Was ist neu

Der Garten

Seniors
Beitritt
22.10.2011
Beiträge
2.953
Zuletzt bearbeitet:

Der Garten

1.
„Möge er in unserer Erinnerung fortleben.“
„Schwachsinn“, sagte ich, „der hat mich vergessen. Jetzt vergess' ich ihn.“ Hastig fuhr ich mit dem Taschentuch an meinen Mund und sah zu den Trauergästen hinüber, ein paar alte Männer, die auf das Bild meines Vaters starrten, als würden sie liebend gerne mit ihm tauschen. Das Gesicht auf dem Schwarzweißfoto war fremd. Schmale, flüchtige Konturen, eine viel zu kleine Nase, die sich über das lange Kinn zu belustigen schien. Ein Gesicht voller Gegensätze, nur durch die schweren Augenbrauen zusammengeflickt. Ich hatte meinen Vater nicht mehr gesehen, seit ich ein Kind war.
Pfarrer Brödert segnete die Trauergäste. Ich kannte niemanden, nur an Brödert erinnerte ich mich. Ein Bilderbuchpfarrer mit sorgfältig frisierter Haarwoge, die beim Beten malerisch in die Stirn fiel. Und mit einem unglaublich schnellen Handgelenk, mit dem er sein Lineal auf die Knie unaufmerksamer Schulkinder drosch.
Er hatte mich angeschrieben, nachdem mein Vater vom Main nicht zurückgekehrt war. Am Ufer hatte man nur noch seine Kleider gefunden. Brödert ließ ihn mit meinem Einverständnis für tot erklären und organisierte die Trauerfeier. Damit die Welt für die Menschen im Gefüge sei.

Ich wandte mich um und ließ die Männer zurück, bevor sie mir ihr Beileid ausdrücken konnten.
Im Rücken spürte ich Bröderts vorwurfsvollen Blick. Ich blieb stehen und strich über meine Hüften, ganz langsam, mit großen, übertriebenen Bewegungen. Dann hob ich den linken Arm und winkte. Mit erhobenem Mittelfinger. Hoffentlich sah der Hund von Brödert mit seinem Du-musst-den-Vater-ehren-Geplärr die Geste. Er wusste genau: Mein Vater hatte meine Mutter vertrieben mit seiner Scheißliebschaft. Und mich vergessen. Ganz einfach. Ich wischte über meine Jacke, als säße eine Blattwanze darauf, und wandte mich die Straße hoch Richtung Enkheimer Ried. Dort stand das Haus meines Vaters. Einmal wollte ich es noch sehen.

Es schien, als hätte ich ein Abo für den Friedhof. Vor zwei Jahren war meine Mutter gestorben, danach meine Freundin. Und nun die Gedenkfeier für meinen Vater. Jetzt gab es nicht einmal mehr jemanden, der mich vergessen wollte. Merkwürdig war das, wenn ich an ihn dachte. Als schwebte ich in der Mitte eines Strudels, auf den ein fernes Licht fiel. Gesichter schlierten vorbei, Briefe, eine Geburtstagstorte und noch mehr Gesichter; nichts Fassbares, nur Halblichter.

Das Haus stand inmitten einer Reihe alter Gebäude, ein schmaler Zipfel Stadt, der sich in das Enkheimer Ried hineinzwängte. Nur ein gepflasterter Weg trennte die Grundstücke auf der Vorderseite vom Naturschutzgebiet. Die Rückseiten verschwammen mit den Weiden und dem Schilfröhricht des Rieds. Der Schrei eines Wasservogels klang herüber. Die Luft roch nach Erde und Blättern, ein Geruch, der einem Spielhosen überzieht. Ich streckte mich, um das Haus schneller zu entdecken, als etwas unter meinem Fuß knackte und schmatzte. Wie eine Schnecke, die mitsamt ihrem Haus zertreten wurde. Doch es war nur ein Zweig zerquetschter Blüten. Sie rochen wie überreife Äpfel.
Als ich aufschaute, den Baum betrachtete, von dem die dickkolbigen Blüten stammten, das Pflanzengewirr, da erkannte ich den Garten wieder.

*

Selbst mitten am Tag hatte es mich gegraust, wenn ich an ihm vorbei zur Schule rannte. Schlimm war der Winter, wenn die Schatten der Büsche lang waren und hinüberreichten zu den Bäumen im Ried.
Grauenhaft aber war der Sommer. Behaarte Blätter und Blüten wogten über den schmiedeeisernen Zaun und griffen wie Hände nach meinen Schultern. Nein, im Sommer lief ich nie direkt an dem Garten entlang. Ich drückte mich auf der anderen Wegseite vorbei, eng gepresst an den Zaun des Rieds, den Rucksack als Schutzschild unter das Kinn geschnallt.
Als Kind hasste ich diesen Garten; seinen Geruch nach gärenden Äpfeln, die fleischigen Pflanzen und die Besitzerin, eine dünne, schwarzhaarige Frau. Manchmal sah ich sie auf dem Hof, immer in seidigen Anzügen, hinter ihr eine graubraune Gans.
Ich stutzte. Woher kamen diese Erinnerungen? Das mausförmige Loch hier hatte mir den Beginn des Grundstücks angezeigt: „Achtung Stinkergarten“ musste man dann sagen und gleich danach „Achtung Todeszone“. Die Jeans kratzten an meinen Kinderbeinen und zwischen Söckchen und Hosensaum spürte ich immer einen Luftzug, weil ich viel zu schnell gewachsen war. Fohlenbein nannte mein Vater mich.
Wenn ich Pech hatte, war das Tor offen, und die Gänsefrau saß vor ihrem Haus. Dann hetzte sie ihren Vogel auf mich. Eine fette Gans, die immer auf einer Marmorsäule neben dem Haus thronte. Sie war schnell, zischte und raste mit weit geöffneten Flügeln auf einen zu. Ein braunschillerndes Geschoss mit einer dunklen Maske, aus deren Mitte senfgelbe Augen zielten.
Die anderen Kinder erzählten, ein Junge habe mal einen Stein nach der Gans geworfen. Später sei er verschwunden. Ja, alle Kinder hatten Angst vor dem Garten und der Frau und ihrer hässlichen Gans mit dem Augenfleck. Oggerbombe und Flatterkuh. So nannten wir sie, aber nur, wenn wir weit weg waren.
Einmal sagte die Freundin meiner Mutter, die Nachbarin verschlinge alles, was Hosen anhabe. Seitdem wollte ich nur noch Röcke tragen. Aber meine Mutter zwang mich, Jeans anzuziehen, und wenn ich mich weigerte, darin zur Schule zu gehen, zog sie mich am Handgelenk an dem Garten vorbei. Das tat weh. Irgendwann hörte ich sie sagen, verdammte Hure, dein Parfüm stinkt bis hierher. Ein Singsang war es, verdammte Hure, dein Parfüm, verdammte Hure, du kriegst meinen Mann nicht. Da wusste ich, dass auch meine Mutter Angst hatte. Später fragte ich meinen Vater, was denn eine Hure sei, doch er sah mich nur müde an.
Ich kickte die gelben Blüten zur Seite, doch Erinnerungen kann man nicht wegkicken. Sie kitzeln mit losen Fäden deinen Verstand, zieht man an einem, entgleitet er und verknüpft sich mit anderen zu einem unerwarteten Muster.


2.
Das Haus war von einem Blumenmeer umgeben. Über den Eingang ragte ein mit Wein überwachsenes Vordach. Keine zehn Meter von mir entfernt, stand noch immer die Marmorsäule, kaum zu sehen, weil sie von goldgelben Büschen umwachsen war. Am Zaunpfosten hing ein Emailleschild. „Casa Belanima“ stand darauf. Und überall summte es. Mein Kinderalptraum war ein kitschiges Blütenparadies.
Mitten in dem Weinblattgrün saß eine Frau. Sie trug einen dunkelblauen Monteursanzug und blickte nach unten auf einen Blumentopf. Dichtes, dunkelblondes Haar bedeckte in Wirbeln den Schädel. Eine Frisur wie eine explodierte Pelzkappe. Mit dem Handrücken strich sie sich über die Nase und hinterließ einen Dreckstreifen. Und verdammt nochmal, als sie aufschaute, sie sah der Frau von damals so ähnlich, dass es mir den Atem verschlug. Das schmale Gesicht, die riesigen, hungrigen Augen, nur die Nase war anders. Sie lächelte. Ein Lächeln war das, meine Güte, als hätte jemand tausend Lampen angeknipst.
Ich öffnete das Gartentor und ging auf die Frau zu. Sie erhob sich, erstarrte, dann streckte sie mir wie aus einem plötzlichen Entschluss heraus die Hand entgegen. „Wollen Sie zu mir?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Sie wollen nicht zu mir?“
„Nein, das meine ich nicht.“ Ich fuhr mit der Hand über meinen linken Arm. Die Tasche rutschte zu Boden und schlug mir gegen das Bein. „Ich habe mich nur gewundert, dass mein Kinderalptraum eine Stupsnase hat.“
Die Frau stutzte. Dann lief ein rötlicher Schimmer über ihr Gesicht. Sie lachte verlegen, verschränkte kurz die Arme vor der Brust, löste die Bewegung wieder auf, fuhr mit den Händen über die Seiten des Overalls, dann nahm sie meine Hand. „Oh je, Sie kannten meine Mutter.“
„Wenn Sie die Tochter sind? Sie haben da übrigens was“, ich deutete auf den Streifen in ihrem Gesicht und kicherte, „sieht aus wie eine Kriegsbemalung.“
Die Frau scherte sich nicht darum, behielt weiter meine Hand in ihrer und blinkte mich an mit ihrem Lampenlächeln. „Hmmm. Und jetzt?“, fragte sie. Dann ließ sie mich abrupt los. Schade, dachte ich und suchte krampfhaft nach etwas, das ihr Lächeln wieder anknipste. Aber aus meinem Mund kam nur Gebrummel. Super, dachte ich, geschickt hingekriegt; aber immerhin grinst sie wieder.
„Und wer ist die Frau, die sich mit Kriegsbemalungen auskennt?“
„Ich habe früher in der Nähe gewohnt. Lang her. Der alte Lehmann war mein Vater. Aber Sie kenn' ich nicht.“
„Ich habe die meiste Zeit woanders gelebt.“ Ihr Blick schweifte über die Blütenrabatten, als wollte er sich dort verhaken. „Meine Mutter hatte es hier nicht leicht. Manchmal ist Frankfurt wie eine Kleinstadt. Aber ja, lang her. Heute würde man vielleicht sagen, meine Mutter war etwas exzentrisch. Was solls, sie hat das Leben genossen. In vollen Zügen.“
Ich schwieg.
„Jetzt ist sie schon seit Jahren tot, und ich habe eine Pension aus ihrem Haus gemacht.“ Sie hielt inne und sah mich direkt an. „Ich kannte Ihren Vater. Er war oft hier, wenn ich meine Mutter besuchte. Auch später, nachdem sie tot war.“
„Sie kannten ihn?“ Ich schluckte. „Da haben Sie mir einiges voraus.“
Sie lachte. „Am besten hat man eh keine Eltern.“ Ihr Blick fuhr über meine bloßen Arme, ein Blick wie ein Grashalm, der auf der Haut kribbelte. Dann sagte sie, als fiele ihr plötzlich etwas ein: „Wollen Sie vielleicht hier übernachten? Ich habe noch Zimmer frei.“
Ich blickte unschlüssig auf meine Armbanduhr, tat so, als hätte ich viele Termine, dabei wusste ich noch nicht mal, wann ein Zug zurückfuhr. Ich zuckte mit den Schultern und stellte meine Tasche ab. Die losen Erinnerungsfäden kitzelten zu sehr. „Ach, ich weiß nicht. Obwohl, das wär was, eine Übernachtung im Haus der Flatter... “ Ich biss mir auf die Lippe. „Verzeihung.“
Die Frau griff wieder nach meiner Hand und drückte sie. „Das macht nichts. Ich kenn den Namen. Dafür hab ich jetzt was bei Ihnen gut.“ Wieder ging ihr Blick auf mir spazieren. Schön war das, leicht und kribbelig.
Dann pfiff sie in das Innere des Hauses, ein heller, trillernder Ton. Sie winkte mir und ging voraus in einen freundlichen Raum voller Holz und Glas und Blumen. Auf einer Rezeption stand ein mit Lilien gefülltes Glas, daneben stapelten sich Bücher über Gartenbaukunst. Direkt davor, auf einem Podest, saß eine bräunliche Gans.
Ich sog scharf die Luft ein.
Die Frau verfolgte meinen Blick.
„Ach so.“ Sie kicherte. „Keine Angst, Alja ist harmlos. Nur zu verfressen.“
Die Gans stierte in den Garten. Die Frau strich ihr über den Kopf, bis sie den Schnabel öffnete. Die Federn klebten zusammen, an der Brust war sie kahl, als hätte das Tier sich selbst gerupft. Dunkle Ringe umgaben die Augen. Eine alte Nilgans.
Sie zischte leise, spreizte einen Flügel ab und flatterte damit, bis die Frau ihr erneut den Kopf streichelte. „Sie ist krank.“
„Aber das ist nicht … “
Die Gans wandte sich mit einer schlangenartigen Bewegung des Halses um, der Kopf ruckte zu mir herüber. Dann sah sie mich an. Ein Auge war blind, wie von einem Pelz überzogen. Das andere fixierte mich. Und dabei witterte sie in meine Richtung, sog die Luft zwischen uns ein in schnellen, heiser bellenden Atemzügen, als würde sie etwas in mir erkennen.
Instinktiv schnappte ich nach meiner Tasche und drehte mich zum Ausgang. Mit diesem ekelhaften Vieh wollte ich keine Sekunde unter einem Dach bleiben.
Die Frau ließ die Gans los und trat einen Schritt zurück. „Haben Sie etwa Angst vor einer Gans?“ Sie scheuchte das Tier in den Garten hinaus. „Schade, ich fand das gerade so schön, dass Sie hier sind. Sie kannten meine Mutter. Und ich den alten Lehmann.“
Ich stellte die Tasche wieder ab.
„Es ist wirklich nur eine alte, kranke Gans.“ Sie lachte. „Manchmal furzt sie sogar.“
Ich blickte zu der Gans, die draußen im Garten in einem Sonnenfleck stand. Sie hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt.
„Furzen? Gänse können furzen?“
„Ja,“ die Frau lachte, „mehr als genug. Neulich war ich mit ihr bei einem Heilpraktiker.“
„Ein Gänseheilpraktiker? Wie wird man denn sowas?“
„Man muss quaken können.“
Ich kicherte. Die Frau blickte mich rasch an und sah dann zur Zimmerdecke, spießte sie auf mit ihrer kleinen, stupsigen Nase. „Ich heiße übrigens Anna. Und die Gans meiner Mutter war der Horror.“
„Ein Arschloch“, sagte ich. „Mit Federn.“
„Ja, ich hab sie immer George W. genannt, wenn ich hier war.“
„Wieso das denn?“
„Naja, nach Bush. Schien mir passend.“
„Und Alja ist dann Obama?“
„So in etwa. Im Ernst jetzt. Ich fand einfach die Idee hübsch, Gegenwart und Vergangenheit zu versöhnen. Deshalb hab ich die Gans.“
„Ja. Aber manchmal geht das nicht mit dem Versöhnen.“


3.
Der Zaun vor dem Haus meines Vaters war immer noch da. Ein graubraun gebeiztes Ungetüm von einem Jägerzaun, einige Latten waren herausgebrochen. Ich fuhr mit den Fingern über das Holz, betrachtete die Splitter an meiner Haut und lutschte. Der Zaun blutet, dachte ich, und wusste, diesen bitterscharfen Zaunblutgeschmack kannte ich.
Wie ein Torpedo war die Gans damals aus dem Garten geschossen und hinter mir hergerast. Ich rannte, der Rucksack schlug gegen Brust und Kinn, hinter mir fauchte die Oggerbombe, immer näher kam sie, ich spürte schon den harten Schnabel, endlich der Eingang, da erwischte sie mich doch und stieß mit Wucht in meine Beine. Ich stürzte und prallte mit dem Kopf gegen das Holz. Schmerz knallte in mein Kinn, und dann war Flüssigkeit im Mund und der bitterscharfe Zaungeschmack und ein kleiner, harter Klumpen. Über mir tobte die Gans, zerhackte meinen Rücken, ein flatternder Teufel, der mich zu Boden drückte, während ich den blutigen Zahn ausspuckte und nach Atem rang. Dann hörte ich eine laute, kräftige Stimme, eine Gestalt schoss vorbei, und da war er. Mein Vater! Mit einem Besen schlug er nach der Gans, und als sie von mir abließ, warf er seine Jacke über ihren Schlangenkopf, damit sie ruhig wurde. Zu mir sagte er: „Die hat nur Angst. Wenn Lebewesen Angst haben, sind sie manchmal gemein.“ Dann zog er seinen Pullover aus und legte ihn über meine Schultern. Und so liefen wir, mein Vater im Unterhemd und ich unter dem Pullover. Es war der, den er immer trug, wenn er was hermachen wollte, und es war ihm ganz egal, dass ich ihn vollblutete mit dem ganzen Zeug aus meinem Mund. Als wir im Haus waren, nahm er mich in den Arm und wiegte mich, bis das Weinen verstummte.
Ich hatte immer geglaubt, er hätte mich auch ausspucken wollen wie einen ausgefallenen Zahn.
Wenn ich die Augen ganz fest zusammenkniff, bis die Büsche zu einem Schleier verschwammen, trat er aus den Blättern, unauffällig und gebückt, als wollte er kein Aufhebens von sich machen. Ich sah das Gesicht meiner Mutter, wenn ich nach ihm fragte. Ihren Mund und den Zeigefinger, der auf dem Tisch zitterte.
Vielleicht hatte er mich gar nicht vergessen, der Mann im weißen Unterhemd, sondern ich ihn. Für meine Mutter.
Und noch etwas fragte ich mich, wohin wollte mein Vater? Mit seinem schönsten Pullover?

