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- 22.10.2011
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Der Garten
1.
„Möge er in unserer Erinnerung fortleben.“
„Schwachsinn“, sagte ich, „der hat mich vergessen. Jetzt vergess' ich ihn.“ Hastig fuhr ich mit dem Taschentuch an meinen Mund und sah zu den Trauergästen hinüber, ein paar alte Männer, die auf das Bild meines Vaters starrten, als würden sie liebend gerne mit ihm tauschen. Das Gesicht auf dem Schwarzweißfoto war fremd. Schmale, flüchtige Konturen, eine viel zu kleine Nase, die sich über das lange Kinn zu belustigen schien. Ein Gesicht voller Gegensätze, nur durch die schweren Augenbrauen zusammengeflickt. Ich hatte meinen Vater nicht mehr gesehen, seit ich ein Kind war.
Pfarrer Brödert segnete die Trauergäste. Ich kannte niemanden, nur an Brödert erinnerte ich mich. Ein Bilderbuchpfarrer mit sorgfältig frisierter Haarwoge, die beim Beten malerisch in die Stirn fiel. Und mit einem unglaublich schnellen Handgelenk, mit dem er sein Lineal auf die Knie unaufmerksamer Schulkinder drosch.
Er hatte mich angeschrieben, nachdem mein Vater vom Main nicht zurückgekehrt war. Am Ufer hatte man nur noch seine Kleider gefunden. Brödert ließ ihn mit meinem Einverständnis für tot erklären und organisierte die Trauerfeier. Damit die Welt für die Menschen im Gefüge sei.
Ich wandte mich um und ließ die Männer zurück, bevor sie mir ihr Beileid ausdrücken konnten.
Im Rücken spürte ich Bröderts vorwurfsvollen Blick. Ich blieb stehen und strich über meine Hüften, ganz langsam, mit großen, übertriebenen Bewegungen. Dann hob ich den linken Arm und winkte. Mit erhobenem Mittelfinger. Hoffentlich sah der Hund von Brödert mit seinem Du-musst-den-Vater-ehren-Geplärr die Geste. Er wusste genau: Mein Vater hatte meine Mutter vertrieben mit seiner Scheißliebschaft. Und mich vergessen. Ganz einfach. Ich wischte über meine Jacke, als säße eine Blattwanze darauf, und wandte mich die Straße hoch Richtung Enkheimer Ried. Dort stand das Haus meines Vaters. Einmal wollte ich es noch sehen.
Es schien, als hätte ich ein Abo für den Friedhof. Vor zwei Jahren war meine Mutter gestorben, danach meine Freundin. Und nun die Gedenkfeier für meinen Vater. Jetzt gab es nicht einmal mehr jemanden, der mich vergessen wollte. Merkwürdig war das, wenn ich an ihn dachte. Als schwebte ich in der Mitte eines Strudels, auf den ein fernes Licht fiel. Gesichter schlierten vorbei, Briefe, eine Geburtstagstorte und noch mehr Gesichter; nichts Fassbares, nur Halblichter.
Das Haus stand inmitten einer Reihe alter Gebäude, ein schmaler Zipfel Stadt, der sich in das Enkheimer Ried hineinzwängte. Nur ein gepflasterter Weg trennte die Grundstücke auf der Vorderseite vom Naturschutzgebiet. Die Rückseiten verschwammen mit den Weiden und dem Schilfröhricht des Rieds. Der Schrei eines Wasservogels klang herüber. Die Luft roch nach Erde und Blättern, ein Geruch, der einem Spielhosen überzieht. Ich streckte mich, um das Haus schneller zu entdecken, als etwas unter meinem Fuß knackte und schmatzte. Wie eine Schnecke, die mitsamt ihrem Haus zertreten wurde. Doch es war nur ein Zweig zerquetschter Blüten. Sie rochen wie überreife Äpfel.
Als ich aufschaute, den Baum betrachtete, von dem die dickkolbigen Blüten stammten, das Pflanzengewirr, da erkannte ich den Garten wieder.
