tütensuppen und Tiefkühlpizzen in meinen Einkaufskorb geworfen hatte, hatten sich schwarze Wolken am Horizont aufgetürmt. Auf dem Nachhauseweg sehnte ich den Regen förmlich herbei.
Trotz der samstäglichen Hitze war die Straße nicht völlig ausgestorben. Vor unserem Grundstück stand ein Mann in einem roten Polohemd. Er hielt eine Kamera in der Hand.
Ich blieb mitten auf der Straße stehen. Nur wenige Meter entfernt parkte der Chevrolet. In der Hosentasche ballte ich eine Hand zur Faust, bevor ich mich wieder in Bewegung setzte, meine Schritte beschleunigte. Ich lief direkt auf den Mann zu.
„Hey!“, brüllte ich, obwohl uns noch mindestens zehn Meter trennte. „Hey! Was machen Sie da?“
Er drehte sich um, ließ die Kamera sinken. Ich kam vor ihm zu stehen. Faust immer noch in der Hosentasche. Er schob sich die Sonnenbrille ins Haar. Seine Augen waren moosgrün.
„Hallo“, sagte er. „Bist du der Sohn von Julianne Becker?“ Sein Deutsch war glatt, fehlerfrei, aber nicht makellos. Seinen Akzent konnte ich nicht genau einordnen, ich tippte allerdings auf Britisch … oder Amerikanisch.
Mir war schwindelig. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich eine Erwiderung gefunden hatte. „Was machen Sie hier? Sie können doch nicht einfach filmen!“
Er streckte eine Hand aus, die ich mechanisch ergriff. „Ninian Reid“, stellte er sich mit einem breiten Lächeln vor. „Darf ich dir ein paar Fragen stellen?“
Ich hielt seine Hand eine Sekunde länger fest als angemessen. Eigentlich nur, um zu zeigen, dass ich keine Angst vor ihm hatte. Dabei fiel mein Blick auf das Tattoo an der Innenseite seines rechten Arms. Ein achteckiges Symbol mit verschlungenen Linien darin, eingestochen in roter Tinte.
Einen Moment starrte ich darauf, das Blut rauschte in meinen Ohren, wummerte durch meinen Schädel. Dann ließ ich seine Hand los, begegnete seinem Blick.
„Was wollen Sie?“
„Hat deine Mutter schon angefangen, den Gedankenleseapparat zu suchen?“
Mein Puls ging schlagartig hoch, steigerte sich von einem diffusen Wummern zu einem wilden Pochen. Es fühlte sich an, als spränge mir das Herz aus der Brust. Er wusste Bescheid. Er wusste sogar mehr als ich. „Was?“, fragte ich.
„Du weißt doch sicher davon“, sagte er.
„Von mir erfahren Sie nichts“, stieß ich hervor. Ich versuchte, wütend zu klingen, doch meine Stimme hörte sich lediglich schrill an. „Verschwinden Sie.“
Er seufzte. „Also willst du nicht mit mir sprechen?“
„Nein.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust, plusterte mich auf. Ich war größer als er, aber er sah kräftiger aus. „Lassen Sie mich in Ruhe“, fuhr ich ihn an.
„Okay.“ Er zuckte die Achseln. Er reichte mir ein weißes Kärtchen. Ich war zu aufgeregt, um es mir anzuschauen, doch ich nahm es automatisch entgegen. „Ruf mich an, wenn du deine Meinung änderst.“ Mit diesen Worten kehrte er zu seinem Auto zurück.
Ich wartete zitternd, bis der Chevrolet auf die Hauptstraße eingebogen war. Danach stürzte ich über den Gartenweg zum Haus, als wäre der Teufel hinter mir her. Ich bekam den Schlüssel fast nicht ins Schloss, so sehr bebten meine Hände. Hinter mir warf ich die Tür zu, schloss ab und legte sogar die Kette vor.
„Mama!“, brüllte ich. „Mama!“ Ich stürmte in die Küche. Mir wurde beinahe schwarz vor Augen, als ich sah, dass die Tür zum Keller wieder offenstand. Dahinter führten schmale Treppenstufen in das Reich von Omas zurückgelassenem Leben. Ich hatte das Gefühl, die unheilvollen Signale spüren zu können, die das Ding aus der Dunkelheit nach oben sendete. Ich rang nach Luft.
Mama kam die Treppe hinaufgerannt, reine Panik in ihren Augen. „Ole? Was ist passiert?“
„Der Typ …“ Ich streckte ihr das weiße Kärtchen hin. „Er war wieder da. Er wollte mich ausfragen.“
„Oh mein Gott.“ Sie ignorierte die Karte, nahm stattdessen mich in den Arm, drückte mich fest an sich. Ihr Körper fühlte sich zerbrechlich an.
„Ich habe ihm nichts erzählt“, sagte ich mit dem Gesicht an ihrem vertraut duftenden Haar. „Aber er kommt bestimmt wieder.“
Ich löste mich aus Mamas Umarmung und schaute sie einen Moment lang einfach nur an. Sie trug die gleiche Kleidung wie in der vergangenen Nacht. Ihre Wangen waren gerötet, und sie zitterte genauso sehr wie ich.
„Ein Gedankenleseapparat?“, fragte ich. „Das ist es, was sie haben wollen?“
„Ich wollte dich nur beschützen“, sagte sie.
„Hast du noch eine Taschenlampe?“ Mein Herz flatterte beim Gedanken daran, unter die Erde in Omas Reich zu gehen. Ich bemühte mich, ruhig zu atmen.
Ein Lächeln stahl sich auf Mamas Lippen. Sie nickte.
Wir holten beide tief Luft, als wollten wir von einer Klippe springen, bevor wir hinunter in den Keller stiegen.