4.
Die Marmorsäule lag schon im Abendlicht, als ich in die Pension zurückkam. Der Kot der Gans verkrustete grau das Podest. Im Garten roch es nach verblühenden Rosen.
Ich presste die Fäuste in meine Augenhöhlen und versuchte, meinen Vater zurückzuholen. Das Gefühl, wie sein Pullover auf meinen Schultern lag. Es klappte nicht. Nicht hier zwischen all diesen irritierenden Düften, die Nase und Verstand verklebten. Manchmal, dachte ich, muss man allein sein, damit aus einer Erinnerung eine innere Kraft werden kann.
Anna saß wieder auf ihrem Stammplatz. Die letzten Strahlen der Sonne woben ein goldrotes Muster auf ihr Haar. In der Hand hielt sie eine Blume. Sie sah auf, ihre stupsige Nase reckte sich mir entgegen. Ich schluckte. Viel zu klein war die Nase für ihr Gesicht.
„Und?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht ...“ Ich zögerte. „Vielleicht sehe ich jetzt manches ein bisschen anders.“
„Mir ging es genauso, als ich zurückkam.“
„Bist du deiner Mutter eigentlich ähnlich?“
„Man sagt es. Aber ich hab nicht viel mit ihr gemeinsam.“ Sie fuhr den Stängel der Blume entlang bis hin zu dem Zylinder eng sitzender Blüten. Wie kleine, lavendelfarbene Motten sahen die aus. Unter Annas Fingernägeln staken schwarze Dreckhalbmonde.
„Blumen magst du aber auch.“
„Ja“, sagte Anna, stand auf und trat dicht neben mich. „Eine Züchtung. Mein ganzer Stolz.“ So nah war sie, dass ich ihren Duft roch. Wilde Lilien. Und dahinter war noch etwas, etwas Ranziges, Morsches.
„Hmm“, sagte ich und wendete mich ab. „Interessantes Hobby. Für mich wäre das nichts.“
„Dann müssen wir für dich eben was anderes finden.“ Anna strich eine Strähne aus dem Gesicht und blickte mich prüfend an. „Du willst zurück?“
„Ja.“
„Wenn du noch ein bisschen Zeit hast, zeig ich dir meinen Garten. Aber geh nur voraus, ich merke, dass du alleine sein willst. Ich komm nach.“ Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und griff nach einem Blumentopf. „Ganz hinten“, fuhr sie fort, „dort, wo du die hohen Weiden siehst, da steht eine Bank. Dort treffen wir uns. Das ist die schönste Stelle. Nur Natur und meine Blumen. Ein paar schenke ich dir zum Abschied. Damit du wiederkommst.“



5.
Die steinerne Bank stand inmitten von Kaskadensträuchern. Über mir verschränkten sich die Äste zu einem Dach, das kaum Sonne durchließ. Nur ein Taschentuchbaum stopfte rahmweiße Blätter zwischen das Grün. Es war schön hier, aber ich hatte genug. Genug von Zweigen, die sich an einem festhakten, genug von Blättern, die sich zu gewaltigen Trichtern rollten, genug von Blüten mit Kopfschmerzduft. Ich sehnte mich nach meinem Schreibtisch und einem starken Kaffee.
Wenn Anna nicht kam, ging ich eben alleine zurück. Wo war der Weg? Vom Weg keine Spur. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse, schob die Zweige zur Seite und ging los. Der Pfad war schmal, kaum mehr als ein Fußabdruck auf dem lehmigen Boden. Schlingpflanzen hingen von den Bäumen und legten einen grünen Schimmer auf meine Haut. Ich kam nur langsam voran in diesem Pflanzentunnel, dessen Zweige und Äste sich näher an mich heranschoben. Und dann endete er. Einfach so. An einem Gestrüpp. Scheiße. Ich horchte. Da war ein Knacken. Die Blätter der Büsche vor mir zitterten, es raschelte lauter, und so, als hätte sie gerade auf diesen Moment gewartet, schlüpfte die Gans an mir vorbei, mitten durch das Pflanzengewirr. Ich zerrte die Zweige auseinander, drückte mich hinein, dem Tier hinterher, auch wenn Dornen und scharfe Zweige mich stachen. Blätter klatschten mir ins Gesicht, aber ich ließ die Gans nicht aus den Augen, irgendwann würde sie mich zum Haus zurückführen, hoffentlich, denn hier gab es nichts mehr, nur Holz und Grün und den weichen Samt fremder Farben. Ein Ast schlug mir gegen die Stirn, ich wischte das Blut am Rock ab. Meine Beine juckten. Als ich über die Haut rieb, griff ich in ein pelziges Nest voller Kugeln, ich zog, endlich löste sich eine. Eine Kapsel voller Widerhaken, die jetzt an meinen Fingern klebte. Ich zerquetschte sie an einem Baumstamm und hob den Rock. Die Schenkel waren übersät bis hoch zum Slip. Schnell ließ ich den Rock fallen und sah nach vorne. Der Rock, die Beine, das war egal, ich musste weiter. Es war so lächerlich, ich hatte mich komplett verirrt. Okay, das hier war das Ried, ein Naturschutzgebiet, aber das war auch Frankfurt. Hier konnte man sich nicht verlaufen. Und doch war es so und ich hatte nichts, das mir raushalf, nur eine Scheißgans.
Wenn ich stehen blieb, stoben Mücken auf, umhüllten mich wie ein Mantel, drangen in Mund und Nase. Ich schlug sie weg und bohrte mich weiter durch das Dickicht, folgte der Gans, als führte sie mich an einer unsichtbaren Leine. Endlich wurde das Gestrüpp spärlicher, ich streifte die letzten Äste zur Seite, vor mir öffnete sich eine Lichtung, auf der ein hohes Gebäude stand. Eine Tür war halb geöffnet.
Ich zögerte kurz, dann hastete ich über das Gras, der Gans hinterher. Ich wusste längst nicht mehr, was mich antrieb, ihr zu folgen, es war nicht nur die Hoffnung, dass sie mich zurückführte. Ich musste hinterher. Als wäre etwas an ihr, was die Rätsel meiner Kinderzeit lösen konnte.
Ich schob die Tür weiter auf und trat hinein in eine Schwärze, die stofflich schien. Als ich stolperte und gegen die Wand prallte, entflammte ein Licht. Ein Bewegungsmelder. Vor mir ragte ein Metallturm auf. Bestimmt vier Meter. An seiner Vorderseite führte eine Wendeltreppe hoch zu einer Plattform. Auf der Rückseite stand ein Behälter, in dem gelbliche Brühe schwappte. Es stank faulig.
Direkt vor mir zischte etwas. Die Gans. Mühselig hüpfte sie die Treppenstufen hoch, schwankte, als stürzte sie gleich. Erst, als ich hinterherhastete, merkte ich, wie schnell sie war. Schließlich stand ich oben. Die Plattform war nicht groß, vielleicht vier Meter im Durchmesser. In ihrer Mitte eine Öffnung, abgetrennt durch ein Geländer. Vorsichtig beugte ich mich darüber. Jauchegeruch schlug mir entgegen. Etwas summte, weit unten ruckte es, dann knirschten, erst langsam, dann immer schneller, zwei Walzen gegeneinander. Darunter blitzten Schneidemesser.
Was war das? Eine gigantische Häckselmaschine? Wo war die Gans? Ich musste das Vieh hier wegholen. Da, genau mir gegenüber hockte sie, auf der anderen Seite der Öffnung. Ich tastete mich hin, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, hoffte, dass sie nicht zuschnappte, wenn ich nach ihr griff. Sie wich meiner Hand aus, schlüpfte unter der Metallstange durch und erhob sich mit wild schlagenden Flügeln in die Luft. Den Schnabel aufgerissen, fauchend, ein fedriger Dämon mit weißschwarzer Flügelmaske, der über dem dunklen Schacht drohte, bis sie in sich zusammensackte und seltsam verrenkt nach unten fiel. Federn wirbelten, dann nichts mehr, nur ihr Schreien, heiser und seltsam hilflos. Wie ein Kind. Ich stieg über das Geländer, klammerte mich mit den Beinen und einer Hand an der Querstange fest und ließ mich hinab. Vielleicht konnte ich sie hochziehen? Unter mir mahlte es, die Schneidmesser pressten stinkende Luft nach oben. Wieder ein Jammern. Das Licht flackerte, und, wie ein jäher Windstoß, schoss sie neben mir hoch. Ich zuckte. Versuchte, auf die sichere Seite zu kommen. Das Licht erlosch. Mit Wucht krachte sie in meinen Rücken, krallte sich fest und peitschte die Flügel gegen meinen Kopf. Meine Nase blutete, ich bekam kaum Luft, die Gans klebte an mir wie eine hungrige Harpyie, zerriss die Haut an meinem Rücken und stieß den Schnabel in den Hals, den Nacken, die Schultern. Ich wand mich, trat nach ihr, sie verbiss sich in den Schenkel, zerrte an dem weichen Fleisch und drosch weiter auf mich ein, bis ich den Halt verlor und mit den Beinen voran in den Schacht knallte. Der Ruck zerrte an meinen Handgelenken, doch ich hielt, zog die Knie an, fand einen Vorsprung in der Wand und drückte mich nach oben. Halb ragte ich aus dem Loch, lauschte in die Dunkelheit, um die Gans zu orten. Ein Zischen von der Seite und dann der Hieb. Direkt ins Auge. Ein Schmerz wie heißes Öl. Ich trat um mich, etwas schlug gegen meinen Fuß und presste ihn zwischen die Walzen, verbog ihn wie Gummi. Saure Flüssigkeit quoll mir in den Mund. Als ich die Augen aufriss, war das Licht wieder an. Direkt neben mir kauerte die Gans. Ich sah sie nur durch einen Schleier von Blut, ihre Augen, die rosa Zunge, die wie ein dicker Wurm aus ihrem Schnabel stak. Es war nur ein Vogel, ein schrecklicher Vogel, der seinen Instinkten folgte. Doch irgendwo, ganz weit hinten, da spürte ich einen kleinen, festen Kern jenseits der Instinkte. Ganz langsam senkte sie den Kopf und schälte einen Streifen Haut von meiner Hand, einen rohen, brennenden Streifen, fast zärtlich schälte sie und so leicht, als zöge sie die Haut von einer gekochten Kartoffel.
Ein Schatten fiel über mich. Haarwirbel, keine Federn. Anna. Ihre Hände legten sich auf meine. Unendlich langsam umfasste sie meine Gelenke, ich spürte das Dehnen im Arm, als sie zog, das Reißen, als meine Füße sich endlich von dem Metall unter mir befreiten. Anna, dachte ich, Anna, Gottseidank. Und dann der Ruck, als sie meine Hände losließ. Einfach losließ. Ich rutschte, fasste im letzten Moment nach und hielt. Annas Gesicht schwebte über mir, ein helles Oval, aus dem ihre Augen leuchteten, und das Lächeln, so schön, als hätte ihr Gesicht tausend Lampen angeknipst.
„Anna. Was tust du?“
„Was glaubst du?“ Ihre Stimme war leise, fast ein Singen. Und dann wieder ihre Hand auf meiner, wie sie den Zeigefinger packte, ihn drehte, ihn knirschend aus dem Gelenk wand.
Ich wusste nicht, ob ich sprach oder dachte. Bitte Anna, tu das nicht. Ich wusste nicht, ob sie antwortete. Ihre Stimme war ein hellrot flimmerndes Band. Ich mag dich, sagte es, ich mag dich so, wie man eine große Schwester mag. Aber ich wurde fortgeschickt. Wegen dir und deiner Mutter. Das Schandkind. Du erinnerst mich an das, was hätte sein können. Und an deinen Vater, jetzt, wo er verschwunden ist. Meine Blumen hier, die mögen dich auch. Die brauchen dich.
Und wieder der Druck auf meiner Hand und das Knacken des nächsten Fingers.
Hilft mir denn keiner?
Wer soll dir helfen? Wir wählen nur Menschen, die es zu uns zieht. Meine Alja, die riecht das. Sie nähren uns, diese Menschen; meine Blumen und mich und Alja.
Meine linke Hand ließ los, sie hing nach unten, ein abgeschältes Stück Fleisch, meine Füße schmerzten nicht mehr, da war nur taubes Gefühl, ich musste kotzen. Helles, schmerzendes Licht drang in mich ein wie ein Messer, etwas Hartes riss an meinen Haaren, zerdrosch die Kopfhaut, Federn stülpten sich über meinen Schädel, eine atmende, erstickende Haube aus Federn, und bevor der Körper der Gans mich umhüllte und hinunterdrückte in das fetzende Wirbeln der Walzen und Messer, sah ich noch einmal Annas Gesicht, die Haarwirbel, das Lampenlächeln und eine Spur von Traurigkeit in ihren Augen. Und ich sah das Gesicht meines Vaters wie einen fernen Schimmer und ich fragte mich, ob er wirklich im Main verschwunden war. Dann bedeckte mich die Haube, drang in mich ein, saugte und schlang, schlang und saugte, während mein Körper zerriss.

6.
Nichts tut weh, die Haut fühlt sich ein wenig taub an, aber ich lebe. Irgendetwas hat mich gerettet. Ich genieße die Stille und die Luft, die mich umfließt wie feiner Batist. Ich will den Wind spüren und den lichtgrauen Himmel mit seinen Wolken. Ich will hinaus auf die Straße. Weiter und weiter bis zu den Sommerfeldern. Doch ich weiß, ich muss bleiben. Die Luft schmeckt nach feuchtem Gras und frühem Morgen. Ich warte. Die Leute, die am Haus vorbeilaufen, sind mir gleichgültig. Auch die Eintretenden. Doch dann. Ein Mann blickt auf das schwarzweiße Emailschild am Eingang, geht in den Hof. Sein Blick gleitet über das Haus und die Blumen, bis er die Marmorsäule entdeckt. Ich hebe meinen Kopf, prüfe den Geruch, der von ihm zu mir strömt, und fessele ihn mit meinem Blick. Ich rieche seine Suche und breite meine Flügel aus.

 

Hallo Novak,

mir hat deine Geschichte sehr gefallen, vor allem den Schluss, mit welchem du den Bogen wieder zum Anfang (bzw. zur Begegnung mit Anna und der Gans) spannst, fand ich sehr gelungen.
Danke auch, dass du ein - zumindest für mein Empfinden - ungewöhnliches Tier gewählt hast. Ich finde, die Gans verleiht dem ganzen noch ein Stück mehr Surreales, irgendwie. :)

Ein paar Kleinigkeiten, über die ich gestolpert bin:

Ich konnte die Beerdigung des Vaters nicht ganz einordnen. Dient sie nur als Aufhänger, damit die Protagonistin einen Grund hat, in ihre alte Heimatsstadt zurückzukehren? Irgendwie erwartete ich, dass im Laufe der Geschichte die Beerdigung nochmals aufgegriffen wird - so aber dünkt es mich fast als ein Teil, der nicht so richtig zum Rest passen möchte.

Aber meine Mutter zwang mich, Jeans anzuziehen, und wenn ich mich weigerte, zur Schule zu gehen, zog sie mich am Handgelenk an dem Grundstück vorbei. Das tat weh. Einmal hörte ich sie sagen, verdammte Hure, dein Parfüm stinkt bis hierher. Ein Singsang war es, verdammte Hure, dein Parfüm, verdammte Hure.
Hier bin ich über die Aussage der Mutter gestolpert, weil ich erst nicht recht wusste, wen sie als Hure bezeichnete und wessen Parfum sie genau meint.

Die Frau scherte sich nicht darum, behielt weiter meine Hand in ihrer und blinkte mich an mit ihrem Lampenlächeln. „Hmmm. Und jetzt?“, fragte sie. Dann ließ sie mich abrupt los. Schade, dachte ich und suchte krampfhaft nach etwas, das ihr Lächeln wieder anknipste.
Ihre Frage "Und jetzt?" fand ich etwas merkwürdig, zumal sie ja diejenige ist, welche die Hand der Protagonistin festhält. Vielleicht wäre es effektiver, ihre Frage wegzulassen, und den Fokus mehr auf den Händedruck zu legen?

„Warten wir es ab.“
Das fand ich ein wenig zu offensichtlich - sofern du vorhattest, Andeutungen zum Schluss zu machen; oder ich hab komplett was falsch interpretiert :)

Die Marmorsäule lag schon im Abendlicht, als ich in die Pension zurückkam.
Vielleicht habe ich es überlesen oder nicht ganz begriffen: die Protagonistin kehrt nach dem ersten Besuch bei Anna anschliessend zu ihrem alten Elternhaus zurück? Diesen Teil musste ich zweimal lesen, für mich war anfänglich der Unterschied zwischen den zwei Häusern und deren Zäunen zu wenig klar.

Für einen Moment erinnerte mich der Geruch an den einer Frau, die sich lange nicht gewaschen und den Schweiß mit Parfüm überdeckt hatte.
Und dahinter war noch etwas anderes, etwas Ranziges, Morsches.
Diese "subtilen" Hinweise auf das Unheimliche und auch Gefährliche find ich toll.

Nur ein Taschentuchbaum stopfte rahmweiße Blätter zwischen das Grün. Es war schön hier, aber ich hatte genug. Genug von Zweigen, die sich an einem festhakten, genug von Blättern, die sich zu gewaltigen Trichtern rollten, genug von Blüten mit Kopfschmerzduft.
Schön beschrieben, wie der vermeintlich schöne Garten plötzlich feindselig wird, bzw. nun wahrhaftig (wieder) als böse wahrgenommen wird.