*
Selbst mitten am Tag hatte es mich gegraust, wenn ich an ihm vorbei zur Schule rannte. Schlimm war der Winter, wenn die Schatten der Büsche lang waren und hinüberreichten zu den Bäumen im Ried.
Grauenhaft aber war der Sommer. Behaarte Blätter und Blüten wogten über den schmiedeeisernen Zaun und griffen wie Hände nach meinen Schultern. Nein, im Sommer lief ich nie direkt an dem Garten entlang. Ich drückte mich auf der anderen Wegseite vorbei, eng gepresst an den Zaun des Rieds, den Rucksack als Schutzschild unter das Kinn geschnallt.
Als Kind hasste ich diesen Garten; seinen Geruch nach gärenden Äpfeln, die fleischigen Pflanzen und die Besitzerin, eine dünne, schwarzhaarige Frau. Manchmal sah ich sie auf dem Hof, immer in seidigen Anzügen, hinter ihr eine graubraune Gans.
Ich stutzte. Woher kamen diese Erinnerungen? Das mausförmige Loch hier hatte mir den Beginn des Grundstücks angezeigt: „Achtung Stinkergarten“ musste man dann sagen und gleich danach „Achtung Todeszone“. Die Jeans kratzten an meinen Kinderbeinen und zwischen Söckchen und Hosensaum spürte ich immer einen Luftzug, weil ich viel zu schnell gewachsen war. Fohlenbein nannte mein Vater mich.
Wenn ich Pech hatte, war das Tor offen, und die Gänsefrau saß vor ihrem Haus. Dann hetzte sie ihren Vogel auf mich. Eine fette Gans, die immer auf einer Marmorsäule neben dem Haus thronte. Sie war schnell, zischte und raste mit weit geöffneten Flügeln auf einen zu. Ein braunschillerndes Geschoss mit einer dunklen Maske, aus deren Mitte senfgelbe Augen zielten.
Die anderen Kinder erzählten, ein Junge habe mal einen Stein nach der Gans geworfen. Später sei er verschwunden. Ja, alle Kinder hatten Angst vor dem Garten und der Frau und ihrer hässlichen Gans mit dem Augenfleck. Oggerbombe und Flatterkuh. So nannten wir sie, aber nur, wenn wir weit weg waren.
Einmal sagte die Freundin meiner Mutter, die Nachbarin verschlinge alles, was Hosen anhabe. Seitdem wollte ich nur noch Röcke tragen. Aber meine Mutter zwang mich, Jeans anzuziehen, und wenn ich mich weigerte, darin zur Schule zu gehen, zog sie mich am Handgelenk an dem Garten vorbei. Das tat weh. Irgendwann hörte ich sie sagen, verdammte Hure, dein Parfüm stinkt bis hierher. Ein Singsang war es, verdammte Hure, dein Parfüm, verdammte Hure, du kriegst meinen Mann nicht. Da wusste ich, dass auch meine Mutter Angst hatte. Später fragte ich meinen Vater, was denn eine Hure sei, doch er sah mich nur müde an.
Ich kickte die gelben Blüten zur Seite, doch Erinnerungen kann man nicht wegkicken. Sie kitzeln mit losen Fäden deinen Verstand, zieht man an einem, entgleitet er und verknüpft sich mit anderen zu einem unerwarteten Muster.
2.
Das Haus war von einem Blumenmeer umgeben. Über den Eingang ragte ein mit Wein überwachsenes Vordach. Keine zehn Meter von mir entfernt, stand noch immer die Marmorsäule, kaum zu sehen, weil sie von goldgelben Büschen umwachsen war. Am Zaunpfosten hing ein Emailleschild. „Casa Belanima“ stand darauf. Und überall summte es. Mein Kinderalptraum war ein kitschiges Blütenparadies.
Mitten in dem Weinblattgrün saß eine Frau. Sie trug einen dunkelblauen Monteursanzug und blickte nach unten auf einen Blumentopf. Dichtes, dunkelblondes Haar bedeckte in Wirbeln den Schädel. Eine Frisur wie eine explodierte Pelzkappe. Mit dem Handrücken strich sie sich über die Nase und hinterließ einen Dreckstreifen. Und verdammt nochmal, als sie aufschaute, sie sah der Frau von damals so ähnlich, dass es mir den Atem verschlug. Das schmale Gesicht, die riesigen, hungrigen Augen, nur die Nase war anders. Sie lächelte. Ein Lächeln war das, meine Güte, als hätte jemand tausend Lampen angeknipst.