Okay, das hier war das Ried, ein Naturschutzgebiet, aber das war auch Frankfurt.
Sehr schön die Vorstellung, dass kaum 100 Meter abseits der Zivilisation das Böse hausen kann und einfach Leute verschwinden lässt.

Eine Tür war halb geöffnet. Ich schob sie auf und trat ein, der Gans hinterher, hinein in eine Schwärze, die stofflich schien.
Da verstand ich die Beweggründe der Protagonistin nicht ganz, dem Tier in das dunkle Gebäude zu folgen. Vielleicht wäre es logischer, die Gans verschwinden zu lassen und dann scheinbar um Hilfe rufen zu lassen, sodass die Protagonistin aus Tierliebe das Gebäude und die Treppe, bzw. die Plattform betritt. Vorher würde ich persönlich nach solch einem Garten mit solch einem Tier keinen dunklen Turm freiwillig betreten (okay, vielleicht bin ich ja die Ausnahme) :)

Meine Nase blutete, ich bekam kaum Luft, sie klebte an mir wie eine hungrige Harpyie ...
Da dachte ich erst, es sei die Nase :)

Ich rieche seine Einsamkeit und breite meine Flügel aus.
Tolles Bild.

Zwischendurch hatte ich bei der Stelle in der Häckselmaschine etwas Mühe, mir den Aufbau der Maschine vorzustellen, darum war ich manchmal auch etwas verloren, mir vorzustellen, wie sie genau da reingeraten ist, bzw. wo sie festhängt.

Und vielleicht denkt die Protagonistin nochmals an ihren Vater? Das würde auch den Strang mit der Vatergeschichte noch etwas abrunden - aber vielleicht wäre das dann auch zuviel des Guten.

Aber alles in allem hat mir die Geschichte sehr gefallen.
Gerne gelesen.

Liebe Grüsse
Raki

 

Liebe Novak,

ich mag den Einstieg in die Geschichte. Wie du mir bei meiner Geschichte schon geschrieben hast, kann man auf Einstiege durch eine Wetterbeschreibung durchaus verzichten, was du hiermit zeigst :) Besonders diese Sätze mag ich, da musste ich schmunzeln, die sind so schön frech:

... und sah zu den Trauergästen hinüber, ein paar alte Männer, die auf den Sarg meines Vaters starrten, als wollten sie Probe liegen.

Ein Bilderbuchpfarrer mit sorgfältig frisierter Haarwoge, die beim Beten malerisch in die Stirn fiel.

Berührt hat mich:
... nichts Fassbares, nur Halblichter.

Ich mag die Art, wie du schreibst. Sehr klar, keine kompliziert verschachtelten Sätze. Hier finde ich es ein wenig zu abgehackt:
Als ich aufschaute, den Baum betrachtete, von dem die dickkolbigen Blüten stammten, das dichte Pflanzengewirr, da erkannte ich den Garten wieder.

Vielleicht so? "Als ich aufschaute und inmitten des dichten Pflanzengewirrs den Baum betrachtete, von dem die dickkolbigen Blüten stammten, erkannte ich den Garten wieder."

Die Erinnerung danach finde ich sehr gelungen. Schmunzeln musste ich wieder hier:

Einmal sagte die Freundin meiner Mutter, die Nachbarin verschlinge alles, was Hosen anhabe; seitdem wollte ich nur noch Röcke tragen.
Genau so entstehen Missverständnisse bei Kindern :)

Oder das hier:

blinkte mich an mit ihrem Lampenlächeln
ein Blick wie ein Grashalm, der auf der Haut kitzelte
Mag ich total!

Den Dialog zwischen den beiden Frauen finde ich sehr gut. Ich selbst tu mich immer schwer mit Dialogen, sie sollen ja nicht gestelzt klingen usw. Du schaffst es, da eine Leichtigkeit reinzubringen und Humor (siehe Gänseheilpraktiker).

Anna wirkt auf mich von Anfang an geheimnisvoll - aber auf unangenehme Weise. Vor allem der Satz

So nah war sie, dass ich ihren Duft nach wilden Lilien roch. Und dahinter war noch etwas anderes, etwas Ranziges, Morsches.
hat dann endgültig etwas Unangenehmes in mir hervorgerufen, was ich gar nicht so wirklich erklären kann. Wie du diese Stimmung erzeugst, ist gekonnt.

Eine Kleinigkeit: Fehlt hier nicht ein Wort? Ein "auf" oder "empor"?

Vor mir ragte ein Metallkolben [...?]

Hier:
Schmerz zuckte wie ein Schwall glühendes Öl, das dein Auge zu einem Loch ausbrennt.
Würde ich eher "Schmerz durchfuhr mich wie ein Schwall glühendes Öl, das einem das Auge wegbrennt" oder so ähnlich schreiben.

So und alles in allem bin ich echt begeistert. Als alter Horrorfilm-Fan habe ich schon Böses geahnt, als die Protagonistin den Garten betritt und Anna kennenlernt. Wie ich oben schon geschrieben habe, da ist von Anfang an ein unangenehmes Gefühl. Aber in den letzten Abschnitten wird es echt brutal. Holla die Waldfee! Die Gans ist echt mal was Neues, aber dabei durchaus plausibel, ich selbst wurde als Kind auf dem Bauernhof meines Opas schon von Gänsen umhergejagt, die können echt ungemütlich werden. Ich fand's spannend, atmosphärisch, unheimlich und echt gut geschrieben!

Viele Grüße
RinaWu

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Raki,
das hat mich aber sehr gefreut, dass du meine Geschichte kommentiert hast.
Auch das mit dem Ende ging mir tunter wie Öl, denn da hab ich schon ein bisschen überlegt, wie ich das machen soll.

Danke auch, dass du ein - zumindest für mein Empfinden - ungewöhnliches Tier gewählt hast. Ich finde, die Gans verleiht dem ganzen noch ein Stück mehr Surreales, irgendwie. :)
Weißt du, ich hasse Nilgänse. Die anderen, diese dicken weßen, die finde ich ganz okay, obwohl die auch ganz schön hart zuknappsen können. Manche halten sich ja Gänse als Wachhunde.
Aber Nilgänse kann ich echt nicht ab. Die sitzen hier den ganzen Main rauf und runter, haben die Stockenten verjagt und scheißen alles voll. Du siehst, sprich mich besser nicht auf Nilgänse denn, ich boin nämlich erkläret Entenfreundin. :D

Ich konnte die Beerdigung des Vaters nicht ganz einordnen. Dient sie nur als Aufhänger, damit die Protagonistin einen Grund hat, in ihre alte Heimatsstadt zurückzukehren? Irgendwie erwartete ich, dass im Laufe der Geschichte die Beerdigung nochmals aufgegriffen wird - so aber dünkt es mich fast als ein Teil, der nicht so richtig zum Rest passen möchte.
Nee, die Beerdigung ist nicht nur der Aufhänger, sondern es ist die letzte Station ihrer Auseinandersetzung mit dem Vater. Sie kommt in die Stadt zurück, weil er gestorben ist. Aber eine Beerdigung ist ja auch nur ein Ritus, auf den diese Frau hier nicht allzuviel Wert legt. Aber sie ist mit dem Vater ja überhaupt nicht fertig. Sie leidet ja, ich hoffe, das merkt man im Text, dass der Kontakt zu ihm in der Kindheit "abgeschnitten" wurde. Sie glaubt, er habe sie vergessen. Durch die Rückkehr, die Verletzlichkeit nach seiner Beerdigung erinnert sie sich. Die Beerdigung als Ritus kommt nicht mehr vor. Ich finde auch nicht, dass die das muss. Aber die Beziehung zum Vater durchzieht ja dann sehr viel. Die austegende Erinnerung an ihn ist es auch, ich hoffe, das liest man heraus, die sie aus dem Garten weggehen lassen will.

Hier bin ich über die Aussage der Mutter gestolpert, weil ich erst nicht recht wusste, wen sie als Hure bezeichnete und wessen Parfum sie genau meint.
Da prüfe ich noch mal nach.

Ihre Frage "Und jetzt?" fand ich etwas merkwürdig, zumal sie ja diejenige ist, welche die Hand der Protagonistin festhält. Vielleicht wäre es effektiver, ihre Frage wegzulassen, und den Fokus mehr auf den Händedruck zu legen?
Ja klar, man kann den Händedruck noch mehr betonen. Aber ich fand grad die Frage an der Stelle gut, also gerade weil sie die Hand hält. Ich wollte so ein bisschen ihre unkonventionelle Art betonen.

Das fand ich ein wenig zu offensichtlich - sofern du vorhattest, Andeutungen zum Schluss zu machen; oder ich hab komplett was falsch interpretiert :)
Nee, hast du nicht. Und den Finger auf eine Freg gerichtet, die ich mir auch schon gestellt hatte. Ich überleg zwar noch bisserl, aber kann gut sein, die Frage ist zuviel des Guten. Und dann hau ich sie raus.

Vielleicht habe ich es überlesen oder nicht ganz begriffen: die Protagonistin kehrt nach dem ersten Besuch bei Anna anschliessend zu ihrem alten Elternhaus zurück? Diesen Teil musste ich zweimal lesen, für mich war anfänglich der Unterschied zwischen den zwei Häusern und deren Zäunen zu wenig klar.
Da prüf ich auch auf jeden Fall nach. Ich denk mir immer, dass die fetten Absätze oder ogar Nummern dem Leser signalisieren, dass ein Orts- oder Zeitwechsel stattfindet. Aber ich überleg und lausche auch aufmerksam, wenn das noch anderen Leuten so gegangen sein sollte. Vielleicht habe ich es ja doch zu abrupt gemacht.

Da verstand ich die Beweggründe der Protagonistin nicht ganz, dem Tier in das dunkle Gebäude zu folgen. Vielleicht wäre es logischer, die Gans verschwinden zu lassen und dann scheinbar um Hilfe rufen zu lassen, sodass die Protagonistin aus Tierliebe das Gebäude und die Treppe, bzw. die Plattform betritt. Vorher würde ich persönlich nach solch einem Garten mit solch einem Tier keinen dunklen Turm freiwillig betreten (okay, vielleicht bin ich ja die Ausnahme)
Nee, eine Ausnahme bist du sicherlich nicht. Das ist schon einerseits ein bisschen panisch, dass die der Gans auf Schritt und Tritt folgt. Und andererseits auch bisschen blöd mutig, wie sie da so agiert. Naja, meine Vorstellung von dieser Frau ist so, dass die nicht besonders großen Wert darauf legt, konform oder angepasst zu sein, sonst hätte sie einen Kranz gekauft oder dem Pfarrer nicht die entsprechenden Gesten gezeigt. Die ist schon auch unkonventionell und glaubt, ihr Körper sei unfehlbar. Nur so jemand geht der Gans hinterher und klettert dann auch noch den Turm hoch. Also das steht natürlich nicht Wort für Wort drin, man muss es sich aus dem Zwischenraum zwischen den Zeilen erschließen, also aus diesen Handlungen. Ob mir das gelungen ist? Ja, weiß ich jetzt noch nicht. Aber klar, woruaf du hinweist, das ist immer ein Problem.
Da dachte ich erst, es sei die Nase :)
Ouh, ja, da hast du recht. Das Nasendingens wird ausgebessert.

Zwischendurch hatte ich bei der Stelle in der Häckselmaschine etwas Mühe, mir den Aufbau der Maschine vorzustellen, darum war ich manchmal auch etwas verloren, mir vorzustellen, wie sie genau da reingeraten ist, bzw. wo sie festhängt.
Ja, ich hatte auch meine Mühe. Und genau das befürchtet, was du hier schreibst. Ich gehe es auf jeden Fall noch mal durch und überlege. Bei mir ist das so, dass ich eine Leserin bin, die minutiöse genaue Beschreibungen hasst, gerade dann, wenn es irgendetwas Aufregendes gibt. ich lese dann eher drüber weg. Und hier, naja, da wusste ich dann selbst nicht so genau, wie genau das nun werden soll/muss. Also da klecker ich einfach noch rum und hab noch nicht so das ganz gute Gefühl dafür. Hab ich selbst gemerkt.

Und vielleicht denkt die Protagonistin nochmals an ihren Vater? Das würde auch den Strang mit der Vatergeschichte noch etwas abrunden - aber vielleicht wäre das dann auch zuviel des Guten.
Ja, ich war auch am Überlegen, einmal sogar am Rumprobieren, dass ihr der Vater noch mal einfällt. Aber dann dachte ich wie du. Wer weiß, ob das dann nicht zu viel des Guten ist. Außerdem denke ich immer, dass man in so Paniksituationen gar nicht so sehr viel an seine Vergangenheit denkt, da taucht zwar alles Mögliche wirre Zeug auf, aber so richtig klar oder linear ist das nie. Deshalb hab ich mich dann letztendlich dagegen entschieden.

Liebe Raki, ich weiß noch, wie wir uns über das Kommentieren unterhalten haben. Ich finde, du hast einen tollen Kommentar geschreiben, der die Finger auf viele Punkte legt, die man überlegen und bedenken muss, auch wo man im Nachhinein einfach sich selbst noch mal Rechendcht gibt, das öffnet einfach ganz andere Sichtweisen auf einen Text und auf die Schwieirigkeiten, die man beim lesen vielleicht haben könnte. Ich profitiere davon sehr.
Von daher, Raki, tausend Dank für deinen Kommentar. Er bedeutet mir eine ganze Menge.
Viele liebe Grüße von Novak

Line RinaWu, dir danke ich auch schon mal für deinen schönen Kommentar, aber die Antwort kommt wohl erst morgen.
Liebe Grüße
Novak

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Novak

(Bitte entschuldige allfällige Überschneidungen mit vorherigen Kommentaren, ich hab sie (noch) nicht durchgelesen.)

Ich liebe solchen feuchten Moos und Pflanzengrabscher Horror, dieser subtile Übergang von eben noch erklärbarer Realität hin zu begierig einsaugende Abgründe, alles nur Schritte entfernt vom geschäfftig brummenden oder ruhig dahinfliessenden Alltag.

Mir hat deine Geschichte richtig gut gefallen, besonders ab dem Zeitpunkt, wo du mich mit deiner Prot auf die gehetzte Suche nach dem vermeintlichen Ausgang, direkt in die Zähne der Gartenmaschine des Grauens.

Ein bisschen Mäkeln auf hohem Niveau muss trotzdem sein:
Der Einstieg erschien mir etwas zäh, die Beerdigungsszene zeichnete mir zwar ein vages Bild deiner Prota und ihrem Umfeld, allerdings spielte der bigotte Pfarrer im weiteren Verlauf der Geschichte keine Rolle mehr, die Anwesenden sowieso nicht und die Szene nimmt für meinen Geschmack zuviel Raum ein.

Die Geschichte könnte deshalb genauso gut mit der Rückkehr zum Geburtsort und den auf sie einstürzenden Eindrücke ihrer Vergangenheit anfangen. Also irgendwie habe ich zu Beginn ein schiefes Bild. Deine Prota wächst bei ihrer Mutter auf, nachdem dieser die Mutter mit seinen Frauengeschichten aus dem Haus vertrieben hat, richtig? Gemäss Rückblende aber zieht die Mama ihr Kind auf und - jeweils am Garten des Grauens vorbei - in die Schule. Im Garten, den ich zuerst dem Elternhaus zuschrieb, wohnt eine - durch Kinderaugen wahrgenommene - "Hexe", die gemäss den Erwachsenen alles was Hosen hat verschlingt.

Die Rückblende und der Ausflug in die Kindheit war dann der erste spannende Moment, und so langsam wurde ich warm.

Dann kommt es zum Treffen mit der fremden blonden Frau, die auf deine Prota eine magische Anziehungskraft zu haben scheint, und das gestaltet sich meiner Meinung nach etwas hölzern. Anna ist nicht hier aufgewachsen und trotzdem kennt sie den Vater deiner Prota. Nach diesem Vorspiel, dass natürlich den Zweck hat, deine Prot ins Haus zu locken. (Ei wer knuspert an meinem Häuschen ;)) - nahm die Geschichte fahrt auf, der Schrecken kündigt sich subtil an (etwas Ranziges, Morsches). Mir scheint sowieso, die Geschichte spielt ihre Stärke erst im hinteren Teil aus, bis hin zum Showdown und dem coolen Schlussbogen. Dort hast du meiner Meinung nach viel Herzblut reingesteckt.

Doch nun der Reihe nach, was mir zu den einzelnen Textstellen auffiel.

Als ich aufschaute, den Baum betrachtete, von dem die dickkolbigen Blüten stammten, das dichte Pflanzengewirr, da erkannte ich den Garten wieder.
Hier dachte ich, der Garten gehöre zum Elternhaus.

Schlimm war der Winter, wenn die Schatten der Büsche lang waren und hinüberreichten zu den Bäumen im Ried, an denen im Winter nur lange Pflanzenbärte wucherten.

Einmal sagte die Freundin meiner Mutter, die Nachbarin verschlinge alles, was Hosen anhabe; seitdem wollte ich nur noch Röcke tragen.
Top!

Alle Kinder hatten Angst vor dem Garten
Bisher dachte ich, sie wäre alleom in dieser Gegend aufgewachsen, anscheinend gab es aber noch weitere Quartierkinder, da würde ich mir noch ein paar Sätze dazu wünschen.

Mein Kindergrauen war ein kitschiges Blütenparadies.
'war heute', oder 'Blütenparadies geworden', jedenfalls fehlt für mein Leseempfinden da ein Wort.

Mitten in dem Weinblattgrün, das vom Vordach in den Eingang hineinrankte, saß eine Gestalt. Sie trug einen dunkelgrünen Monteursanzug und blickte nach unten auf einen Laptop.
WW - und für mich ist die Monteurkluft immer blau. :D
Was hat das Laptop hier für eine Bedeutung? Und für den folgenden Dreckstreifen hätte ich sie hier besser Pflanzen eintopfen lassen.

Eine Frisur wie eine durchgeknallte Pelzkappe.
verwuschelte Haare vs. durchgeknallter Pelz, irgendwie beisst sich das für mich.

Und verdammt nochmal, sie sah der Frau von damals so ähnlich, dass es mir den Atem verschlug. Das schmale Gesicht, die riesigen, hungrigen Augen, nur die Nase war anders. Und sie lächelte. Und meine Güte, ein Lächeln war das, als hätte jemand tausend Lampen angeknipst.
Waren mir etwas zu viele "und"-Anfänge.

Ich öffnete das Gartentor und ging auf die Frau zu. Sie erhob sich und streckte mir die Hand entgegen. „Wollen Sie zu mir?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Sie wollen nicht zu mir?“
„Nein, das meine ich nicht“, ich fuhr mit der Hand über meinen linken Arm.
Das fand ich etwas holprig, wie sie da in den Garten platzt und Anna gleich die Hand ausstreckt. Aber dann doch fragt: "Wollen Sie zu mir?"

„Ich habe mich nur gewundert, dass mein Kinderalptraum eine Stupsnase hat.“
Auch wenn zwischendurch das rebellische deiner Prota aufblitzt, so fand ich den Satz deplaziert. Hm, kann dir nicht mal sagen, an was es liegt.

Die Frau stutzte. Dann lief ein rötlicher Schimmer über ihr Gesicht. Sie lachte verlegen, verschränkte kurz die Arme vor der Brust, löste die Bewegung wieder auf, fuhr mit den Händen über die Seiten des Overalls, dann gab sie mir die Hand. „Oh je, Sie kannten meine Mutter.“
„Wenn Sie die Tochter sind? Geile Kriegsbemalung übrigens“, ich deutete auf den Streifen in ihrem Gesicht.
Auch hier - schiefes Bild.
Tochter/Mutter/Vater, sie reden, als wüssten beide genau, um was es hier geht. Oh mann, wenn ich's nur besser in Worte fassen könnte. Vielleicht so: Ich empfinde beim Lesen eine Verbundenheit zwischen den beiden, die mich als Leser verwirrt, da ich von anderen Voraussetzungen ausgehe. Ich stelle mir vor, ich komme da zurück zu meinem Elternhaus, sehe in verhasstem Nachbarsgarten eine Frau, die der "Hexe" von damals gleicht, da erschrecke ich erstmal und würde NIEMALS das Gartentor öffnen.

Die Frau scherte sich nicht darum, behielt weiter meine Hand in ihrer und blinkte mich an mit ihrem Lampenlächeln. „Hmmm. Und jetzt?“, fragte sie. Dann ließ sie mich abrupt los.
Hat Raki schon erwähnt, würde ich auch umschreiben: „Hmmm. Und jetzt?“, fragte ich. Da ließ sie mich abrupt los.

„Ich habe die meiste Zeit woanders gelebt.“ Ihr Blick schweifte über die Blütenrabatten, als wollte er sich dort verhaken. „Meine Mutter hatte es hier nicht leicht. Manchmal ist Frankfurt wie eine Kleinstadt. Ja, lang her. Heute würde man vielleicht sagen, meine Mutter war eine Persönlichkeit.“ Sie hielt inne und sah mich direkt an. „Ich kannte Ihren Vater.“
„Da haben Sie mir einiges voraus.“
Und wieder lässt du mich als Leser aussen vor. Warum kannte sie den Lehmann, obwohl sie nicht hier aufgewachsen war?
Warum hat sie deiner Prota etwas voraus? Sie hat ihren Vater ja mal "gekannt".

Dann sagte sie, als fiele ihr plötzlich etwas ein: „Wollen Sie vielleicht hier übernachten? Ich habe noch Zimmer frei.“
Ich blickte unschlüssig auf meine Armbanduhr, tat so, als hätte ich viele Termine, dabei wusste ich noch nicht mal, wann ein Zug zurückfuhr. Ich zuckte mit den Schultern und stellte meine Tasche ab.
„Ach, ich weiß nicht. Obwohl, das wär was, eine Übernachtung im Haus der Flatter... “ Ich biss mir auf die Lippe. „Verzeihung.“
Ok, gut möglich, dass Anna deine Prota bereits in ihren Bann gezogen hat, aber warum kommen da so gar keine Zweifel auf? Warum soll sie hier gleich übernachten wollen? Besser fände ich erstmal 'ne Tasse Kaffe im Garten, sieht ja auch viel einladender aus, als damals.

„Ach so. Sie meinen Alja, die ist harmlos, wenn man davon absieht, dass sie zu viel frisst.“
"Ach so. Sie meinen ..." find ich hier etwas komisch.
Nur so als Idee: "Keine Angst, Alja ist völlig harmlos, na ja, vielleicht etwas verfressen."

Die Feder[n] klebten zusammen, grünliche Haut schimmerte hindurch, an der Brust war sie kahl, als hätte das Tier sich selbst die Federn ausgerupft.
WW

Das Tier wandte sich mit einer schlangenartigen Bewegung des Halses um, der Kopf ruckte zu mir herüber. Dann sah sie mich an.
Das wirkt irgendwie so um den Kopf rum übers Ohr direkt ins Knie.
Einfach: Das Tier warf den Kopf herum und starrte mich an.

„Es ist wirklich nur eine alte, kranke Gans.“ Sie lachte. „Manchmal furzt sie sogar.“
Ich blickte zu der Gans, die draußen im Garten in einem Sonnenfleck stand. Sie hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt.
„Furzen? Gänse können furzen?“
Das fand ich cool, hier behielt Anna die Zügel in der Hand, weckte wieder ihr Interesse. Gut.

„Ja,“ die Frau lachte, „mehr als genug. Neulich war ich mit ihr bei einem Heilpraktiker.“
„Ein Gänseheilpraktiker? Wie wird man denn sowas?“
„Man muss quaken können.“
Ich kicherte. Die Frau blickte mich rasch an und sah dann zum Himmel, spießte ihn auf mit ihrer kleinen, stupsigen Nase. „Ich heiße übrigens Anna. Und die Gans meiner Mutter war der Horror.“
„Ein Arschloch“, sagte ich. „Mit Federn.“
„Ja, ich hab sie immer George W. genannt, wenn ich hier war.“
„Wieso das denn?“
„Naja, nach Bush. Schien mir passend.“
„Und Alja ist dann Obama?“
Das hingegen war mir dann zu absurd und die Bush/Obama Allegorie etwas gar weit hergeholt.

„So in etwa. Im Ernst jetzt. Ich fand einfach die Idee hübsch, Gegenwart und Vergangenheit zu versöhnen. Deshalb hab ich die Gans.“
„Ja. Aber manchmal geht das nicht.“
„Warten wir es ab.“
Was war's nochmal, weswegen Anna Vergangenheit und Gegenwart versöhnen wollte? Da wäre ich als Prota stutzig, aber eben, der geheime Bann von tausend Lichtern ... *hrhr*

Der Zaun war immer noch da. Ein graubraun gebeiztes Ungetüm von einem Jägerzaun, einige Latten waren herausgebrochen.
Das begriff ich erst beim zweiten Mal Lesen, dass sie zum Elternhaus aufgebrochen war, da würde ich irgendwie vorher noch ein verbindendes Element einschieben. So quasi:
„Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“
„Ich weiss nicht, ich wollte eigentlich noch zu Vaters Haus hoch und es ist schon ziemlich spät ...“
„Wollen Sie vielleicht hier übernachten? Ich habe noch Zimmer frei.“
Irgendwie so was.

Und ab Kapitel 3 nimmt das Teil so richtig Fahrt auf, jawoll.

Ich hatte immer geglaubt, er hätte mich auch ausspucken wollen wie einen ausgefallenen Zahn.
Wenn ich die Augen ganz fest zusammenkniff, bis die Büsche hinter einem Schleier verschwammen, trat ein Mann aus den Blättern, unauffällig und gebückt, als wollte er kein Aufhebens von sich machen. Und dann sah ich das Gesicht meiner Mutter, wenn ich nach ihm fragte. Ihren verkrampften Mund und den Zeigefinger, der auf dem Tisch zitterte.
Vielleicht hatte er mich damals gar nicht vergessen, der Mann im weißen Unterhemd, sondern ich ihn. Für meine Mutter.
Sehr gut. Der späte Versuch, die von Mutters vergiftete Erinnerung an ihre Kindheit, das schiefe Bild wieder gerade zu rücken. Stark!

„Siehst du deiner Mutter eigentlich ähnlich?“
Komische Frage, ausser der Stupsnase hatte sie doch bereits die Ähnlichkeit erkannt?

„Dann müssen wir für dich eben was anderes finden.“ Anna strich eine Strähne aus dem Gesicht und blickte mich prüfend an. „Du willst zurück?“
„Ja. Aber ein bisschen Zeit habe ich noch.“
Dann zeig ich dir meine schönsten Blumen. Geh nur voraus, ganz hinten, wo der Garten ans Ried angrenzt, da wachsen sie. Ein paar schenke ich dir zum Abschied. Damit du wiederkommst.“
Das passt noch nicht so richtig.
"Aber erst musst du dir noch meine schönsten Blumen anschauen." irgendwie so.
Und warum schickt sie sie alleine vor, also ich würde fragen, 'kommst du nicht mit? Soll ich mir die selber pflücken, oder was?'
Idee: "Pflück dir ein paar, die dir gefallen, ich pass solange auf Alja auf."

Und ab hier gings dann in einem Rutsch durch, ich suche jetzt auch nix mehr heraus, lasse das Ende einfach so wirken, auch wenn ich jetzt ebenfalls - wie bereits von anderen erwähnt - keine Skizze vom Aufbau der Häckselmaschine anfertigen könnte. :D

Danke für diesen feinen Horrorhappen, sehr gern gelesen.
Liebe Grüsse, dot.

 

Liebe Novak,
es ist schon toll, dass du neben der vielen Zeit, die du für das Kommentieren aufwendest, dir auch noch die Zeit zum Produzieren von Geschichten nimmst.

Ich habe deine Geschichte mit Interesse gelesen, weil ich sehen wollte, wie du ein solches Genre bewältigst. Leider muss ich sagen, dass ich weder ein Fantasy- noch ein Horror-Geschichten-Leser bin. Das eine hörte bei mir mit Tolkien auf, das andere mit Roald Dahl.
Wohl deshalb fiel mir beim Lesen die Geschichte „Die Wirtin“ von Roald Dahl ein. Bei Dahl bleibt es bei der Andeutung, dass die Wirtin nicht nur ihre Haustiere, sondern auch ihre Gäste ausstopft. Dem Leser wird allmählich klar, wohin die Reise gehen könnte, ohne dass er miterlebt, was nun wirklich geschieht. Trotzdem – so ging es mir – bleibt er schockiert zurück.
Leider ging es mir beim Lesen deiner Horror-Geschichte nicht so. Obwohl du die Horrorsituation sehr genau, fast übergenau beschreibst, bin ich nicht schockiert, fast möchte ich sagen, dass das Geschehen mich kalt lässt.

Ich habe mich gefragt, warum das so ist. Vermutlich liegt es bei mir selber: Ich bin ein fürchterlicher Realist und kann mit Fantasy- und Horror-Geschichten wenig anfangen - außer sie sind sehr subtiler Natur. Die innere Verfasstheit von Menschen gibt m.M.n. oft mehr Anlass sich zu fürchten oder zu ängstigen als ein surreales oder irrationales Konstrukt.

Wie schon gesagt, kommt mir die Prot. nicht nahe, ich leide nicht mit ihr. Das mag auch daher kommen, dass ich ihre Motive nicht immer verstehe.

Am Anfang der Geschichte sagt die Prot.:

der hat mich vergessen. Jetzt vergess ich ihn
Kurze Zeit später dann
Dort stand das Haus meines Vaters. Einmal wollte ich es noch sehen.
Als psychologischen Endpunkt der Beziehung zum Vater kann ich mir das zwar vorstellen, aber trotzdem wirkt es dem Anfangssatz gegenüber gestellt eher widersprüchlich.

Wie ich überhaupt die Aussagen über den Vater nicht unbedingt als stimmig empfinde. Hat das Bild, das die Mutter von ihm zeichnete, wirklich verdecken können, wie sehr er sich in echter Gefahr für seine Tochter eingesetzt hat?

Dann hörte ich eine laute, kräftige Stimme, eine Gestalt schoss vorbei, und da war er. Mein Vater. Mit einem Besen schlug er nach der Gans, bis sie von mir abließ. Und dann warf er seine Jacke über ihren gemeinen Schlangenkopf, bis sie ruhig wurde. Zu mir sagte er: „Die hat nur Angst. Wenn Lebewesen Angst haben, sind sie manchmal gemein.“ Dann zog er seinen Pullover aus und legte ihn über meine Schultern. Und so liefen wir, mein Vater im Unterhemd und ich unter dem Pullover. Es war der, den er immer trug, wenn er was hermachen wollte. Aber es war ihm ganz egal, dass ich ihn vollblutete mit dem ganzen Zeug aus meinem Mund. Als wir im Haus waren, nahm er mich in den Arm und wiegte mich, bis das Weinen verstummte.

Das Thema der Beziehung der Prot. zu ihrem Vater reißt du an, ohne es zu verfolgen. Ich frage mich, welchen Stellenwert hat es in deiner Geschichte, bzw. welchen Bezug hat es zur eigentlichen Handlung. (Außer natürlich, dass sie nun allein ist.)

Auch am Ende geht es mir wie Raki. Ich suche nach der Logik im Verhalten der Prot.
Am Anfang ist klar, warum sie der Gans folgt: Sie will zurück und hofft, die Gans zeigt ihr den Weg. Aber dann wird mir immer unklarer, warum sie sich der immer bedrohlicher werdenden Situation aussetzt.


Wo war die Gans? Ich musste das Vieh hier wegholen
Ich tastete mich hin, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, hoffte, dass sie nicht zuschnappte
Vielleicht konnte ich sie wieder hochziehen? Unter mir mahlte es, die Schneidmesser pressten stinkende Luft nach oben.
Warum geht sie in das Gebäude, klettert der Gans hinterher und begibt sich in immer hoffnungslosere Situation? Ich kann keinen inneren oder äußeren Zwang erkennen. Oder habe ich etwas übersehen?

Sprachlich habe ich vieles gefunden, was mir gut gefallen hat

Ein braunschillerndes Geschoss mit einer dunklen Maske, aus deren Mitte senfgelbe Augen zielten.
Und dabei witterte sie in meine Richtung, sog die Luft zwischen uns ein in schnellen, heiser bellenden Atemzügen

Und viele andere Stellen mehr.
Die machten für mich das Lesen lesenswert.

Liebe Grüße
barnhelm


Ps:

Die Federn klebten zusammen,

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe RinaWu,
ganz herzlichen Dank für deinen Kommentar. Das ist toll, dass es dir gefiel und ganz besonders stolz war ich, weil du auch gerne Horror liest. Es ist manchmal gar nicht so leicht, jemanden mitzuziehen, der mit Horror vertraut ist. Die Horror-Kerlchen kennen einfach schon zu viel. Manchmal denke ich auch, dass Horrorgeschichten irgendwie immer ähnlich enden. Als ob es dafür bestimmte Muster gäbe. Und vielleicht macht das den Horror auch ein bisschen eingleisig auf die Dauer.

Wie du mir bei meiner Geschichte schon geschrieben hast, kann man auf Einstiege durch eine Wetterbeschreibung durchaus verzichten, was du hiermit zeigst :)
:D
Hihi, das mochte ich. Das klingt so schön, als müsste man eigentlich immer mit dem Wetter anfangen.
Und was meinen Beginn hier betrifft, ich mag den auch, und er fängt noch nicht mal mit dem Wetter an! :D
Aber auch das gefällt nicht jedem. Ist einfach so.

Ich mag die Art, wie du schreibst. Sehr klar, keine kompliziert verschachtelten Sätze. Hier finde ich es ein wenig zu abgehackt:
Dein Satz klingt eleganter und auch ein bisschen verschachtelter. Hab mal beide Versionen verglichen und bevorzuge trotzdem meine. Grund kann ich dir gar nicht so genau sagen, außer dass das Pflanzengewirr in deinem Satz eine andere Rolle einnimmt. Vielleicht liegts grad an einer Phase bei mir. Kann auch sein, dass es sich nach einer Zeit grad wieder ändert und mir der Satz dann auch zu abgehackt wirkt. Hier mocht ich es, weil der Satz ihrer Blickrichtung folgt.

Sehr gefreut hab ich mich über die Stellen, die dir positiv aufgefallen sind. Ich finde das immer wichtig, das zu zeigen, nicht nur aus Motivationsgründen, sondern es ist auch wichtig Rückmeldungen darüber zu kriegen, welche Textstellen klappen und Leser durch den Text tragen.
Auch über deine Bemerkungen zum Dialog war ich unglaublich froh. Ich schreib zwar ausgesprochen gerne Dialoge, aber was dann beim Leser ankommt ist wieder eine ganz andere Frage. Und meine Schreibkumpels hier haben auch schon mit mir ziemlich gemeckert, weil ich blöde Dialoge geschrieben habe.

Anna wirkt auf mich von Anfang an geheimnisvoll - aber auf unangenehme Weise. Vor allem der Satz hat dann endgültig etwas Unangenehmes in mir hervorgerufen, was ich gar nicht so wirklich erklären kann. Wie du diese Stimmung erzeugst, ist gekonnt.
Also dass ich diese Stimmung hervorrufen konnte, find ich natürlich gut, aber eigentlich sollte sie nicht von Anfang an so schlimm wirken. Sondern eigentlich eher ein bisschen komisch oder frech mit ihren Haarwirbeln und dem Lächeln. Jetzt bin ich grad am Überlegen, ob ich es vielleicht zu sehr übertrieben habe. Ich wollte die grad nicht so ganz eindeutig eklig böse machen. Der Leser soll mehr fürchten und ahnen, als das die Protagonistin tut. Aber dazu darf die dann auch nicht gleich abgrundtief übel sein.