Ich öffnete das Gartentor und ging auf die Frau zu. Sie erhob sich, erstarrte, dann streckte sie mir wie aus einem plötzlichen Entschluss heraus die Hand entgegen. „Wollen Sie zu mir?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Sie wollen nicht zu mir?“
„Nein, das meine ich nicht.“ Ich fuhr mit der Hand über meinen linken Arm. Die Tasche rutschte zu Boden und schlug mir gegen das Bein. „Ich habe mich nur gewundert, dass mein Kinderalptraum eine Stupsnase hat.“
Die Frau stutzte. Dann lief ein rötlicher Schimmer über ihr Gesicht. Sie lachte verlegen, verschränkte kurz die Arme vor der Brust, löste die Bewegung wieder auf, fuhr mit den Händen über die Seiten des Overalls, dann nahm sie meine Hand. „Oh je, Sie kannten meine Mutter.“
„Wenn Sie die Tochter sind? Sie haben da übrigens was“, ich deutete auf den Streifen in ihrem Gesicht und kicherte, „sieht aus wie eine Kriegsbemalung.“
Die Frau scherte sich nicht darum, behielt weiter meine Hand in ihrer und blinkte mich an mit ihrem Lampenlächeln. „Hmmm. Und jetzt?“, fragte sie. Dann ließ sie mich abrupt los. Schade, dachte ich und suchte krampfhaft nach etwas, das ihr Lächeln wieder anknipste. Aber aus meinem Mund kam nur Gebrummel. Super, dachte ich, geschickt hingekriegt; aber immerhin grinst sie wieder.
„Und wer ist die Frau, die sich mit Kriegsbemalungen auskennt?“
„Ich habe früher in der Nähe gewohnt. Lang her. Der alte Lehmann war mein Vater. Aber Sie kenn' ich nicht.“
„Ich habe die meiste Zeit woanders gelebt.“ Ihr Blick schweifte über die Blütenrabatten, als wollte er sich dort verhaken. „Meine Mutter hatte es hier nicht leicht. Manchmal ist Frankfurt wie eine Kleinstadt. Aber ja, lang her. Heute würde man vielleicht sagen, meine Mutter war etwas exzentrisch. Was solls, sie hat das Leben genossen. In vollen Zügen.“
Ich schwieg.
„Jetzt ist sie schon seit Jahren tot, und ich habe eine Pension aus ihrem Haus gemacht.“ Sie hielt inne und sah mich direkt an. „Ich kannte Ihren Vater. Er war oft hier, wenn ich meine Mutter besuchte. Auch später, nachdem sie tot war.“
„Sie kannten ihn?“ Ich schluckte. „Da haben Sie mir einiges voraus.“
Sie lachte. „Am besten hat man eh keine Eltern.“ Ihr Blick fuhr über meine bloßen Arme, ein Blick wie ein Grashalm, der auf der Haut kribbelte. Dann sagte sie, als fiele ihr plötzlich etwas ein: „Wollen Sie vielleicht hier übernachten? Ich habe noch Zimmer frei.“
Ich blickte unschlüssig auf meine Armbanduhr, tat so, als hätte ich viele Termine, dabei wusste ich noch nicht mal, wann ein Zug zurückfuhr. Ich zuckte mit den Schultern und stellte meine Tasche ab. Die losen Erinnerungsfäden kitzelten zu sehr. „Ach, ich weiß nicht. Obwohl, das wär was, eine Übernachtung im Haus der Flatter... “ Ich biss mir auf die Lippe. „Verzeihung.“
Die Frau griff wieder nach meiner Hand und drückte sie. „Das macht nichts. Ich kenn den Namen. Dafür hab ich jetzt was bei Ihnen gut.“ Wieder ging ihr Blick auf mir spazieren. Schön war das, leicht und kribbelig.
Dann pfiff sie in das Innere des Hauses, ein heller, trillernder Ton. Sie winkte mir und ging voraus in einen freundlichen Raum voller Holz und Glas und Blumen. Auf einer Rezeption stand ein mit Lilien gefülltes Glas, daneben stapelten sich Bücher über Gartenbaukunst. Direkt davor, auf einem Podest, saß eine bräunliche Gans.
Ich sog scharf die Luft ein.
Die Frau verfolgte meinen Blick.
„Ach so.“ Sie kicherte. „Keine Angst, Alja ist harmlos. Nur zu verfressen.“
Die Gans stierte in den Garten. Die Frau strich ihr über den Kopf, bis sie den Schnabel öffnete. Die Federn klebten zusammen, an der Brust war sie kahl, als hätte das Tier sich selbst gerupft. Dunkle Ringe umgaben die Augen. Eine alte Nilgans.
Sie zischte leise, spreizte einen Flügel ab und flatterte damit, bis die Frau ihr erneut den Kopf streichelte. „Sie ist krank.“
„Aber das ist nicht … “
Die Gans wandte sich mit einer schlangenartigen Bewegung des Halses um, der Kopf ruckte zu mir herüber. Dann sah sie mich an. Ein Auge war blind, wie von einem Pelz überzogen. Das andere fixierte mich. Und dabei witterte sie in meine Richtung, sog die Luft zwischen uns ein in schnellen, heiser bellenden Atemzügen, als würde sie etwas in mir erkennen.
Instinktiv schnappte ich nach meiner Tasche und drehte mich zum Ausgang. Mit diesem ekelhaften Vieh wollte ich keine Sekunde unter einem Dach bleiben.
Die Frau ließ die Gans los und trat einen Schritt zurück. „Haben Sie etwa Angst vor einer Gans?“ Sie scheuchte das Tier in den Garten hinaus. „Schade, ich fand das gerade so schön, dass Sie hier sind. Sie kannten meine Mutter. Und ich den alten Lehmann.“
Ich stellte die Tasche wieder ab.
„Es ist wirklich nur eine alte, kranke Gans.“ Sie lachte. „Manchmal furzt sie sogar.“
Ich blickte zu der Gans, die draußen im Garten in einem Sonnenfleck stand. Sie hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt.
„Furzen? Gänse können furzen?“
„Ja,“ die Frau lachte, „mehr als genug. Neulich war ich mit ihr bei einem Heilpraktiker.“
„Ein Gänseheilpraktiker? Wie wird man denn sowas?“
„Man muss quaken können.“
Ich kicherte. Die Frau blickte mich rasch an und sah dann zur Zimmerdecke, spießte sie auf mit ihrer kleinen, stupsigen Nase. „Ich heiße übrigens Anna. Und die Gans meiner Mutter war der Horror.“
„Ein Arschloch“, sagte ich. „Mit Federn.“
„Ja, ich hab sie immer George W. genannt, wenn ich hier war.“
„Wieso das denn?“
„Naja, nach Bush. Schien mir passend.“
„Und Alja ist dann Obama?“
„So in etwa. Im Ernst jetzt. Ich fand einfach die Idee hübsch, Gegenwart und Vergangenheit zu versöhnen. Deshalb hab ich die Gans.“
„Ja. Aber manchmal geht das nicht mit dem Versöhnen.“
3.
Der Zaun vor dem Haus meines Vaters war immer noch da. Ein graubraun gebeiztes Ungetüm von einem Jägerzaun, einige Latten waren herausgebrochen. Ich fuhr mit den Fingern über das Holz, betrachtete die Splitter an meiner Haut und lutschte. Der Zaun blutet, dachte ich, und wusste, diesen bitterscharfen Zaunblutgeschmack kannte ich.