Eine Kleinigkeit: Fehlt hier nicht ein Wort? Ein "auf" oder "empor"?
Ja, ich wusste es doch. Ich hab es hingeschreiben, wieder weggelöscht, wieder hingeschrieben, und die ganze Runde noch einmal. Eigentlich fehlt eine Präposition. Aber für mein Gefühl hätte das den Satzrhythmus gestört. Also ich denke ich füg die Präposition wieder ein. ist ja schließlich hier kein Gedicht, wo man die Sprache einfach so auseinanderbrechen kann.

Hier: Würde ich eher "Schmerz durchfuhr mich wie ein Schwall glühendes Öl, das einem das Auge wegbrennt" oder so ähnlich schreiben.
Mach ich. Deins ist viel besser. Danke für die Hilfe.

Und deine letzten Sätze? Na die hänge ich mir zuhause auf. Das hat mich echt gefreut, dass dir das spannend vorkam.

Hey RinaWu, vielen vielen Dank für deine Hilfe, für dein aufmerksames und genaues Lesen. Für Lob und Kritik.
Ich freu mich total einen alten Horrorfilm-Fan mitgenommen zu haben, das ist schon was Besonderes.
Liebe Grüße von Novak.

 

Hallo Novak,

Als Thema deiner Geschichte lässt sich der Todestrieb ausmachen, und zwar schon gleich hier, am Anfang:

„der hat mich vergessen. Jetzt vergess ich ihn.“ Hastig fuhr ich mit dem Taschentuch an meinen Mund und sah zu den Trauergästen hinüber, ein paar alte Männer, die auf den Sarg meines Vaters starrten, als wollten sie Probe liegen. Erde rieselte.

"Jetzt vergess ich ihn." - Trotzig gibt sie sich den Befehl, ihn zu vergessen. Allzu trotzig. In Wirklichkeit hängt die verwaiste Tochter, die jetzt mutterseelenallein ist, so sehr an ihrem Vater, dass sie ihn am liebsten in die Unterwelt begleiten würde, also auch sterben würde. Solche Wünsche muss man natürlich verdrängen. Der Todeswunsch ist dadurch aber nicht weg, sondern im Unterbewusstsein, aus dem heraus er wirkt, deshalb kommt ihr dieser Gedanke in den Sinn:

ein paar alte Männer, die auf den Sarg meines Vaters starrten, als wollten sie Probe liegen

Es ist deine Ich-Erzählerin selbst, die ihren Vater in den Hades, ins Reich der Schatten begleiten möchte, doch diesen verbotenen und lebensgefährlichen Wunsch projiziert sie auf Trauergäste.

Verdrängte gefährliche Wünsche verkörpern sich gerne in einer dämonischen Gestalt, die Angst einjagt und zugleich verführerisch wirkt. Solch eine dämonische Gestalt ist Anna, eine Art femme fatale, verführerischer Todesengel, als Archetypus Muttergöttin, Vegetationsgöttin, Verkörperung der Mutter Natur, in deren Schoß die verwaiste Tochter eingehen möchte. Als Naturgöttin, Vegetationsgöttin sind ihr Pflanzen zugeordnet, zum Beispiel der Blick, der einem verführerisch kitzelndem Grashalm gleicht. Der Todesengel erinnert wegen seiner Kleidung an einen Monteur, und auch das ist symbolisch: Ein Monteur schraubt seine Objekte auseinander, zerlegt sie - und das gehört ja zum Sterben: dass ein Körper sich in die Natur auflöst - daher so oft das Motiv der Zerstückelung: Anna schraubt ja den Zeigefinger der Sterbewilligen aus seinem Gelenk -deine gute Schilderung des Aufgelöstwerdens bei der Rückkehr in die Natur erinnert mich an Rilke, der über die gestorbene und ins Totenreich herabgestiegene Eurydike dichtet:

sie war schon aufgelöst wie langes Haar
und hingegeben wie gefallner Regen
und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat.

Sie war schon Wurzel.


Deine verwaiste Ich-Erzählerin hat keinen Orpheus, der sie zurückholen wollte.

Grüße gerthans

 

Und hier gehts weiter. Leider immer nur Stückchen für Stückchen, aber ich antworte gerne genau und das kostet Zeit.


Hallo dot,

gut, dass du auch Pflanzengrabscher Horror magst, und klar, manchmal interessiert einen gerade das, was neben dem Alltag lauert. Wer weiß, was sich alles in unseren Staubsaugern befindet, wenn wir nur mal den Mut hätten, ihn nachts bei Kerzenschein zu öffnen.
Gut, dass dir die Geschichte gefallen hat. Bist ja selbst ein Horrofan und da fühlt man sich denn auch gut aufgehoben.
Und über das Meckern bin ich immer ganz froh, denn es bringt einen weiter. Und du hast ja wirklich sehr genau und gründlich geguckt. Und mir eine Menge Denkstoff gegeben. Darüber bin ich froh und dankbar. Ulkgerweise sind das eher Stellen, die ich gar nicht erwartet hätte, hatte an ganz andere Schwierigkeiten gedacht.

Dann fang ich mal an.

Ich weiß noch nicht genau, ob ich deine Kritik an dem Einstieg verstehe und nachvollziehen kann. Also speziell die Beerdigungsszene. Für meine Begriffe muss die sein, weil neben der Verfolgungsjagd im Garten mit ihrem Ende ja auch die Beziehung zu dem Vater eine Rolle spielt. Und der Tod des Vaters ist nicht nur der Grund für ihr Eintreffen, sondern auch der Grund ihrer Verletzlichkeit und Angreifbarkeit. So stellte ich mir das zumindest vor.
Also ich hab dich nicht so verstanden, dass du die Sachen mit dem Vater raushaben willst, sondern nur die Beerdigung selbst. Oder? Ja, nee, ich finde immer noch, die Szene braucht es, um ihre eigenartige Stellung zu dem Vater zu kennzeichnen. Aber, dot, du hast den Zweifel bereits eingepflanzt. Jetzt waberts eine Weile.

Deine Prota wächst bei ihrer Mutter auf, nachdem dieser die Mutter mit seinen Frauengeschichten aus dem Haus vertrieben hat, richtig? Gemäss Rückblende aber zieht die Mama ihr Kind auf und - jeweils am Garten des Grauens vorbei - in die Schule.
Wieso ist das Bild schief? Die Prota kann doch bei beiden Eltern wohnen, bis sie 10 oder 11 oder 12 ist oder auch nur 8 Jahre und da geht man doch auch schon in die Schule. Und dann kann die Mutter doch immer noch abhauen und ihrer Tochter gegenüber behaupten, der Vater wolle nichts mehr von beiden wissen.

Dann kommt es zum Treffen mit der fremden blonden Frau, die auf deine Prota eine magische Anziehungskraft zu haben scheint, und das gestaltet sich meiner Meinung nach etwas hölzern.
Wieso? Aber ich glaub, du hast das bei der Detailarbeit genauer aufgeschlüsselt. Oder?

Anna ist nicht hier aufgewachsen und trotzdem kennt sie den Vater deiner Prota.
Das verstehe ich auch nicht. Immerhin führt diese Anna eine Pension in der Nähe des Hauses, in dem der Vater lebte. Wieso sollen sie sich denn da nicht kennen? Der Vater ist vielleicht eine Woche vor der Beerdigungsszene gestorben, wie lange Anna die Pension bereits führt, steht nicht im Text, aber wenn der Garten eingerichtet ist, das Pensionsschild am Eingang hängt, wird das schon seit zwei drei Jahren laufen oder länger. Also hat Anna genügend Zeit gehabt, den Vater kennenzulernen. Außerdem ist sie auch als Kind immer wieder zu Besuch gewesen.

Mir scheint sowieso, die Geschichte spielt ihre Stärke erst im hinteren Teil aus, bis hin zum Showdown und dem coolen Schlussbogen. Dort hast du meiner Meinung nach viel Herzblut reingesteckt.
Ooh, Herzblut steckt überall drin. Aber der hintere Teil (jedenfalls bestimmte Passagen) hat mich echt Mühe gekostet.

Als ich aufschaute, den Baum betrachtete, von dem die dickkolbigen Blüten stammten, das dichte Pflanzengewirr, da erkannte ich den Garten wieder.
Hier dachte ich, der Garten gehöre zum Elternhaus.
Alles klar, da gucke ich. In der allerersten Fassung hatte ich stehen: da erkannte ich den Garten wieder. Der Garten der Gänsefrau. Wegen Melodramaverdacht hab ich das dann rausgeschmissen. Jetzt werd ich wieder unsicher.

Die Wortdoppler mache ich natürlich raus. Sowohl beim Winter als auch später noch mal, z. B. Bei den „unds“. Du weißt ja noch von der allerersten geschichte hier, dass ich „unds“ liebe.

Mein Kindergrauen war ein kitschiges Blütenparadies.
'war heute', oder 'Blütenparadies geworden', jedenfalls fehlt für mein Leseempfinden da ein Wort.
Okay

Mitten in dem Weinblattgrün, das vom Vordach in den Eingang hineinrankte, saß eine Gestalt. Sie trug einen dunkelgrünen Monteursanzug und blickte nach unten auf einen Laptop.
WW - und für mich ist die Monteurkluft immer blau.
Was hat das Laptop hier für eine Bedeutung? Und für den folgenden Dreckstreifen hätte ich sie hier besser Pflanzen eintopfen lassen.
Nee, mein Monteursanzug ist auch grün. :) Aber hast Recht, ich nehm ne andere Farbe, dann vermeide ich die Doppelfarbnennung und lass die Anna für den Dreckstreifen vielleicht rumtopfen. Ich fand den Laptop gut, weil sie ja auch vermietet. Ich wollte halt beides gleichzeitig ausdrücken.

Eine Frisur wie eine durchgeknallte Pelzkappe.
Nee, bei der Pelzkappe bin ich noch störrisch. Die liebe ich. Und jetzt komm mir bitte nicht mit den darlings. :D Es gibt Lieblingsdarlings, für die gelten spezielle Regeln.

Das fand ich etwas holprig, wie sie da in den Garten platzt und Anna gleich die Hand ausstreckt. Aber dann doch fragt: "Wollen Sie zu mir?"
Naja, ich glaub ich verstehe, was du meinst. Aber mir gefällt an der Anna gerade dieses Merkwürdige. Sie verhält sich widersprüchlich. Anders, als man das erwartet. Und das zieht die Protagonistin ja auch an. Also da kommen wir glaube ich einfach nicht zusammen. Auch was die Stupsnase oder die Kriegsbemalung betrifft, wenn es um die andere Frau geht.

Vielleicht so: Ich empfinde beim Lesen eine Verbundenheit zwischen den beiden, die mich als Leser verwirrt, da ich von anderen Voraussetzungen ausgehe. Ich stelle mir vor, ich komme da zurück zu meinem Elternhaus, sehe in verhasstem Nachbarsgarten eine Frau, die der "Hexe" von damals gleicht, da erschrecke ich erstmal und würde NIEMALS das Gartentor öffnen.
Das allerdings verstehe ich. Vielleicht sollte ich im Text noch etwas dazufügen, was die widersprüchlichen Aktionen irgendwie verständlicher macht. Also die Frau meint ja eigentlich sie will ganz unbedingt de Vater vergessen und mit ihrer Vergangeheit abschließen und dann wird sie von vielen Erinnerungen eingeholt. Da gibt es in ihr auch einen Kitzel, diese Situation auszukosten, in sie reinzugehen. Abenteuerlust? Faszination an einer ungewöhnlichen Szenerie? Faszination auf ihre Vergangenheit? Also in komischen Situationen seines Lebens macht man manchmal Sachen, die man normalerweise nie tun würde. Darauf soll das raus, darum ging es mir. Ich schau einfach noch mal, ob ich mir etwas einfallen lassen kann, was diese merkwürdige Lust in der Protagonistin besser verständlich macht. Denn wenn das nicht genügend zum Ausdruck kommt und nicht verständlich wird, dann muss ich halt nacharbeiten.

Hat Raki schon erwähnt, würde ich auch umschreiben: „Hmmm. Und jetzt?“, fragte ich. Da ließ sie mich abrupt los.
Nee, das soll die Anna sagen. Ich hab mich da ja nicht vertan. Das hab ich schon ganz bewusst gesetzt. Die soll ja mit diesen einerseits auffordernden Sachen und andererseits dem plötzlichen Loslassen die Protagonistin aufmerksam machen, sie an ihr interessieren. Wenn die Anna einfach nur ein normales Auftreten hätte, wer weiß, ob die Prota sich davon angesprochen fühlen würde. Darum ging es mir, daher bleibt diese spezielle Stelle auch so, wie ich sie geschrieben hatte, denn eure Änderung würde die Sache in eine Richtung verschieben, die ich nicht wollte, in die Richtung herkömmliches Verhalten. Trotzdem gucke ich, was ich drumrum ändern kann, damit diese für euch komische Stelle nachvollziehbarer wird. Denn eure Irritation sagt mir ja, dass meine Absicht da offensichtlich nicht so durchgedrungen ist. Ich muss einfach mal ein bisschen drüber schlafen, nachdenken, woran das liegt, dass das nicht ankommt, was ich da schief gebaut habe und ob was fehlt oder so. Wie ich das mache oder was, das weiß ich jetzt selbst noch nicht. Ich hatte mit anderen Schwierigkeiten gerechnet, gar nicht mit dieser.

Und wieder lässt du mich als Leser aussen vor. Warum kannte sie den Lehmann, obwohl sie nicht hier aufgewachsen war?
Aber dot, das verstehe ich echt nicht. Die wohnten quasi fast nebeneinander. Die Anna und der Vater. Das waren Nachbarn. Die eine führt eine Pension. Der andere wohnte in einem Haus direkt in der Nachbarschaft. Von daher kann man sich doch schon mal kennen. Und es gibt auch eine Stelle im Text, dass die Anna zu ihrer Mutter zu Besuch kam. Und es gibt auch Andeutungen, dass der Vater mit der Mutter was am Laufen hatte. Warum sonst sollte die Mutter die Frau in den Flattergewändern als Hure beschimpfen. Also der Text verrät nicht, ob das genau so war, aber das muss er auch nicht, finde ich, die Hauptsache, die Andeutung wird gemacht. Lehmann und Anna hätten sich außer aus der Nachbarschaft also auch auf diesem Wege noch kennen können. Der Text macht diese 2. Möglichkeit wahrscheinlich. Selbst wenn der Vater mit der Flatterkuh nichts hatte, er war wohl freundlich zu ihr und das hat die Mutter so furchtbar aufgebracht. Das heißt, er kann auch die Tochter bei ihren Besuchen kennen gelernt haben. Und die Anna spielt ja ihre Kenntnis, ihr Wissen um den Vater hier aus. Das ist ja gerade der Anreiz, mit dem sie die Icherzählerin anlockt.
Ich weiß jetzt einfach nicht, ob du die Stellen überlesen hast oder ob ich liebr nochmal nachlegen soll, die Andeutungen verstärken sollte.

Die Doppelfedern entrupfe ich natürlich. Nur die Halsbewegung finde ich bei mir gänsischer.

Was war's nochmal, weswegen Anna Vergangenheit und Gegenwart versöhnen wollte? Da wäre ich als Prota stutzig, aber eben, der geheime Bann von tausend Lichtern ... *hrhr*
Ja, ich bin ja schon am Überlegen, ob ich den Satz rausschmeiße. Er ist ja doppeldeutig. Er sagt einfach nur von einer Frau zur anderen, dass Rückkehr an den Geburtsort/Sterben der Eltern manchmal die Geschehnisse etwas verrücken. Man sieht Dinge danach oft anders. Vielleicht versöhnlicher. Das ist gemeint, wenn die Anna da spricht. Es hat natürlich noch die Bedeutung auf die Zukunft hin, und leider wird nur die wahrgenommen. Hmm dagibt es jetzt zwei Möglichkeiten, entweder ich betone es mehr, dass Anna für die Prota die Möglichkeit bietet, an einen vergessenen, verdrängten Teil ihrer Kindheit anzudocken, was eigentlich in meiner Intention lag. Oder ich lasse den Satz weg. Mal schauen.

Der Zaun war immer noch da. Ein graubraun gebeiztes Ungetüm von einem Jägerzaun, einige Latten waren herausgebrochen.
Das begriff ich erst beim zweiten Mal Lesen, dass sie zum Elternhaus aufgebrochen war, da würde ich irgendwie vorher noch ein verbindendes Element einschieben
.
Da guck ich nach. Hast wohl Recht. Ich dachte, der Abschnitt würde anzeigen, dass hier Orts- bzw. Zeitwechsel ist. Hmm. Aber mir fällt bestimmt was ein oder ich mach es so wie du gesagt hast. Ich bin so ein bisschen unschlüssig. Denn in einem Abschnitt vorher ist schon die Rede von diesem Zaun. Und da bezieht der Zaun sich auf das Grundstück des Vaters. Ja, ach Mensch, eigentlich hätt ich gedacht, dass das reichen muss und dann auch noch der Absatzwechsel.

„Siehst du deiner Mutter eigentlich ähnlich?“
Komische Frage, ausser der Stupsnase hatte sie doch bereits die Ähnlichkeit erkannt?
Schiet aber auch. Ich habs schon geändert, das sollte natürlich „bist du“ heißen. Ich weiß selbst nicht, warum ich das immer übersehen habe.

Dann müssen wir für dich eben was anderes finden.“ Anna strich eine Strähne aus dem Gesicht und blickte mich prüfend an. „Du willst zurück?“
„Ja. Aber ein bisschen Zeit habe ich noch.“
Bei dieser Stelle würd ich deinen Überarbeitungsvorschlag gern so ähnlich übernehmen. Okay?

Ach dot, wie immer tausen Dank für deine minutiöse Arbeit, für die viele Zeit, ich weiß ja, wie ewig Komms dauern, für die Vorschläge, die Hinweise, das Lob. Für das Dalassen deiner Gedanken und überhaupt für das Lesen. Ich glaub fast, das ist heutzutage auf unserer Seite gar nicht mehr so einfach, tatsächlich gelesen zu werden, selbst wenn man oft hier ist und kommentiert, die Geschichten rutschen durch wie nichts. Daher bin ich umso dankbarer.
Ich wünsch dir was, mein Lieber.

 
Zuletzt bearbeitet:

Novak, Novak! Nach den furchtbaren Fröschen nun die Gans des Grauens! Was kommt als nächstes? Die Rache der Rosenkäfer? Das Haselmausmassaker?

Jedenfalls hast du mir da ein einigermaßen ambivalentes Leseerlebnis beschert. Einerseits fand ich die Geschichte sprachlich überwiegend wirklich großartig, andererseits stand ich gegen Ende verständnismäßig immer mehr neben den Schuhen.

Sie scheuchte das Tier in den Garten hinaus.
[…] Ich blickte zu der Gans, die draußen im Garten in einem Sonnenfleck stand.
[…] Ich kicherte. Die Frau blickte mich rasch an und sah dann zum Himmel,
Ich dachte, die zwei seien noch im Haus?
Wobei das ja eher vernachlässigbar ist.
Wirklich schwierig wurde es für mich ab hier:

„Dann zeig ich dir meine schönsten Blumen. Geh nur voraus, ganz hinten, wo der Garten ans Ried angrenzt, da wachsen sie. Ein paar schenke ich dir zum Abschied. Damit du wiederkommst.“

5.
Die steinerne Bank stand inmitten von Kaskadensträuchern.


Bis hierher war mir alles klar. Die Bank stellte ich mir in der letzten Ecke von Annas (verwildertem) Garten vor.

Wenn Anna nicht kam, ging ich eben alleine zurück. Wo war der Weg? Die Blattvorhänge rings um die Bank sahen gleich aus, von einem Pfad keine Spur. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse, ja, auf dem Herweg war ich auf die Bank zugekommen, ich schob die Zweige zur Seite und ging los.
[…]
Blätter klatschten mir ins Gesicht, aber ich ließ die Gans nicht aus den Augen, irgendwann würde sie mich zum Haus zurückführen, hoffentlich, denn hier gab es nichts mehr, nur Holz und Grün …
[…] Es war so lächerlich, ich hatte mich komplett verirrt.
Das gibt’s doch nicht, dachte ich mir da. Die kann sich doch nicht binnen weniger Minuten in einem Garten verirren, ich mein, wie groß ist denn der? Ist der tatsächlich ein undurchdringlicher Dschungel? Kann sie sich nicht einmal an der Sonne orientieren?
Und dann das:

Okay, das hier war das Ried, ein Naturschutzgebiet,
Moooment, dachte ich hier. Wieso ist die plötzlich im Ried?
Ab dieser Stelle war‘s echt vorbei mit meinem Verständnis der topographischen Gegebenheiten, und so was nervt mich beim Lesen halt, also wenn ich plötzlich merke, ich hab mir bis jetzt offenbar ein vollkommen falsches Bild des Schauplatzes gemacht. Da hab ich dann noch mal hochgescrollt und tatsächlich das gefunden:

Das Haus stand inmitten einer Reihe alter Gebäude, ein schmaler Zipfel Stadt, der sich in das Enkheimer Ried hineinzwängte. Nur ein gepflasterter Weg trennte die Häuser vom Naturschutzgebiet.
[…] Ich streckte mich, um das Haus schneller zu entdecken,
[…] da erkannte ich den Garten wieder.
[…] Nein, im Sommer lief ich nie direkt an dem Garten entlang. Ich drückte mich auf der anderen Wegseite vorbei, eng gepresst an den Zaun des Rieds,

Bevor sie ihr Elternhaus erreicht, kommt die Protagonistin am Gänsehaus vorbei, dieses kann also nicht das letzte in der „Reihe alter Gebäude“ sein, also kann auch der Garten nicht ans Ried grenzen. Allerhöchstens mit seinem hinteren Ende. Aber dann wäre doch immer noch ein Zaun zwischen Garten und Naturschutzgebiet, oder nicht? Hm. Also was ich sagen will, einerseits beschreibst du gerade diese Szene besonders eindrücklich, das ist wirklich toll, dieser wuchernde Wahnsinn, die lauernden Lianen, diese quasi amoklaufende Botanik, all das Gekräuche und Gefläuche,

Wenn ich stehen blieb, stoben Mücken auf, umhüllten mich wie eine summender Mantel, drangen in Mund und Nase.
(ich fühlte mich tatsächlich an T.C. Boyle erinnert)
aber ich als Leser weiß einfach nicht, wo die Erzählerin da jetzt wirklich ist. Im Garten? Im Ried? Das mag jetzt kleingeistig klingen, aber mich nervt so was einfach.
Und das fand ich eben schade, weil sprachlich hattest du mich ja echt am Wickel.


hinein in eine Schwärze, die stofflich schien. Als ich stolperte und gegen die Wand prallte, entflammte ein Lichtschein.
Das ist mir auch zu missverständlich. Was passiert da? Knallt sie mit dem Kopf gegen die Wand und sieht sozusagen Sternchen? Oder geht wirklich ein Licht an?

Vor mir ragte ein Metallkolben, an seiner Vorderseite führte eine Wendeltreppe zu einer Plattform hoch, auf der Rückseite stand ein Behälter, der durch ein Rohr mit dem Kolben verbunden war. Gelbliche Brühe schwappte in dem Trog und auf dem Boden. Mitten in der Lache wuchs ein Teppich leberfarbener Blümchen. Es stank faulig.

Auch wieder so eine Stelle. Ganz toll geschrieben, aber ich hab leider null Ahnung, wovon du mir erzählst, was ich mir da vorstellen soll.
Was meinst du mit Metallkolben? An dessen Vorderseite eine Wendeltreppe hochführt? Hä? Soll ich mir da so eine Art großen Zylinder vorstellen, einen runden Tank? Wie groß? Und wie kann sie gleichzeitig auf der Rückseite, also dahinter, den Behälter sehen?

Die Plattform war nicht groß, vielleicht vier Meter im Durchmesser, in ihrer Mitte ein großes Loch, abgetrennt durch ein zweites, halbhohes Geländer.
[…] der über dem dunklen Schacht drohte, bis sie in sich zusammensackte und seltsam verrenkt nach unten schlitterte.
Verdammt, ich kapiers einfach nicht. Das Loch ist kein Loch sondern ein Schacht, und der Schacht ist offenbar schräg? Sonst könnte die Gans ja nicht schlittern, oder?

Das Licht flackerte,
Okay, es gibt also tatsächlich eine Beleuchtung, zumindest das ist mir jetzt klar.

Mit Wucht krachte sie in meinen Rücken, krallte sich fest und peitschte die Flügel gegen meinen Kopf. Meine Nase blutete, ich bekam kaum Luft, sie klebte an mir wie eine hungrige Harpyie, zerriss die Haut an meinem Rücken und stieß den Schnabel in den Hals, den Nacken, die Schultern. Ich wand mich, trat nach ihr, sie verbiss sich in den Schenkel, zerrte an dem weichen Fleisch und drosch weiter auf mich ein, bis ich den Halt verlor und mit den Beinen voran in den Schacht knallte. Der Ruck zerrte an meinen Handgelenken, doch ich hielt, zog die Knie an, fand einen Vorsprung in der Wand und drückte mich nach oben. Halb ragte ich aus dem Loch, lauschte in die Dunkelheit, um die Gans zu orten. Ein Zischen von der Seite und dann der Hieb. Direkt ins Auge. Schmerz zuckte wie ein Schwall glühendes Öl, das dein Auge zu einem Loch ausbrennt. Ich trat um mich, etwas schlug gegen meinen Fuß, bremste, und dann spürte ich, wie das Gelenk verbogen wurde, als sei es aus Gummi, Schmerz durchschoss mich, eine gleißende Welle, die meinen Körper überrollte und Flüssigkeit in meinen Mund trieb. Als ich die Augen öffnete, war das Licht wieder an. Direkt vor mir, auf der anderen Seite des Geländers, kauerte die Gans, ich sah sie nur durch einen Schleier von Blut, ihre Augen, die rosa Zunge, die wie ein dicker Wurm aus ihrem geöffneten Schnabel stak. Dann senkte sie ganz langsam den Kopf und schälte einen Streifen Haut von meiner Hand, einen rohen, brennenden Streifen, fast zärtlich schälte sie und so leicht, als zöge sie die Haut von einer gekochten Kartoffel.
Ganz, ganz toll geschrieben diese Szene, Novak. Aber soll ich dir was sagen?
An dieser Stelle – ich hatte nicht runtergescrollt und wusste deshalb nicht, wie lang die Geschichte noch geht – also an dieser Stelle war ich mir sicher, die Erzählerin ist auf der Steinbank eingeschlafen und träumt das alles nur, einfach weil mir die Szene dermaßen bizarr erschien. Eine Gans mit Krallen? Haut, die sich einfach so abziehen lässt?
Aber dann kam eh schon das Ende, nix Traum also.

Wie gesagt, ein tolles Leseerlebnis, Novak auch wenn ich nicht alles kapiert hab.
Was ich mir sonst noch so zur Geschichte gedacht hab? Also das Ende verstehe ich so, dass die Erzählerin quasi per Seelenwanderung in der Gans fortlebt.
Und der Vater der Erzählerin hatte vermutlich auch eine Affäre mit der Mutter von Anna. Und vermutlich weiß das die Anna. Was das für die Geschichte bedeutet, weiß ich allerdings nicht. Aber ich hab’s mir halt so vorgestellt.

Noch ein bisschen Kleinscheiß:

Selbst mitten am Tag hatte es mich gegraust, wenn ich an ihm vorbei zur Schule rannte.
Grausen hat für mich die Bedeutung von ekeln. Wäre da nicht gegruselt passender?

Unter Annas Fingernägeln staken schwarze Dreckhalbmonde.
die rosa Zunge, die wie ein dicker Wurm aus ihrem geöffneten Schnabel stak.
Das ist ein wunderhübsches Wort. Aber ehrlich, Novak, ich kenne es einfach nicht. Ich mein, die Bedeutung glaube ich zu verstehen, aber ich hab keine Ahnung, von welchem Verb sich das ableitet. Ist das gar eine endemisch Frankfurter Präteritumform von stecken?


Mein Resümee: Stilistisch ist die Geschichte wirklich beeindruckend geschrieben, aber gleichzeitig gibt’s auch sehr viele missverständliche und ungenaue Beschreibungen. Also auf eine von dir verfasste Bedienungsanleitung für einen Gartenhäcksler möchte ich nicht unbedingt angewiesen sein. :D


offshore

 

Also auf eine von dir verfasste Bedienungsanleitung für einen Gartenhäcksler möchte ich nicht unbedingt angewiesen sein.
Hihi, genau das waren die Schwierigkeiten, die ich befürchtet hab. Wie cool.
Ich hab ewig an dieser Scheißhäckselmaschine gesessen. Und wusste genau, das darf keiner so genau nachlesen. Ich kann das einfach nicht. Vielleicht sollte ich ein Bild dazu zeichnen?

Meine nächste story könnte übrigens von Insekten handeln. Kakerlaken genau genommen.
Also mehr so: Die Apokalypse des Kaker.
Freust du dich schon?
Ich wusste es.
Das Novak

 

Novak schrieb:
ich antworte gerne genau

Na komm, Novak, und mir hast du nicht mehr zu sagen?
Vor allem eine Erklärung zu "staken" hätte mich wirklich interessiert.

:Pfeif:

 

Uahh, ich glaub, hier gespensterts, grad wollt ich den Doppelpost von dir wegmachen. Und ... wo is er jetzt?

Also: Natürlich antworte ich dir noch genauer. :baddevil:
Aber erst mal kommen barnhelm und gerthans. Dir wollte ich nur mal einen Kurzgruß rüberschmeißen.
Das stak hatte ich vergessen. Wusste ich doch, dass dich als den Meister des Stiebens sowas interessiert.
Also stak kommt von stecken. Ist Vergangenheitsform. Und wenn man es intransitiv gebraucht, also in dem Sinne, dass etwas in etwas anderes eingefügt ist und von dort heraussteckt, dann darf man auch stak sagen. Kannst du auch googeln. Moment ich such mal schnell was:
Also hier:
http://de.wiktionary.org/wiki/stecken

Also von wegen endemisch, mein Lieber. Endemisch sind einzig meine Füß.

Aber im Ernst jetzt, natürlich kriegst du noch eine genaue Antwort.
Ich bin ja echt froh, dass du dich so beschwerst, weil das waren halt auch meine Bedenken, kommt das raus, wie das mit dem Garten und dem Naturschutzgebiet war, wird die Häckselmaschine deutlich? Und jetzt weiß ich, dass das nicht nur ein dummes Gefühl war, sondern ein richtiges.
Ich merke im Moment sehr deutlich, dass ich einerseits ganz furchtbar übergenau beim Schreiben bin und dann wirds leicht auch mal langatmig. Und dann auf der anderen Seite fehlt mir wohl noch das Auge, zu sehen, wo mehr Genauigkeit angebracht wäre.
Liebe Grüße

 

Novak schrieb:
Also: Natürlich antworte ich dir noch genauer.
Aber erst mal kommen barnhelm und gerthans.

Sorry, Novak, ich wollte nicht lästig sein. Ich hab einfach übersehen, dass da noch andere in der Warteschleife vor mir sind.
Das "staken" glaub ich dir jetzt einfach, auch wenn ich's nicht gegooglet hab. Dafür hab ich das Frankfurter Ried gegooglet. Das scheint ja ein ähnliches Naturparadies zu sein, wie die Lobau in Wien.

Ganz lieben Gruß an die Gans.

 

Sie winkte mir

Glaubstu, ich könnt Dich übersehn,

meine lieb(st)e Horrorqueen,

aber die Novakowskys hierorts können bezeugen, dass ich zum Probeliegen ging, wenn ich keineswegs einen Friedel-, aber immerhin einen Fried-/Kirchhof besuchte. I. d. R. die schönsten Parkanlagen vor Ort! Und dann „schlieren“ Gesichter vorbei und ich denk, dat is doch nix Häszi:sches – oder fährt Hessen neuerdings zur See? Irgendwann war’s ja mal so, dass NY, Pearl Jam, Du und ich dem Wellenschlag des Shanties folgten … Verdampt lang her!

Und dann kommt das Ried … Und dann wollen ja Bingo und Belgia u. a. nur spielen – und tatsächlich, Gänse sind die besseren Wachhunde! (Am eigenen Leib erfahren, ich armes Kerlchen!)

„Haben Sie etwa Angst vor einer Gans?“,
nee, aber weil sie nicht nur ihr Revier verteidigen, sondern zur Wut sich ihnen auch Angst – BeEngstigung – zugesellt. Aus Angst wird man dumm wie die sprichwörtliche Gans.

Mein lieber J, ein Leben lang verlang ich, Ältern (nebst Großältern) abzuschaffen! Und da isset doch

„Am besten hat man eh keine Eltern.“
Und dann doch so ein Vater!
„Möge er in unserer Erinnerung fortleben.“
wie auch hier
Ich biss mir auf die Lippe. „Verzeihung.“
Gleichwohl: Es klingt meinem gesunden Ohr nach mehr als bloßer Aussage!!!!

Ein verfrühter Höhepunkt (ein Kunststück in einem Text, der aus lauter höheren Punkten besteht) für mich: Die Umkehrung des Satzes wider einer bestimmten Gattung von Hubertusjüngern, die da lautet, „wer nicht bis drei (maximal sieben) auf dem Baum sei …“ ist doch auch eine Art Emanzipation …

Einmal sagte die Freundin meiner Mutter, die Nachbarin verschlinge alles, was Hosen anhabe; seitdem wollte ich nur noch Röcke tragen.

Da lauert die Fälle-Falle
Hastig fuhr ich mit dem Taschentuch an meinen Mund und sah zu den Trauergästen hinüber, ein paar alte Männer, die auf den Sarg meines Vaters starrten, als wollten sie Probe liegen.
Besser: „ein paar alten Männern“ (Irrtum nicht ausgeschlossen, dann aber nicht so sehr im Attribut, sondern bei den Kerlen. Ich hab nur Fahrtenschwimmer gemacht, weil mir alles weitere in der Jugend blöde und bürokratisches Schwimmen war ...

Warum hier so umständlich-verschult?

Wie eine fette Schnecke, die mitsamt ihrem Haus zertreten worden war.
„… zertreten wurde“ tät's doch ...

Besser Konjunktiv irrealis

Da wusste ich, dass auch meine Mutter Angst hatte, sich auch nur eine Beschwörungsformel ausdachte, damit wir an dem Zaun vorbeikamen.
„vorbeikämen“, denn nachher weiß man alles besser und dass der Indikativ sich immer durchsetzt, pardon, fast immer …

Das Tier wandte sich mit einer schlangenartigen Bewegung des Halses um, der Kopf ruckte zu mir herüber. Dann sah sie mich an.
Gut, Du meinst die Gans, nennst aber „das“ überordnende und allgemeinere Tier. Besser also, „es“ sah Dich an oder „die Gans“ sah …

„Ja, ich hab sie immer George W. genannt, wenn ich hier war.“
Ha, der Bushranger schlechthin und sein Brüderchen droht schon wieder ... Sozusagen das Ende der Republik. Fehlt nur noch Caesar - kaesar - Kaiser! Warum nicht ganz deutlich: George dabbelju?