Wie ein Torpedo war die Gans damals aus dem Garten geschossen und hinter mir hergerast. Ich rannte, der Rucksack schlug gegen Brust und Kinn, hinter mir fauchte die Oggerbombe, immer näher kam sie, ich spürte schon den harten Schnabel, endlich der Eingang, da erwischte sie mich doch und stieß mit Wucht in meine Beine. Ich stürzte und prallte mit dem Kopf gegen das Holz. Schmerz knallte in mein Kinn, und dann war Flüssigkeit im Mund und der bitterscharfe Zaungeschmack und ein kleiner, harter Klumpen. Über mir tobte die Gans, zerhackte meinen Rücken, ein flatternder Teufel, der mich zu Boden drückte, während ich den blutigen Zahn ausspuckte und nach Atem rang. Dann hörte ich eine laute, kräftige Stimme, eine Gestalt schoss vorbei, und da war er. Mein Vater! Mit einem Besen schlug er nach der Gans, und als sie von mir abließ, warf er seine Jacke über ihren Schlangenkopf, damit sie ruhig wurde. Zu mir sagte er: „Die hat nur Angst. Wenn Lebewesen Angst haben, sind sie manchmal gemein.“ Dann zog er seinen Pullover aus und legte ihn über meine Schultern. Und so liefen wir, mein Vater im Unterhemd und ich unter dem Pullover. Es war der, den er immer trug, wenn er was hermachen wollte, und es war ihm ganz egal, dass ich ihn vollblutete mit dem ganzen Zeug aus meinem Mund. Als wir im Haus waren, nahm er mich in den Arm und wiegte mich, bis das Weinen verstummte.
Ich hatte immer geglaubt, er hätte mich auch ausspucken wollen wie einen ausgefallenen Zahn.
Wenn ich die Augen ganz fest zusammenkniff, bis die Büsche zu einem Schleier verschwammen, trat er aus den Blättern, unauffällig und gebückt, als wollte er kein Aufhebens von sich machen. Ich sah das Gesicht meiner Mutter, wenn ich nach ihm fragte. Ihren Mund und den Zeigefinger, der auf dem Tisch zitterte.
Vielleicht hatte er mich gar nicht vergessen, der Mann im weißen Unterhemd, sondern ich ihn. Für meine Mutter.
Und noch etwas fragte ich mich, wohin wollte mein Vater? Mit seinem schönsten Pullover?
4.
Die Marmorsäule lag schon im Abendlicht, als ich in die Pension zurückkam. Der Kot der Gans verkrustete grau das Podest. Im Garten roch es nach verblühenden Rosen.
Ich presste die Fäuste in meine Augenhöhlen und versuchte, meinen Vater zurückzuholen. Das Gefühl, wie sein Pullover auf meinen Schultern lag. Es klappte nicht. Nicht hier zwischen all diesen irritierenden Düften, die Nase und Verstand verklebten. Manchmal, dachte ich, muss man allein sein, damit aus einer Erinnerung eine innere Kraft werden kann.
Anna saß wieder auf ihrem Stammplatz. Die letzten Strahlen der Sonne woben ein goldrotes Muster auf ihr Haar. In der Hand hielt sie eine Blume. Sie sah auf, ihre stupsige Nase reckte sich mir entgegen. Ich schluckte. Viel zu klein war die Nase für ihr Gesicht.
„Und?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht ...“ Ich zögerte. „Vielleicht sehe ich jetzt manches ein bisschen anders.“
„Mir ging es genauso, als ich zurückkam.“
„Bist du deiner Mutter eigentlich ähnlich?“
„Man sagt es. Aber ich hab nicht viel mit ihr gemeinsam.“ Sie fuhr den Stängel der Blume entlang bis hin zu dem Zylinder eng sitzender Blüten. Wie kleine, lavendelfarbene Motten sahen die aus. Unter Annas Fingernägeln staken schwarze Dreckhalbmonde.
„Blumen magst du aber auch.“
„Ja“, sagte Anna, stand auf und trat dicht neben mich. „Eine Züchtung. Mein ganzer Stolz.“ So nah war sie, dass ich ihren Duft roch. Wilde Lilien. Und dahinter war noch etwas, etwas Ranziges, Morsches.
„Hmm“, sagte ich und wendete mich ab. „Interessantes Hobby. Für mich wäre das nichts.“
„Dann müssen wir für dich eben was anderes finden.“ Anna strich eine Strähne aus dem Gesicht und blickte mich prüfend an. „Du willst zurück?“
„Ja.“
„Wenn du noch ein bisschen Zeit hast, zeig ich dir meinen Garten. Aber geh nur voraus, ich merke, dass du alleine sein willst. Ich komm nach.“ Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und griff nach einem Blumentopf. „Ganz hinten“, fuhr sie fort, „dort, wo du die hohen Weiden siehst, da steht eine Bank. Dort treffen wir uns. Das ist die schönste Stelle. Nur Natur und meine Blumen. Ein paar schenke ich dir zum Abschied. Damit du wiederkommst.“
5.
Die steinerne Bank stand inmitten von Kaskadensträuchern. Über mir verschränkten sich die Äste zu einem Dach, das kaum Sonne durchließ. Nur ein Taschentuchbaum stopfte rahmweiße Blätter zwischen das Grün. Es war schön hier, aber ich hatte genug. Genug von Zweigen, die sich an einem festhakten, genug von Blättern, die sich zu gewaltigen Trichtern rollten, genug von Blüten mit Kopfschmerzduft. Ich sehnte mich nach meinem Schreibtisch und einem starken Kaffee.
Wenn Anna nicht kam, ging ich eben alleine zurück. Wo war der Weg? Vom Weg keine Spur. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse, schob die Zweige zur Seite und ging los. Der Pfad war schmal, kaum mehr als ein Fußabdruck auf dem lehmigen Boden. Schlingpflanzen hingen von den Bäumen und legten einen grünen Schimmer auf meine Haut. Ich kam nur langsam voran in diesem Pflanzentunnel, dessen Zweige und Äste sich näher an mich heranschoben. Und dann endete er. Einfach so. An einem Gestrüpp. Scheiße. Ich horchte. Da war ein Knacken. Die Blätter der Büsche vor mir zitterten, es raschelte lauter, und so, als hätte sie gerade auf diesen Moment gewartet, schlüpfte die Gans an mir vorbei, mitten durch das Pflanzengewirr. Ich zerrte die Zweige auseinander, drückte mich hinein, dem Tier hinterher, auch wenn Dornen und scharfe Zweige mich stachen. Blätter klatschten mir ins Gesicht, aber ich ließ die Gans nicht aus den Augen, irgendwann würde sie mich zum Haus zurückführen, hoffentlich, denn hier gab es nichts mehr, nur Holz und Grün und den weichen Samt fremder Farben. Ein Ast schlug mir gegen die Stirn, ich wischte das Blut am Rock ab. Meine Beine juckten. Als ich über die Haut rieb, griff ich in ein pelziges Nest voller Kugeln, ich zog, endlich löste sich eine. Eine Kapsel voller Widerhaken, die jetzt an meinen Fingern klebte. Ich zerquetschte sie an einem Baumstamm und hob den Rock. Die Schenkel waren übersät bis hoch zum Slip. Schnell ließ ich den Rock fallen und sah nach vorne. Der Rock, die Beine, das war egal, ich musste weiter. Es war so lächerlich, ich hatte mich komplett verirrt. Okay, das hier war das Ried, ein Naturschutzgebiet, aber das war auch Frankfurt. Hier konnte man sich nicht verlaufen. Und doch war es so und ich hatte nichts, das mir raushalf, nur eine Scheißgans.
Wenn ich stehen blieb, stoben Mücken auf, umhüllten mich wie ein Mantel, drangen in Mund und Nase. Ich schlug sie weg und bohrte mich weiter durch das Dickicht, folgte der Gans, als führte sie mich an einer unsichtbaren Leine. Endlich wurde das Gestrüpp spärlicher, ich streifte die letzten Äste zur Seite, vor mir öffnete sich eine Lichtung, auf der ein hohes Gebäude stand. Eine Tür war halb geöffnet.
Ich zögerte kurz, dann hastete ich über das Gras, der Gans hinterher. Ich wusste längst nicht mehr, was mich antrieb, ihr zu folgen, es war nicht nur die Hoffnung, dass sie mich zurückführte. Ich musste hinterher. Als wäre etwas an ihr, was die Rätsel meiner Kinderzeit lösen konnte.