Ich tastete mich hin, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, hoffte, dass sie nicht zuschnappte, wenn ich nach ihr griff.
Griff besser mit Apostroph, da der Konj. i. d. R. auf „e“ endet und griff tatsächlich mit dem Präteritum verwechselt werden könnte (griffe = griff’), ein durchschaubarer Vorwand der „würde“-Konstruktion-Befürworter …

Vielleicht konnte ich sie wieder hochziehen?
Könnte?. Vllt. Aber können ist Potentialität genug. An sich! Aber auch in der Grammatik?

Verwechselung mit winden und wenden:

Ich wand mich, trat nach ihr, …
Besser: Wandt

… dann spürte ich, wie das Gelenk verbogen wurde, als sei es aus Gummi, …
Warum nur Konjunktiv I, wo doch klar ist, dass Knochen selten(st) Gummi sind? (Vllt. bei blutjungen rumänischen Kunstturnerinnen, nicht aber bei uns …, pardon, einem alten Sack wie Tante Friedchen)

und eine Spur von Traurigkeit in ihren Augen
Warum nicht gleich Trauer?

…, während mein Körper zerriss.
Kann ein Körper „zerreißen“? Wird er nicht eher zerrissen, wenn er den zerrisse (
Indikativ: zerreißt)

Nichts tut weh, die Haut fühlt sich ein wenig taub an, aber ich bin am Leben.

Oh J!, German gerund!!! …, aber ich lebe wäre doch einfacher und auch noch schöner …

Ich rieche seine Einsamkeit und breite meine Flügel aus.
Äählich? Du bis’ doch keine Janz … weder dumme noch böse …

Tschüss,

sacht’e

Friedel

 

Liebe Novak

Erstmal muss ich dir ein Kompliment machen - egal ob mit Kastanien-Männchen, Fröschen oder wie jetzt hier mit einer Gans, du wählst stets unverbrauchte Motive in deinen Horrorgeschichten. Das ist ein Stück weit immer auch ein Risiko, geht es bei diesen Geschichten doch auch darum, die Angst, das Bedrohliche zu transportieren - und das ist naturgemäß einfacher, wenn man sich auf Elemente beschränkt, die "gemeinhin" als gefährlich gelten. In einer Horrorgeschichte würde man vielleicht eher ein Krokodil erwarten als eine Gans, eher eine Schlange als einen Frosch - aber umso erfrischender finde ich, dass du nicht auf diese häufig gewählten Motive zurückgreifst.

„Möge er in unserer Erinnerung fortleben.“
„Schwachsinn“, sagte ich, „der hat mich vergessen. Jetzt vergess ich ihn.“

Beim ersten Absatz dachte ich noch, die Auseinandersetzung mit dem verstorbenen Vater sei das zentrale Thema der Geschichte. Er bleibt dann aber über den restlichen Text sehr im Hintergrund, wird, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Die Details der Beziehung zwischen der Erzählerin und ihm lässt du im Dunkeln - du gehst lediglich an einer Stelle ins Detail, als er die Tochter vor der ersten Attacke der Gans rettet. Das beißt sich mit den Empfindungen zu Beginn des Textes, da der Vater an der Stelle mit der Gans positiv beschrieben wird.

Noch mehr in den Hintergrund als den Vater setzt du die Mutter. Dabei wäre sie vielleicht sogar die wichtigere Person, hat sie doch offenbar das Bild des Vaters über die Jahre geprägt. Mir fiel es schwer, in diese Konstellationen einzutauchen, insbesondere, weil die Erzählerin ja im Laufe des Textes da auch eine Änderung in ihrer Wahrnehmung durchläuft:

Vielleicht hatte er mich damals gar nicht vergessen, der Mann im weißen Unterhemd, sondern ich ihn. Für meine Mutter.
[...]
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht ...“ Ich zögerte. „Vielleicht sehe ich jetzt manches ein bisschen anders.“

So richtig nachvollziehbar wurde diese Wandlung nicht für mich, überhaupt wirkt dieser Teil der Geschichte mehr als ein Anhängsel. Ich finde, da müsstest du dem Leser mehr Stoff geben. Die Erzählerin wirkt auf mich jetzt auch nicht wie eine Frau, die sich den Willen von anderen Personen aufzwingen lässt - gut, als Kind sieht es natürlich anders aus, wenn da die Mutter immer wieder bestimmte Dinge über den Vater erzählt, übernimmt das Kind das natürlich. Aber irgendwann wird das Kind älter, es kommt vielleicht wieder zu Begegnungen, und dann macht es sich sein eigenes Bild - dieser Prozess, das alles, wird aber in der Geschichte gar nicht thematisiert.

Als ich aufschaute, den Baum betrachtete, von dem die dickkolbigen Blüten stammten, das dichte Pflanzengewirr, da erkannte ich den Garten wieder.
[...]
Schlimm war der Winter, wenn die Schatten der Büsche lang waren und hinüberreichten zu den Bäumen im Ried, an denen im Winter nur lange Pflanzenbärte wucherten.
[...]
Behaarte Blätter und Blüten wogten über den Zaun und griffen wie Hände nach meinen Schultern.

Wenn man das "analytisch" liest, merkt man, was du tust: an dieser Stelle beschreibst du die Pflanzenwelt möglichst bedrohlich. Das ist kein Idyll, wie man es sich vielleicht vorstellt, übt auf Kinder keine Anziehung aus, wie es vielleicht mancher wild-wuchernde Garten tun würde - das ist gefährlich, da sind die Blüten "dickkolbig", die Blätter sind "behaart", die Pflanzen "fleischig" wie ein Tier, wie etwas Lebendiges, etwas Fremdes.
Dabei gerät in diesem Absatz eine für mich wichtige Information fast ein wenig in den Hintergrund: Warum haben die Kinder eigentlich so viel Angst vor diesem Garten, warum fürchten sie die Frau? Der Text sagt dazu

Einmal sagte die Freundin meiner Mutter, die Nachbarin verschlinge alles, was Hosen anhabe
[...]
Einmal hörte ich sie sagen, verdammte Hure, dein Parfüm stinkt bis hierher.
[...]
Wenn ich Pech hatte, saß die Gänsefrau vor ihrem Haus und hetzte ihren Vogel auf mich, der immer auf einer Marmorsäule neben dem Haus thronte.

Natürlich kann man jetzt denken, ok, die Frau ist exzentrisch (oder vielleicht ein bisschen mehr als das) und damit in einer ansonsten vermutlich eher spießbürgerlichen Siedlung naturgemäß ein Außenseiter - aber rechtfertigt das schon solche Aussagen? Rechtfertigt das schon das bedrohliche Szenario des Gartens? Für mich ist das ein Grenzfall. Ich hätte es besser gefunden, wenn du hier auch plot-mäßig noch ein wenig mehr ins Detail gegangen wärst, ähnlich ausführlich wie du die Atmosphäre beschreibst (warum fürchtet sich bspw. auch die Mutter offenbar vor dem Garten / der Bewohnerin?). Für mich kommt hier einfach die beschriebene Gefahr noch nicht so ganz rüber, aber vielleicht liegt es auch daran, dass ich noch nie mit einer Gans aneinandergeraten bin :)

Ich finde, die große Stärke des Textes ist gerade das Atmosphärische, das Stilistische. Auch wenn ich die Details deiner anderen Geschichten nicht mehr im Kopf habe, aber ich meine, das gilt für die anderen Texte auch, gerade die Kastanien-Männchen und auch die Frösche. Ich sehe das ganz ähnlich wie ernst offshore. Plot-mäßig könntest du hier noch eine Schippe drauflegen, und ich finde, der Absatz, in dem du den Garten beschreibst, zeigt das exemplarsich ganz gut auf.

Vielleicht nochmal hierzu:

Wenn ich Pech hatte, saß die Gänsefrau vor ihrem Haus und hetzte ihren Vogel auf mich, der immer auf einer Marmorsäule neben dem Haus thronte.

Ich konnte mir das nicht richtig vorstellen, weil ich immer das Bild vor Augen hatte, da ist doch ein großer Zaun. Muss ich mir das so vorstellen, dass der Zaun auf der Rückseite des Gebäudes ist, oder hat der Zaun ein Tor, durch das man dann an das Haus kommt?

Im folgenden Abschnitt gefällt mir vor allem die Beschreibung der Gans. Die zusammengeklebten Federn, die kahle Brust - das ist echt gut. Auch hier gehst du nochmal auf die Angst der Erzählerin vor dem Tier ein, was spätestens dann verständlich wird, wenn man von dem Angriff erfährt.

„Ja, ich hab sie immer George W. genannt, wenn ich hier war.“
„Wieso das denn?“
„Naja, nach Bush. Schien mir passend.“*

Das hat mich kurz verwirrt. Ich dachte, das liegt viele Jahre zurück, also wesentlich länger, als die Amtszeit von Bush. Aber gut, du erwähnst keine Jahreszahlen oder Altersangaben, und wenn das zehn Jahre zurückliegt, dann ist es in Ordnung.

Ich fuhr mit den Fingern über das Holz, betrachtete die graubraunen Splitter an meiner Haut und lutschte. Der Zaun blutet, dachte ich. Und wusste, diesen bitterscharfen Zaunblutgeschmack kannte ich.

Hier ist wieder ein Beispiel von gelungener atmosphärischer Beschreibung. "Zaunblutgeschmack" - finde ich gut. Bemerkenswert, wie es dir gelingt, die Alltäglichkeit der Dinge mit dem unterschwellig Bedrohlichen zu verknüpfen. Bezeichnenderweise muss man sagen, dass du mit der Figur Anna in genau die andere Richtung schwenkst - auf die Erzählerin wirkt sie sympathisch, beinahe schon vertraut. Die Natur ist das Bedrohliche hier, nicht der Mensch. Das muss ich wirklich hervorheben, diese Details haben mir beim Lesen sehr gut gefallen, da steckt jede Menge Arbeit drin und man merkt, da hast du dir viele Gedanken gemacht.

Mit dem letzten Drittel des Textes bin ich dann auch nur so halb zufrieden. Ich finde auch, das Drumherum, die ganze Beschreibung, da machst du dir das Leben unnötig schwer und es klingt alles übermäßig kompliziert. Ich hatte da auch kein konkretes Bild vor Augen, auch beim zweiten oder dritten Lesen nicht, das lenkt dann auch immer ein wenig ab. Die Szene wirkt surreal, das hast du sicher so gewollt, aber dann würde ich ein Setting wählen, das sich einfacher beschreiben lässt und wo vielleicht auch weniger Missverständnisse entstehen (obwohl die bei dir sicher nicht vorhanden waren während des Schreibens, nur eben bei mir beim Lesen :)). Stark wird die Szene dann, wenn du rausgehst aus der Beschreibung des Drumherum:

Ein Zischen von der Seite und dann der Hieb. Direkt ins Auge. Schmerz zuckte wie ein Schwall glühendes Öl, das dein Auge zu einem Loch ausbrennt. Ich trat um mich, etwas schlug gegen meinen Fuß, bremste, und dann spürte ich, wie das Gelenk verbogen wurde, als sei es aus Gummi, Schmerz durchschoss mich, eine gleißende Welle, die meinen Körper überrollte und Flüssigkeit in meinen Mund trieb.
[...]
Ich wusste nicht, ob ich sprach oder dachte. Bitte Anna, tu das nicht. Ich wusste auch nicht, ob sie antwortete. Ihre Stimme war ein hellrot flimmerndes Band. Ich mag dich, sagte es, ich mag dich sogar sehr. Du erinnerst mich an mich selbst, sagte es. Aber meine Blumen brauchen dich. Und wieder der Druck auf meiner Hand und das Knacken des nächsten Fingers. Wir brauchen Leben, sagte das Band, wir brauchen Menschen.

Ich würde hier sogar überlegen, den Teil mit den "verlorenen Menschen" rauszunehmen - in diesem Kontext macht auch die frühere Aussage Sinn, dass die Erzählerin bald Stammgast auf dem Friedhof werde, weil sie ihre Freundin und ihre Eltern innerhalb kurzer Zeit verloren habe. Vermutlich hast du das eingebaut, um hier den Bezug auf die "verlorenen Menschen" zu knüpfen, die keiner vermisst - aber mal ehrlich, was ist mit Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn? Ich kann mir kaum vorstellen, dass der gesamte Umgang der Erzählerin nur aus den Eltern (dem Vater ja ohnehin nicht) und der Freundin bestand.

Tja, und so wird die Erzählerin ein Teil der (bedrohlichen) Natur, und so erklärt sich dann auch die Gefahr, die sie schon als Kind gespürt hat. Sie wird zur Gans, muss neue Opfer finden, und so schließt sich der Kreis zu den Erlebnissen aus der Kindheit.

Also, Novak, so als Fazit: Ich finde, das ist eine außergewöhnliche Horror-Geschichte; in dieser Art gibt es wenige hier im Forum. Die Idee finde ich toll, du traust dich auch was mit einem etwas ungewöhnlichen Thema, bewegst dich abseits von festgetrampelten Pfaden. Natürlich gäbe es Dinge auszubessern, ich habe die Kommentare jetzt mehr überflogen, aber vieles wurde ja genannt, und einiges davon teile ich auch. Die Beschreibungen verwirren manchmal eher, als dass sie Klarheit bringen. Der Vater wird etwas stiefmütterlich behandelt, die Beziehungen der Erzählerin und von Anna zu ihm wird nicht klar. Anfangs überträgt sich auch die Bedrohlichkeit des Gartens nicht auf mich, die Nachbarin bleibt mir etwas zu mysteriös, ich verstehe nicht genau, warum sich selbst die Erwachsenen vor ihr fürchten.

Ich habe den Text jetzt dreimal gelesen, und ich muss sagen, dass er mir jedes Mal besser gefallen hat. Aber das zeigt auch, dass er vielschichtig ist, und dass - zumindest ich - nicht alles beim ersten Lesen entdeckt habe. Ich glaube, wenn du da noch an der einen oder anderen Stelle etwas nachbesserst, dass das ein sehr guter Text wird. Finde es wirklich toll, dass du wieder mal eine Geschichte eingestellt hast :)

Viele Grüße,
Schwups

 
Zuletzt bearbeitet:

Und weiter gehts:

Liebe barnhelm

vielen Dank, dass du gelesen und vor allem durchgehalten hast, obwohl du gar keine Horrorfreundin bist. Und sehr schade, dass es dir nicht so gut gefallen hat, dich leider kalt ließ. Ich könnte mich nun natürlich auf den Standpunkt zurückziehen, du bietest es ja fast an, dass du Realist bist. Aber deine Argumente sind doch zu gewichtig.
Erst mal geht es mir ähnlich wie dir. Reine splatterstories lassen auch mich kalt. Seelische Zustände bergen oft größeren Horror als ein noch so blutrünstiges Monster. Daher versuche ich eigentlich immer über die Eigenarten der Personen zu gehen, ihnen vielleicht sogar eine Entwicklung zu verpassen, den Horror mit einem Gefühlsleben der Person, das nicht nur in der speziellen Horrorangst, sondern in der Person selbst liegt, zu verknüpfen. Das ist zumindest das Ziel. :(
Außerdem: Identifikation ist gerade in einer Horrorstory ausgesprochen wichtig. Also von daher wurmt mich das schon, wenn die Protagonistin dir nicht nahe kommt. Also klar, jetzt bossele ich an Überlegungen rum, schau, was sich noch machen lässt.
Aber jetzt geh ich erst mal deine Hinweise durch:

Am Anfang der Geschichte sagt die Prot.:
der hat mich vergessen. Jetzt vergess ich ihn
Kurze Zeit später dann
Dort stand das Haus meines Vaters. Einmal wollte ich es noch sehen.
Als psychologischen Endpunkt der Beziehung zum Vater kann ich mir das zwar vorstellen, aber trotzdem wirkt es dem Anfangssatz gegenüber gestellt eher widersprüchlich.
Hier muss ich gestehen, verstehe ich leider den Einwand nicht wirklich. Ich hab hin- und herüberlegt, was dir daran widersprüchlich erscheinen könnte, ich komm einfach nicht weiter.

Wie ich überhaupt die Aussagen über den Vater nicht unbedingt als stimmig empfinde. Hat das Bild, das die Mutter von ihm zeichnete, wirklich verdecken können, wie sehr er sich in echter Gefahr für seine Tochter eingesetzt hat?
Inhaltlich ja. Das Bild, das die Mutter gemalt hat, die Verletzlichkeit einer Erwachsenen, das hat dafür gesorgt, dass die Tochter tatsächlich verdrängt hat. Das war zumindest die Absicht, ist aber leider nicht angekommen. Hinweise sollte z. B. Solch ein Bild geben, dass die Tochter merkt, die Mutter hat selbst Angst, an dem Garten der Gänsefrau vorbeizulaufen. Die Mutter hat natürlich keine Horrorangst, sondern hat Affärenangst. Gatte bei dem Flattergewand. Vielleicht sind solche Hinweise zu blass geblieben?