Ich schob die Tür weiter auf und trat hinein in eine Schwärze, die stofflich schien. Als ich stolperte und gegen die Wand prallte, entflammte ein Licht. Ein Bewegungsmelder. Vor mir ragte ein Metallturm auf. Bestimmt vier Meter. An seiner Vorderseite führte eine Wendeltreppe hoch zu einer Plattform. Auf der Rückseite stand ein Behälter, in dem gelbliche Brühe schwappte. Es stank faulig.
Direkt vor mir zischte etwas. Die Gans. Mühselig hüpfte sie die Treppenstufen hoch, schwankte, als stürzte sie gleich. Erst, als ich hinterherhastete, merkte ich, wie schnell sie war. Schließlich stand ich oben. Die Plattform war nicht groß, vielleicht vier Meter im Durchmesser. In ihrer Mitte eine Öffnung, abgetrennt durch ein Geländer. Vorsichtig beugte ich mich darüber. Jauchegeruch schlug mir entgegen. Etwas summte, weit unten ruckte es, dann knirschten, erst langsam, dann immer schneller, zwei Walzen gegeneinander. Darunter blitzten Schneidemesser.
Was war das? Eine gigantische Häckselmaschine? Wo war die Gans? Ich musste das Vieh hier wegholen. Da, genau mir gegenüber hockte sie, auf der anderen Seite der Öffnung. Ich tastete mich hin, vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, hoffte, dass sie nicht zuschnappte, wenn ich nach ihr griff. Sie wich meiner Hand aus, schlüpfte unter der Metallstange durch und erhob sich mit wild schlagenden Flügeln in die Luft. Den Schnabel aufgerissen, fauchend, ein fedriger Dämon mit weißschwarzer Flügelmaske, der über dem dunklen Schacht drohte, bis sie in sich zusammensackte und seltsam verrenkt nach unten fiel. Federn wirbelten, dann nichts mehr, nur ihr Schreien, heiser und seltsam hilflos. Wie ein Kind. Ich stieg über das Geländer, klammerte mich mit den Beinen und einer Hand an der Querstange fest und ließ mich hinab. Vielleicht konnte ich sie hochziehen? Unter mir mahlte es, die Schneidmesser pressten stinkende Luft nach oben. Wieder ein Jammern. Das Licht flackerte, und, wie ein jäher Windstoß, schoss sie neben mir hoch. Ich zuckte. Versuchte, auf die sichere Seite zu kommen. Das Licht erlosch. Mit Wucht krachte sie in meinen Rücken, krallte sich fest und peitschte die Flügel gegen meinen Kopf. Meine Nase blutete, ich bekam kaum Luft, die Gans klebte an mir wie eine hungrige Harpyie, zerriss die Haut an meinem Rücken und stieß den Schnabel in den Hals, den Nacken, die Schultern. Ich wand mich, trat nach ihr, sie verbiss sich in den Schenkel, zerrte an dem weichen Fleisch und drosch weiter auf mich ein, bis ich den Halt verlor und mit den Beinen voran in den Schacht knallte. Der Ruck zerrte an meinen Handgelenken, doch ich hielt, zog die Knie an, fand einen Vorsprung in der Wand und drückte mich nach oben. Halb ragte ich aus dem Loch, lauschte in die Dunkelheit, um die Gans zu orten. Ein Zischen von der Seite und dann der Hieb. Direkt ins Auge. Ein Schmerz wie heißes Öl. Ich trat um mich, etwas schlug gegen meinen Fuß und presste ihn zwischen die Walzen, verbog ihn wie Gummi. Saure Flüssigkeit quoll mir in den Mund. Als ich die Augen aufriss, war das Licht wieder an. Direkt neben mir kauerte die Gans. Ich sah sie nur durch einen Schleier von Blut, ihre Augen, die rosa Zunge, die wie ein dicker Wurm aus ihrem Schnabel stak. Es war nur ein Vogel, ein schrecklicher Vogel, der seinen Instinkten folgte. Doch irgendwo, ganz weit hinten, da spürte ich einen kleinen, festen Kern jenseits der Instinkte. Ganz langsam senkte sie den Kopf und schälte einen Streifen Haut von meiner Hand, einen rohen, brennenden Streifen, fast zärtlich schälte sie und so leicht, als zöge sie die Haut von einer gekochten Kartoffel.
Ein Schatten fiel über mich. Haarwirbel, keine Federn. Anna. Ihre Hände legten sich auf meine. Unendlich langsam umfasste sie meine Gelenke, ich spürte das Dehnen im Arm, als sie zog, das Reißen, als meine Füße sich endlich von dem Metall unter mir befreiten. Anna, dachte ich, Anna, Gottseidank. Und dann der Ruck, als sie meine Hände losließ. Einfach losließ. Ich rutschte, fasste im letzten Moment nach und hielt. Annas Gesicht schwebte über mir, ein helles Oval, aus dem ihre Augen leuchteten, und das Lächeln, so schön, als hätte ihr Gesicht tausend Lampen angeknipst.
„Anna. Was tust du?“
„Was glaubst du?“ Ihre Stimme war leise, fast ein Singen. Und dann wieder ihre Hand auf meiner, wie sie den Zeigefinger packte, ihn drehte, ihn knirschend aus dem Gelenk wand.
Ich wusste nicht, ob ich sprach oder dachte. Bitte Anna, tu das nicht. Ich wusste nicht, ob sie antwortete. Ihre Stimme war ein hellrot flimmerndes Band. Ich mag dich, sagte es, ich mag dich so, wie man eine große Schwester mag. Aber ich wurde fortgeschickt. Wegen dir und deiner Mutter. Das Schandkind. Du erinnerst mich an das, was hätte sein können. Und an deinen Vater, jetzt, wo er verschwunden ist. Meine Blumen hier, die mögen dich auch. Die brauchen dich.
Und wieder der Druck auf meiner Hand und das Knacken des nächsten Fingers.
Hilft mir denn keiner?
Wer soll dir helfen? Wir wählen nur Menschen, die es zu uns zieht. Meine Alja, die riecht das. Sie nähren uns, diese Menschen; meine Blumen und mich und Alja.
Meine linke Hand ließ los, sie hing nach unten, ein abgeschältes Stück Fleisch, meine Füße schmerzten nicht mehr, da war nur taubes Gefühl, ich musste kotzen. Helles, schmerzendes Licht drang in mich ein wie ein Messer, etwas Hartes riss an meinen Haaren, zerdrosch die Kopfhaut, Federn stülpten sich über meinen Schädel, eine atmende, erstickende Haube aus Federn, und bevor der Körper der Gans mich umhüllte und hinunterdrückte in das fetzende Wirbeln der Walzen und Messer, sah ich noch einmal Annas Gesicht, die Haarwirbel, das Lampenlächeln und eine Spur von Traurigkeit in ihren Augen. Und ich sah das Gesicht meines Vaters wie einen fernen Schimmer und ich fragte mich, ob er wirklich im Main verschwunden war. Dann bedeckte mich die Haube, drang in mich ein, saugte und schlang, schlang und saugte, während mein Körper zerriss.
6.
Nichts tut weh, die Haut fühlt sich ein wenig taub an, aber ich lebe. Irgendetwas hat mich gerettet. Ich genieße die Stille und die Luft, die mich umfließt wie feiner Batist. Ich will den Wind spüren und den lichtgrauen Himmel mit seinen Wolken. Ich will hinaus auf die Straße. Weiter und weiter bis zu den Sommerfeldern. Doch ich weiß, ich muss bleiben. Die Luft schmeckt nach feuchtem Gras und frühem Morgen. Ich warte. Die Leute, die am Haus vorbeilaufen, sind mir gleichgültig. Auch die Eintretenden. Doch dann. Ein Mann blickt auf das schwarzweiße Emailschild am Eingang, geht in den Hof. Sein Blick gleitet über das Haus und die Blumen, bis er die Marmorsäule entdeckt. Ich hebe meinen Kopf, prüfe den Geruch, der von ihm zu mir strömt, und fessele ihn mit meinem Blick. Ich rieche seine Suche und breite meine Flügel aus.