Das Thema der Beziehung der Prot. zu ihrem Vater reißt du an, ohne es zu verfolgen. Ich frage mich, welchen Stellenwert hat es in deiner Geschichte, bzw. welchen Bezug hat es zur eigentlichen Handlung. (Außer natürlich, dass sie nun allein ist.)
Ich finde natürlich nicht, dass ich es nur anreiße, sondern die Beziehung zum Vater hat einen ganz wichtigen Stellenwert. Aber offensichtlich ist der Zusammenhang zu undeutlich geblieben. Also so war der Plan: Es sollte schon einen Zusammenhang geben, der nicht nur formell ist, sondern inhaltlicher Art, die Beziehung sollte sich mit dem Geschehen verweben. Die Prota kommt zu dem Begräbnis. Hat in ihren Augen mit dem Vater ein für allemal abgeschlossen, ist fast rachsüchtig, weil der sie ja angeblich vergessen hat. Dennoch gibt es Anteile in ihr, Zugang zu dem Vater zu bekommen. Nur deshalb kann die Anna bei ihr überhaupt landen. Die ködert sie ja mit dem Wissen um den Vater. Die Protagonistin nutzt diese Gelegenheit, weil in der für sie ungewöhnlichen Situation Begräbnis eines Elternteils, ja ohnehin schon irritierende Erinnerungsfetzen hochgeschwemmt wurden. Sie musste ja nur auf den Gänsefarten treffen und da fällt ihr beispielsweise ein, dass ihr Vater sie Fohlenbein genannt hat. Was dem angeblichen Vergessen amS widerspricht. Also sie bleibt und gerät in eine gefährliche Sitiuaiton wegen des Vaters und die aufkommende Erinnerung an ihn scheint sie aber auch zwischendrin retten zu können, denn sie will ja abfahren, weil sie merkt, der Garten verhindert es, dass sie so richtig die Erinnerungs hin und herwenden kann. Also ihr Wunsch, den Vater kennen zu lernen, der hinter dieser trotzigen Haltung, den vergess ich jetzt, steckt, schädigt sie und versucht auch, sie auch zu retten. Das ist ihr Movens. Und „leitet“ und „begleitet“ sie durch das Geschehen.
Gut, und das ist jetzt das Problem, wenn das natürlich gar nicht ankommt, muss ich das wohl schief oder falsch gebaut haben. Die Hinweise sind zu sehr versteckt, nicht genügend ausgearbeitet. Sowas halt. Also jetzt muss ich halt mal überlegen, was ich draus mache.
Ich weiß allerdings selbst noch nicht, ob das ein ganz grundsätzliches Konstruktionsproblem dieser Geschichte ist oder ob es sich durch kleinere Hinweise auf den Vater weiter hinten lösen lässt. Das ist mir momentan selbst noch nicht klar. Jedenfalls bist du ja nicht die erste, die diesen Punkt anspricht, also muss es unter dem Strich einfach eher an meiner Handlungsführung liegen als an irgendwelchen Geschmacksfragen oder so.

Warum geht sie in das Gebäude, klettert der Gans hinterher und begibt sich in immer hoffnungslosere Situation? Ich kann keinen inneren oder äußeren Zwang erkennen. Oder habe ich etwas übersehen?
Ich verweise dich da zum einen auf meine Antwort an Raki, zum anderen aber ist das ein Punkt, an dem ich noch was machen will/werde. Da hatte sich schon nach der Antwort an Raki in meinem Kopf festgehakt. Ich wollte darauf raus (kurz zusammengefasst), dass ihre Handlung zum Selbstläufer wird, sie kopflos wird und gemischt mit ihrer ansonsten unkonventionellen Haltung bewirkt es, dass sie der Gans eben folgt. Auch in das Haus rein. Und sie denkt ja auch, dass die Gans sich in Gefahr bringt. Sie will sie retten. Also auch das ist auf der Merkliste.

Dass es dir sprachlich gefallen hat, das hat mich gefreut. Liebe Barnhelm, danke für deinen wunderbaren Kommentar, der mein Augenmerk noch einmal mehr gerichtet hat auf das, was der Geschichte noch fehlt.
Viele Grüße von Novak

Lieber gerthans, offshore, Friedel und schwups. Ich bin grad langsam mit meinen Antworten. Hab mal wieder den Kopf voll mit Zeugs privater Natur, mach aber auch wunderschöne Sachen und genieße den Frühling. Also verzeihts mir, dass ich so lahm bin.
Liebe Grüße

 

Hallo Novak,

dein Text erinnert mich an alte Gruselgeschichten, die so langsam Fahrt aufnehmen und eher subtil daherkommen. Nicht mit dem Dampfhämmer. Die Exposition finde ich gut: Die Szene bei der Beerdigung, das sagt schon viel über die Prota aus. Dann fehlt mir etwas die Verbindung zu dem Vater, was da passiert ist und welche Konsequenz das für sie in der Gegenwart hat. Da geht dann vieles recht fix. Die Rückblenden, wie und warum sie da Angst hat, und auch das die Frau, die da wohnte, so eine liederliche kleine Matratze war, das finde ich toll.

Die Blende zu diesem Irrgarten, die ist mir nicht ganz klar. Das geht mir auch zu schnell. Ich würde hier noch einen Mittelteil einbauen, wo sie sich dieser Tochter annähert. Ich denke, im wahren Leben geht das auch nicht so schnell, da muss man erstmal eine Distanz überwinden. Es müsste ein Grund geben, warum sie auch dableibt, vielleicht eine Erbschaft oder ein Notartermin, weil sonst reist sich einfach wieder ab. Da müsste eine Dringlichkeit her. Oder du verbindest das mit einem Geheimnis, dass sie aufdecken will nach all den Jahren, wo es nur eine kindliche Vermutung war, das könnte sie auch schlussendlich in den Garten locken.

Die Gartenszene ist fies, das Ende sehr verwirrend.

Insgesamt ist das wieder ein guter Text, Novak. Konstrukiv: Sprachlich ist mir das eine Nummer zu drüber. Da ist in jedem Satz ein Geruch, ein Gefühl, ein "Wie"-Vergleich, da denkt man oft drüber nach und kommt nicht richtig in die Geschichte rein, und das ist schade. Das würde ich reduzieren. Ich weiß, ich klinge da wie eine Schallplatte, die hakt, aber ich denke, hier wäre weniger, präziser und an prominenterer Stelle (die kennst natürlich nur du alleine) besser, vor allem für den Leser.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hömma Novak,

wenn Du mir demnächst noch Meerschweinchen vergraust, gibt es aber Ärger. Nee, ich find das cool, das Du Dir immer so ungewöhnliche Gruseltiere aussuchst. Wobei: Gänse sind ja echt voll wild!

Es gab vieles an der Geschichte, was mir total gut gefallen hat. Der Kindergrusel, der sich als echtes Grauen entpuppt. Die Atmosphäre, diese echte Erinnerung an den Vater, die sich unter der konstruierten so langsam herausschält. Allerdings hast Du Dir hier mal echt nen fetten Spoiler eingebaut:

Mein Vater hatte meine Mutter vertrieben mit seinen Frauengeschichten. Und mich vergessen. Ganz einfach. So hatte es meine Mutter erzählt.
In dem Moment weiß ich ja schon, dass das wohl von der Mutter so konstruiert ist. Und wenn sie das zu diesem Zeitpunkt noch für ihre eigene Wahrheit hält, macht diese relativierende Einschränkung im letzten Satz auch überhaupt keinen Sinn. Ich hatte die Geschichte aus Zeitgründen erst nur zu diesem Punkt gelesen und dachte mir schon, das ist bestimmt ein Spoiler. Und so war es dann auch. Also raus damit.

Also dass sich das mit dem Vater so entwickelt, dass er nicht nur doof war, fand ich gut. Aber ich hab die ganze Zeit drauf gewartet, dass sich da eine größere Geschichte enthüllt, die dann auch mit der Gartenfrau und ihrer Tochter zusammenhängt. Also wenn ich die Geschichte da an meinen höchsten Ansprüchen von Geschlossenheit, vom Zusammenhang innerer und äußerer Handlung und von poetischer Notwendigkeit lese, bleibt sie dahinter im Moment noch zurück, hat aber andererseits ein riesiges Potential, das durch das Festzurren kleiner Stellschrauben zu erreichen. Zum Beispiel war mir "Wir suchen uns die Einsamen" echt zu unspezifisch als Motivation. Das ist doch was, wo echt jeder dann reinpassen könnte und ob man dann wegen dem verunglimpften Vater allein ist, oder weil einen die Freundin verlassen hat, ist doch auch egal. Ich hab mal unter gute Internetseiten einen ziemlich langen Artikel über so ein Vater-Sohn Mörder-Duo gepostet, das einsame Männer mit der Aussicht auf so ein Cowboy-Leben über Annoncen geködert hat. Und der Artikel hat ganz genau gezeigt, warum es gerade diese Männer waren, die auf genau diesen Köder angesprungen sind. Das war ein innerer Zusammenhang von Mörder und Opfer, der in einer konstruierten Geschichte echt genial wäre. Die waren sich nämlich auch irgendwie ähnlich. Deshalb hat das funktioniert. Aber Dein Böses hat im Grunde gar keinen Grund und keine Psychologie, obwohl es mit so einer Mutter doch so viel Potential dazu hätte. Also das juckt mir so dermaßen in den Fingern, das zu einer gemeinsamen Geschichte zusammenzuweben. Ich dachte ja zwischenzeitlich, die beiden wären Halbschwestern. Das hätte auch diese seltsame Anziehung erklärt, die sie nur aus Unkenntnis erotisch liest. Und dann dachte ich, der Vater hat die Gartenfrau vielleicht echt geliebt. Nicht böse, aber für die eigene Frau trotzdem Scheiße. Deshalb war er da, als die Gans angriff. Deshalb hat die Mutter so auf die Hure geschimpft. Und deshalb muss die kleine Halbschwester die große vielleicht hassen. Weil sie immer das Bastardkind in der Siedlung war, und alle von der betrogenen Ehefrau gegen sie aufgehetzt wurden. Weil der Vater von der Ehefrau so zur Sau gemacht wurde, dass er beide Frauen verlassen musste. Was weiß ich. Was Kompliziertes halt, wo alle Täter und Opfer sind.
Und weil ich so wilde Enthüllungen erwartet hatte, war mir "das zufällige Böse" dann einfach zu beliebig. Zum Schluss ist es halt leider relativ unerheblich, ob die eine die Tochter eben dieses Vaters und die andere die Tochter eben dieser Mutter ist. Das ist verschenktes Potential.

Aber Du musst schon auch wissen, dass ich hier nicht "ordentliche, spannende Horrorgeschichte"-Maßstäbe sondern literatisch-hochtrabende Erwartungen an Novak-Geschichten anlege. Man merkt, dass da schon viel an Arbeit drinsteckt, aber es fehlt halt noch so ne Drehung, um die Geschichte monstergut zu machen.

Sprachlich fand ich es oft sehr eindrucksvoll, aber es gab auch Stellen, wo es mir auch einen Tacken zu viel wurde. Die anderen haben da ja auch schon was zu gesagt und wenn ich demnächst unwahrscheinlicherweise mal mehr Zeit haben sollte, pflüg ich vielleicht nochmal durch die Details.

Bis dahin lg,

fiz

 

Liebe Novak,

ich habe überlegt, ob ich lieber erst mal was anderes kommentieren soll, weil du hier schon so eine lange Warteschleife hast und ich dir eigentlich nicht noch mehr Druck machen wollte, aber daraus wird nichts, die Geschichte hat mir so gut gefallen, dass ich meine virtuelle Klappe nicht halten kann. :D

Eigentlich hätte ich das Ende kommen sehen müssen. Hinter unnatürlich vitalen Gärten steckt ja meistens so ein Geheimnis. :)

Aber ich war mir gar nicht sicher, was passieren wird, vieles hat mich überrascht. Ich habe lange Zeit vermutet, dass die gruseligen Erinnerungen der Protagonistin an den Garten und die Gartenbesitzerin mit ihrer Gans sich vielleicht noch als unbegründete kindliche Ängste erweisen, also den Leser eventuell in die Irre führen sollen, und dass der eigentliche Horror sie vielleicht im Haus ihres Vaters erwartet.
Ich hab echt selbst an der Stelle, wo sie schon in der Häckselmaschine hängt und Anna auftaucht noch gedacht, dass das Böse vielleicht nur in der Gans steckt und Anna gekommen ist, um sie zu retten, weil sie gerade erst raus gefunden hat, was es mir dem Garten ihrer Mutter auf sich hat. :lol:

Mit der Maschine hatte ich übrigens keine Probleme – ich bin wahrscheinlich genau die richtige Sorte Leser dafür, ich schaue bei solchen Sachen gar nicht auf die technischen Details. Mir reicht es schon zu wissen, dass das Ding zum Zerhäckseln dient. :)

Dass die Geschichte mir Angst gemacht hätte, kann ich nicht behaupten. Vielleicht, weil die Bedrohung sehr spezifisch auf einzelne Menschen ausgerichtet ist. Das sind keine Zombies, die jeden anknabbern, man muss sich schon einer ganz bestimmten Verfassung befinden, um als Gänseopfer infrage zu kommen. Ich habe aber trotzdem sehr gespannt gelesen und fand die Atmosphäre toll. Die Gefühle der Erzählerin haben auf mich sehr echt und glaubwürdig gewirkt und ich wollte immer wissen, wie es mit ihr weiter geht. Das Ende gefiel mir sehr, auch das war noch mal eine unerwartete Wendung, die die Gans noch mal in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Wenn ich einen Punkt für Kritik auf hohem Niveau habe, dann dass die Vatergeschichte und die Gartengeschichte so ein bisschen parallel laufen, ohne dass es große Überschneidungen gibt, und ich habe ähnlich wie andere Leser darauf gewartet, dass man da vielleicht irgendwann auf einen Zusammenhang stößt. feirefiz hat schöne Ideen in der Richtung, finde ich. Den Anfang mit der Beerdigung des Vaters fand ich sehr stark, deshalb fand ich es dann irgendwie schade, dass es letzten Endes nur der Anlass ist, um die Protagonistin an der Ort ihrer Kindheit zurückzubringen.

Außerdem war es so, dass ich beim ersten Lesen sehr lange nicht gemerkt habe, dass die Erzählerin weiblich ist. Ich weiß nicht mehr, warum ich angenommen habe, es wäre ein Mann - eventuell weil an der Stelle

Und mit einem unglaublich schnellen Handgelenk, mit dem er sein Lineal auf die Knie unaufmerksamer Konfirmanden drosch.

nicht von Konfirmandinnen die Rede ist, oder weil kurz darauf die verstorbene Freundin erwähnt wird.

Sogar als sie sagt, sie wollte nur noch Röcke anziehen, um vor der hosenträgerverschlingenden Nachbarin sicher zu sein, habe ich noch gedacht, das war halt ein kleiner Junge, der nicht um Genderstereotype geschert hat. :lol:
Das ist nicht wirklich eine Kritik, sondern nur als Info für dich gedacht. Das ist eben häufig so bei Icherzählern. Wenn man sich als Autor anstrengt, um das Geschlecht gleich eindeutig festzulegen, wirkt das oft irgendwie verkrampft. Ein normaler Mensch denkt halt nicht „ach übrigens bin ich eine Frau“, damit der Leser bescheid weiß. Und ich finde es viel wichtiger, dass eine Figur wie ein normaler Mensch wirkt, als dass man da sofort bescheid weiß, ob es um Männlein oder Weiblein geht. Wenn das wichtig wird, dann merkt der Leser das schon rechtzeitig.

Zum Schluss noch ein paar Textdetails:

Hastig fuhr ich mit dem Taschentuch an meinen Mund und sah zu den Trauergästen hinüber, ein paar alte Männer, die auf den Sarg meines Vaters starrten, als wollten sie Probe liegen.
Das mit dem Probe liegen gefällt mir sehr.

„Es ist wirklich nur eine alte, kranke Gans.“ Sie lachte. „Manchmal furzt sie sogar.“
Das ist sehr geschickt von Anna (und von dir). An der Stelle war ich völlig sicher, das kann nicht die Richtung sein, aus der der Horror kommen wird. Pupsende Tiere müssen einfach harmlos sein. :)

Vielleicht hatte er mich damals gar nicht vergessen, der Mann im weißen Unterhemd, sondern ich ihn. Für meine Mutter.
Diesen ganzen Teil, wo sie merkt, dass ihre Erinnerungen an den Vater nicht die ganze Wahrheit sind, fand ich sehr gut. Das ist so traurig, dass sie das erst herausfindet, als er gestorben ist. :(
Nur am Ende hat es mich dann gewundert, dass die Gans sie schon als Kind angegriffen hat – denn damals scheint sie noch nicht so einsam und verloren gewesen zu sein. Oder war das schon nach der Trennung der Eltern? Dann könnte ich mir eher vorstellen, dass die Gans sie schon als potentielles Opfer gesehen hat.

So nah war sie, dass ich ihren Duft nach wilden Lilien roch. Und dahinter war noch etwas anderes, etwas Ranziges, Morsches.
Die Beschreibung des Geruchs finde ich sehr gut. Hier habe ich das erste Mal gedacht, es stimmt wohl doch etwas nicht mit dem Garten und der Anna – aber ich habe das Unheil wie gesagt trotzdem nicht kommen sehen.

Blätter klatschten mir ins Gesicht, aber ich ließ die Gans nicht aus den Augen, irgendwann würde sie mich zum Haus zurückführen, hoffentlich, denn hier gab es nichts mehr, nur Holz und Grün und den weichen Samt fremder Farben, die sich zu Ornamenten verschlangen.
Das ist fast ein bisschen Lovecraft. Aber ich finde es sehr schön.

Schmerz zuckte wie ein Schwall glühendes Öl, das dein Auge zu einem Loch ausbrennt.
Das „dein“ hat mir nicht so gefallen, das bringt mich irgendwie immer aus dem Takt beim Lesen, wenn ich plötzlich so „angesprochen“ werde vom Text. Ich denke, sie könnte problemlos sagen „das mein Auge zu einem Loch ausbrannte“.

Das war eine sehr schöne Geschichte, und ich werde von dir gerne Horrorgeschichten über alle erdenklichen Kreaturen lesen – ist mir völlig egal, ob Kakerlaken oder Meerschweinchen. Am besten beides. Amphibien und Vögel hast du abgehakt, da müssen jetzt mal andere Tiergruppen zum Zug kommen. :)

Grüße von Perdita

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom