Der Feind
12. Tag des 10 Monates des 12. Jahres der 38. Regierung
Sofort nach dem Aufstehen wurde mir klar, dass es ein schlechter Tag wird, ein Tag an dem die Nacht schon kurz nach Sonnenaufgang über mich herfallen wird.
Nein, ich glaube nicht, dass es ein Schicksal gibt und selbst wenn ich daran glauben würde, ließe sich in diesen unruhigen Zeiten – so oder so – auch der Verlauf der nächsten Stunden nicht erahnen. Die Nacht blieb weil ich sie nicht mehr, durch einen Druck auf den Lichtschalter, töten konnte. Wehmütig schlurfte ich in mein Wohnzimmer, stieß mir meine Zehen an irgendetwas, heulte deswegen lautlos auf – es störte mich nicht, da es meiner heutigen Stimmung ziemlich genau entsprach.
Zum Glück war wenigstens der Kühlschrank noch ein klein wenig kälter als der Rest der Wohnung, was zu einem leidlich angenehmen aber langweiligem Frühstück führte. Früher störte mich das Grinsen der Frühstücksfernsehmoderatoren immer, so blendend weiß, so heiter, so einstudiert. Trotzdem tat ich es mir jeden Morgen an, meiner Gefühle wegen. Nach dieser Stunde ging ich aufrichtig angewidert zur Arbeit was ich einem quallenartigem ,vollständig gefühllosem, leerem Geisteszustand vor zog.
Nun gab es – Feind sei dank – kein Fernsehen und auch kein Radio mehr. Die Zeitung kam noch, früher war sie gleich bleibend miserabel, sensationsgeile Artikel. So kurz und einfach als irgend möglich gehalten, dabei oft genug voller offensichtlicher inhaltlicher und orthographischer Fehler, ich war schlicht zu faul oder auch zu beschäftigt oder verdiente zu Gut um eine Kündigung zu schreiben. Heutzutage war die Zeitung noch miserabler geworden, mir aber nun unersetzlich, nur mehr durch die Zeitung konnten ich und die anderen Einwohner der Stadt unseren, vom städtischen Alltag gefangenen, Blick auf den Rest der Welt richten. Wie fast jeden Tag erfuhr ich, dass diese Welt immer kleiner wurde, wo genau der Feind stand konnte mir auch die Zeitung nicht sagen, sie wusste aber, dass unsere Kämpfer schon mit der Straßenbahn zu ihrem Sammelpunkt gefahren werden, danach noch ein Marsch – selbst wenn es ein längerer Marsch wäre – der Feind war nahe.
Die Titelseite hätte ich, nur dadurch, schon erlesen, für mehr fehlte mir die Energie, auch war es sehr mühsam die Zeitung im, mürrisch durch die Fenster sickerndem, Licht eines nebligen Morgens zu lesen. Nach kurzem Kampf mit mir selbst kroch ich in meinen Mantel nahm die Straßenbahn, die zu meiner Freunde kaum besetzt war und fuhr ins Büro.
Offiziell ist meine Behörde für die Optimierung der städtischen Infrastruktur verantwortlich, leider wurde unser Etat kriegsbedingt sehr stark gekürzt und reicht nun gerade noch für unsere, immerhin recht ansehnlichen, Gehälter sowie für unseren besser noch nicht einmal anzusehenden Kaffeeautomaten. Auch in den Büros war heute nicht viel los, ein paar untergeordnete Beamte waren damit beschäftigt Computer und andere Bürogeräte fortzuschaffen, andere vernichteten Akten, würde der Feind einmarschieren sollte ihm das Wiederherstellen des öffentlichen Lebens so schwer als nur irgend möglich gemacht werden. Da saß ich nun, wie so oft in letzter Zeit, trank eine Tasse Kaffee nach der anderen und versuchte mit meinem Kollegen Sonneborn ein Gespräch, oder zumindest etwas das mit sehr viel gutem Willen als Gespräch durchgehen konnte, zu führen.
Es war beschwerlich, nicht so sehr wegen Sonneborn, der zweifellos ein offenherziger und auch intelligenter Mensch ist, sondern vielmehr wegen Sonneborns Kriegszustand, er wirkte noch kränker als üblich. Es begann vor drei Monaten; Sonneborns offensichtlichste Eigenschaften waren schon immer seine, durch chronisches Leberleiden verursachte, absonderlichen Hauttönungen und seine, durch diverse Buttons und mit Parolen bedruckte Hemden, nach Außen getragene Liebe zur Heimat. Als klar wurde, dass der Feind nicht in den fernen, uns hier fast unbekannten, Außenbezirken der Union aufgehalten werden konnte hielt er flammende Reden für den freiwilligen Kriegsdienst, als der Feind weiträumig die Grenzen der Kernlande überschritt verkündete er pathetisch mit dieser Schande nicht leben zu können. Seitdem trank er sich systematisch zu Tode.
Inzwischen soff er im Grunde ununterbrochen und war – soweit ich es als Laie beurteilen kann – seinem Ziel schon recht Nahe gekommen. Obwohl ich seine Geradlinigkeit bewunderte unternahm ich keine ähnlichen versuche, im Gegensatz zu Sonneborn kann ich mich nicht erinnern jemals politische Überzeugungen gehabt zu haben. Das mir nun die langen Laberrunden, die meine Arbeit oft erst erträglich gemacht hatten genommen waren, schmerzte sehr, so dass ich immer wieder in Versuchung kam, zumindest hin und wider und nur tageweise auch etwas Patriotismus zu entwickeln. Auch waren mir die Flaschenberge im Büro etwas peinlich, ich befürchtete unsere Kollegen würden dadurch evtl. ein etwas verfälschtes Bild meines eigenen Alkoholkonsums bekommen. Da Sonneborn leider nicht zu irgendeiner Reaktion zu bewegen war wanderte ich von Büro zu Büro, redete hier, scherzte dort, versuchte – leider erfolglos – den Sinn des Lebens zu ergründen und hätte, als die Arbeitszeit zu Ende war, nicht wirklich sagen können, was ich heute getan oder auch nur über was ich geredet hatte.
Zum Glück fragte schon längst keiner mehr. Bevor ich heim ging lieh ich mir zwei Flaschen von Sonneborns Vorrat, aß später zu Abend, stellte dabei auch erfreut fest, dass der Strom wieder da war und besoff mich schlussendlich auf´s gründlichste.
13.Tag.....
Hätte ich heute auf den Lichtschalter gedrückt, er hätte die Nacht getötet. Da ich aber erst spät Vormittags erwachte kam genug Helligkeit durch die Fenster gesprungen. Es wäre ein schöner Auftakt gewesen, hätte die Helligkeit nicht auch beleuchtet, dass ich mich Nachts, offenbar unbewusst aber mit großer Entschiedenheit übergeben hatte. Wieder wurde ich wehmütig, dachte an meine frühe Jugend zurück, in der mir ein mit Erbrochenem überschwemmtes Bett nicht nur ekelhaft, sondern auch als weiter Beweis meines radikalen, die gesellschaftlichen Konventionen verhöhnenden, allein deswegen lobens- und liebenswerten Lebenswandels erschienen wäre.
Die Zeitung wusste nur von schweren Kämpfen zu berichten durch die wieder ein paar Kilometer unserer Erde an den Feind verloren gegangen waren.
Auch nach meiner, heute etwas langwierigen Morgentoilette reizte mich die Vorstellung den ganzen Tag verkatert im Büro zu sitzen absolut nicht. Da mir aber auch nicht einfiel was ich stattdessen tun könnte beschloss ich mein Frühstück, mit dem Mittagessen zusammen, im Stadtpark zu zelebrieren, schließlich vermochte niemand zu sagen wie oft ich den Stadtpark noch sehen würde.
Als ich aus dem Haus ging stellte ich, wie jeden Tag fest, dass ich als nicht ganz kleiner Staatsdiener mehr bewohnen sollte als 2 Zimmer im 7. Stock eines mit Waschbetonplatten verkleideten Pkattenbaues, selbst wenn 2 Zimmer mir im Grunde genügen, ich meine Nachbarn nicht kennen lernen muss und die niedrige Miete mir viel Raum für das eine oder andere Extra lässt. Die Starßenbahnhaltestelle war mit Menschen überlaufen, selbst wenn die Straßenbahn selbst nicht genau so überfüllt gewesen wäre hätte ich lange warten müssen. Ohne anzuhalten lief ich an der Haltestelle vorbei, die Vorstellung zwischen Menschen gedrängt zu werden, ihren Gestank zu riechen, das blöde Gewäsch mit anzuhören, mich von ihrer Angst vor dem Feind anstecken zu lassen, so stelle ich mir eine meiner ganz persönliche Höllen vor. Und wenn die Fahrt nicht ewig, sondern nur wenige Minuten gedauert hätte, selbst Sekunden in der Hölle sind nichts, wonach ich mich sehne.
Leider war es auf den Straßen kaum weniger unerträglich, alle Welt schien heute auf den Beinen, an jeder Ampel stand man in Menschenhaufen. Selbst an den Feiertagen war das Gedränge noch nie so schlimm gewesen. Reichlich gestresst betrat ich meinen Stammsupermarkt, auch dort konnte ich keine zwei Schritte machen ohne angerempelt zu werden. Die Regale waren die einzig leere Fläche, so das ich mich mit irgendwelcher übrig gebliebener Dosenware begnügen musste. An den Kassen, die alle von Familien und deren überfüllten Einkaufs wagen verstopft waren, dachte natürlich niemand daran mich und meine wenigen Dosen und meinen neu gekauften, rostfreien, Dosenöffner vorbei zulassen. Ich verließ den Supermarkt nach fast zwei Stunden, wäre ich direkt vor dem Eingang zusammengebrochen hätte es mich nicht im mindesten Überrascht. Bis zum Stadtpark hätte ich noch mindestens eine halbe Stunde zu laufen, ungefähr eine halbe Stunde zu viel für meinen Geschmack. Der kleine, ziemliche hässliche, sehr windige Parkverschnitt einer Wohnsiedlung nahe des Supermarktes war meine Rettung. Selbst dort saßen ein paar, ärmlich wirkende Menschen lautstark zusammen. Als ich es mir so gemütlich wie möglich gemacht hatte, stand ich vor einem neuen Problem: Dosen hatte ich, einen passenden Dosenöffner auch, aber die nächste Mikrowelle war weit weg.
Wahrscheinlich hätte ich irgendjemand um Feuer bitten können, aber ich hatte meinen Bedarf an Zwischenmenschlichem für diesen Tag mehr als erfüllt. Ich fraß das Dosenzeug ganz einfach kalt in mich hinein, zugegeben keine sehr gute Idee, mir wurde speiübel, kaum eine halbe Stunde später übergab ich mich. Schon wieder. Zu meiner Überraschung blieben spöttische Blicke aus, wahrscheinlich war der Abschaum hier es gewohnt sich schon Mittags die Seele aus dem Leib zu kotzen. Ich war es nicht, mir war es peinlich, mit gesenktem Blick schlich ich zu einem Brunnen („Kein Trinkwasser“) und spülte mir notdürftig den Mund. Müde und gelangweilt ging ich weiter, wieder ein Tag der früh verloren war, fast sehnte ich mich nach einer Offensive des Feindes, oder nach einer Offensive unserer Truppen, oder nach einem Luftangriff, egal was, nur laut, die Stille hing bedrückend über mir. Eine Allee, Bäume links und rechts, stattlich, wie aus einem Buch der Romantik, aus der Zeit gefallen – wer macht denn heute noch aufheben um ein klein wenig, erfolglos die Urbanität zu verwischen versuchende, Natur...
Als ich das Taxi kommen sah, sprang ich einfach auf die Straße, Bremsen jaulten gequält auf, ich hatte mich nicht verschätzt das Taxi kam Nahe genug, aber nicht gefährlich Nahe zum stehen. Eigentlich hatte ich einen wütenden, schreienden Fahrer erwartet, aber nein, er blickte ruhig vor sich hin, glatt durch mich hindurch. Ich riss die Türe auf und fiel in den Sitz „In die Eichendorffstraße 22, bitte“. Kommentarlos fuhren wir an, mein Fahrer war ein älterer, deprimiert wirkender Mann, ich hatte nicht unbedingt das Gefühl seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben. Neugierig schaute ich aus dem Fenster, ich wusste nicht was mich in der Eichendorffstraße erwarten würde, nicht einmal in welchem Teil der Stadt sie lag, dass sie existierte war mir nun immerhin klar, eine nicht existierende Straße hätte zweifellos einen Kommentar hervorgerufen. Die Bäume und die Romantik hatten mich auf diese spontane Idee gebracht, immerhin würde ich dadurch etwas Zeit tot schlagen. Die mehr oder minder gepflegten Altbauten meines Bezirks waren schnell verschwunden und durch ein Areal verlassen und schäbig wirkender Bürogebäude ersetzt worden. Darauf folgten die typischen schnell und billig gebauten Riesenplattenbauten, die sozialen Brennpunkte der Stadt, was sich seit Kriegsbeginn allerdings spürbar entschärft hatte schließlich waren die jüngeren Bewohner dieser Stadtteile besonders eifrige Kriegsfreiwillige. Taxifahrer ist doch ein schrecklicher Beruf dachte ich bei mir, die Langeweile, die Möglichkeit von Wahnsinnigen, Besoffenen, Verzweifelten oder einfach Bösartigen ausgeraubt und getötet zu werden und am allerschlimmsten irgendwann, nach vielen Jahren, kennt man seine Stadt, ihre Straßen, ihre Gebäude, ihre Plätze, wie soll man dann noch Neues finden? Vielleicht ist diese Stadt aber auch zu groß, verändert sich zu schnell um sie jemals wirklich zu kennen. Das Gesicht des Fahrers sprach gegen diese Vermutung und was die Veränderungen angeht, unterliegen Baumaßnahmen einer Behörde und ich konnte mir nicht vorstellen dass dort wesentlich anders gelebt wurde als in meiner eigenen. Inzwischen fuhren wir durch irgendeinen Vorort, ich konnte beim besten Willen nicht feststellen durch welchen, die kleinen Häuschen bemühten sich zwar tapfer individuell zu wirken, aber letztlich blieb der Erfolg aus. Als wir uns, nicht wenige Minuten später, auf der Ringstraße um die Innenstadt befanden wurde ich etwas unruhig, als wir irgendwann wieder ein einem Vorort waren und ich einen kurzen Blick auf den Taxameter geworfen hatte bellte ich dem Fahrer überrascht und wütend „Anhalten! Halten sie sofort an!“ zu. Eigentlich hätte ich mich beschweren sollen, war er mit mir doch ganz offensichtlich einen sehr kostspieligen Umweg gefahren. Hätte er nicht so jämmerlich ausgesehen oder hätte er während der Fahrt versucht mich zu unterhalten, ich hätte die Szene geliefert. So aber zahlte ich und stieg ruhig aus. Die Tatsache, dass ich mich im Brentanoweg wiederfand war mir sogar ein – schnelles – Lächeln wert. Inzwischen sehr hungrig ging ich in die erstbeste Kneipe und bestellte Bratkartoffeln mit Schnitzel, nur dank meines Hungers konnte ich das fettige Etwas auch essen. Danach nahm ich wieder ein Taxi Richtung Heimat. Dieser Fahrer setzte mir zu Anfang auseinander warum unsere Regierung das Letzte ist und der Feind demnächst einmarschieren wird, ging dann zu einer komplizierten Beziehungsgeschichte über, der ich nicht folgen konnte, nur um mir während der letzten fünf Minuten zu erklären warum unsere Regierung, seiner Meinung nach, gute Arbeit leistet und der Feind „an unserem Kampfeswillen zerbrechen wird“. Ich nahm den größten Schein aus meinem Geldbeutel, gab aber kein Trinkgeld, was mir einige Bemerkungen über den Charakter von „so Arschlöchern wie dir“ einbrachte.
Den Rest des Tages verbrachte ich in der Horizontalen, leider allein, aß meinen Kühlschrank leer, las einige Bücher die noch ungelesen waren und dachte nach was ich tun könnte wenn der Feind tatsächlich einmarschiert.
14.Tag........
Ich erinnere mich nie an meine Träume und das ist auch gut so – mein erster Gedanke nachdem ich aus dem Schlaf geschreckt war. Ich hatte nicht verschlafen, hatte mich nicht übergeben und der Lichtschalter funktionierte. Schön, vielleicht würde dieser Tag besser verlaufen. Routinemäßig ging ich meine üblichen Schritte, nahm die Zeitung aus dem Briefkasten: „FEIND RÜCKT VOR! FRONT NUR NOCH 70KM ENTFERNT!“ Das konnte doch nicht stimmen, nach 2 Tagen Vormarsch war der Feind nicht mehr mit der Straßenbahn erreichbar sondern 70 km entfernt? Lächerlich!Wütend über die Schmieranten ging ich wieder in die Wohnung, brachte mein Frühstück in Rekordzeit hinter mich und machte mich auf den Weg. Im dritten Stock traf ich mit Frau Weizenbaum zusammen, obwohl ich mich bemühte gehetzt zu wirken kam ich um das obligate Gespräch nicht herum. Anders als noch letzte Woche machte sie einen ganz zufriedenen Eindruck, da „70 km ein ganz schönes Stück sind“ und „die Feinde das so schnell nicht packen werden“ weswegen sie jetzt ganz beruhigt eine Freundin besuchen könne, die sie schon seit 60 Jahren kenne. Womit wir wieder beim alten Thema waren, die Weizenbaum war alt, uralt, so alt dass sie schon alterlos wirkte, eine kleine gebrechliche Person deren Haut so dünn und blass wirkte dass man den Eindruck hatte es bedürfe nur eines festen Blickes um direkt in ihr inneres zu schauen. Wie viele alte Menschen erzählte sie immer wieder Geschichten aus ihrer Kinderzeit und vom Kriege den sie, in irgendeiner entfernten Provinz mitgemacht hatte.
Natürlich war ihr nicht aufgefallen dass die Zeitung offensichtlich einen Fehler gemacht hatte, natürlich kam ich dank ihr zu spät im Büro an. Ausnahmsweise waren fast alle Kollegen gekommen, schließlich sollte noch vor der Mittagspause ein Vortrag stattfinden, es bestand Anwesenheitspflicht. Sonneborn hatte es tatsächlich geschafft sich in seine Heimatfrontuniform zu schmeißen, die vor Medallien glitzerte. In der Kantine, die zu diesem Zweck etwas geschmückt und sogar geputzt worden war legte ein Hauptmann der Panzerwaffe dann auch sofort los. Ich lehnte mich zurück und lies das Gebrüll über mich ergehen, Der Feind, dessen Grausamkeiten, die heldenhafte Armee die siegreich sein wird, die Überlegenheit unserer Waffen, kommt, kommt werdet Freiwillige, lernt die Welt kennen, tötet ein paar Feinde etc... Nach fast einer Stunde unterbrach Sonneborn wirkungsvoll den Vortrag indem er aufstöhnend vom Stuhl fiel. Auch während des Vortrages war er sich selbst treu geblieben und hatte weiter gesoffen. Ich hatte eigentlich nicht das Gefühl dass der Hauptmann der Szene Beachtung schenkte, auch wenn er kurz danach über Schmarotzer, die sich in der Heimat die Ärsche fett fressen und die Hirne weg saufen, ausließ - während unsere tapferen Kämpfer mit ihrem Blut bereits die Erde der Kernlande düngen müssen. Nach ewigen Gewürge wie toll die Armee sei, was für ein Erlebnis der Krieg, wie positiv sich ein gelegentliches Stahlbad auf den Charakter auswirke kam der obligate Aufruf nun die bereitliegenden Meldebögen auszufüllen. Der Saal leerte sich.
Ich beschloss meine Zeit nicht mehr im Büro zu verschwenden sondern unserer allseits geliebten Zeitung einen Besuch abzustatten, ich kannte den Chefredakteur, zumindest waren wir früher befreundet gewesen. Da die Straßen heute recht ausgestorben wirkten schaffte ich den Weg in ein paar Minuten. Allein der Aufenthalt beim Pförtner dauerte wesentlich länger, es mag ja notwendig sein sich vor feindlichen Agenten zu schützen, aber eine komplette Leibesvisitation bei jedem Besucher der Redaktion ist meiner Meinung nach doch etwas überzogen. Nach der Prozedur landete ich zuerst bei der Anmeldung. Dort wurde ich darüber aufgeklärt dass ich einen Besucherausweis für die Zeit meines Hierseins benötige, da ich leider nicht im Voraus Bescheid gesagt hatte müsste ich nach Raum 302.
Raum 302, war ein kleines, fensterloses Zimmer in dem ich nur einen Aktenschrank, zwei Stühle, einen Schreibtisch und eine, schätzungsweise vor 10 Jahren verstorbene, Zimmerpflanze fand, der Sachbearbeiter war ausgeflogen. Obwohl mir klar war, dass jeder Mensch manchmal den Kaffeeautomaten oder die Toilette besuchen muss war ich spontan wütend auf diesen Knilch der mir meine Zeit stahl. Immerhin würde ich meine Wut ohne Hemmungen an ihm auslassen können. Man musste nur die Büros betrachten, wer in einen solchen Schrank von einem Büro gesteckt wurde, ist, in den Augen der Kollegen, kaum mehr ein menschliches Wesen und somit auch nicht in meinen. Ich war, wie immer zur Solidarisierung mit den Verhaltensweisen aller Staatsdiener, zu denen auch die Angestellten dieser Zeitung gehörten bereit. Mit großem Getöse flog die Tür auf, der Sachbearbeiter trug laut Namenschildchen den - passenden – Namen „Eiche“ war wenigstens 1,90m groß und fast ebenso breit - ein Woge wandelndes Fleisch. In dem kleinen Raum wirkte er grotesk. „Tachchen, se woll´n den Chef in ´ner jeschätflich´n Anjelejenheit sprech´n, wah!?“ „Nein, eigentlich nicht, ich bin ein alter Freund...“ „Wat woll´n se dann bei mich?“ „Bitte?!“ „Ick stelle Besucherausweise für jeschäftliche Anjelegenheiten aus, bei ihr´m Problem jehen se ma besser nach zwo-fuffzich“ „Na schön. Danke. Auf Wiedersehen“ „Tschö“.
Raum 250 unterschied sich nur durch den Sachbearbeiter von Raum 302. „Guten Tag, sie wünschen?“ „Ich möchte einen Besucherausweis für...“ „Selbstverständlich, dafür bin ich ja da, der Grad ihrer Verwandtschaft zum Chef bitte.“ „Verwandtschaft?“ „Selbstverständlich Verwandtschaft.“ „Ich bin nicht mit ihrem Chef verwandt“ „Warum sind sie dann hier?“ „Herr Eiche aus 302 hat mich zu ihnen geschickt, ich bin ein alter Freund...“ „Verstehe, da sind sie falsch, bitte begeben sie sich nach Raum Numero 7-0-2, auf Wiedersehen“.
In Raum 702 stellte man Besucherausweise für den Tag des diesjährige Klassentreffens des Chefs aus, keinesfalls Ausweise für jeden x-beliebigen Tag. In Raum 437 stellte man nur Ausweise für sexuelle Dienstleister des Chefs aus. Was man in Raum 518 ausstellte werde ich wohl nie erfahren, ich wartete über drei Stunden alleine, bevor ich in Raum 519 ging, erfuhr dass Hr. Palme von 518 krank sei, nein es gäbe keine Aushilfe, nein man wisse nicht welche Zuständigkeiten Hr. Palme habe, nein Besucherausweise stelle man nicht aus, Raum 679, dort sollte ich mich melden. Hr. Birke in Raum 679 schickte mich nach Raum 702, ich war schon wieder im Aufzug als mir klar wurde, dass ich dort schon gewesen war, weswegen ich in Raum 699 einen kurzen Zwischenstop einlegte, einen Kaffee bekam und nach Raum 550 verwiesen wurde. Da ich aber weder eine ansteckende Krankheit hatte noch von Ungeziefer befallen war bekam ich, nach einer eingehenden Untersuchung durch einen Arzt, leider keinen Sonderbesucherausweis. Ich möge verschwinden und hier keine Lügen erzählen, oder solle man die Sicherheit rufen? Da ohnehin bald Büroschluss war ging ich, zerschlagen, zurück zur Anmeldung (Raum 101), als man mich fragte wie denn mein Gespräch verlaufen sei, bekam ich unpassender weise einen Schreikrampf. Der plötzlich durch ein „Hey! Du hier?!“ unterbrochen wurde.
Vor mir stand mein alter Freund Thomas, scheinbar nicht wirklich älter geworden. Ich war perplex und lies mich willenlos in die Kneipe gegenüber einladen. Nach etwas Smalltalk sprach ich ihn auf die heutige Schlagzeile an, was ihn sichtlich verlegen machte. „Nun ja, so was kommt vor, da hat ein Mitarbeiter einen Fehler gemacht“. „Wo steht der Feind den Wirklich?“ Schulterzucken „Woher soll ich das wissen?“ „Na, du wirst doch von der Regierung auf dem laufenden gehalten, auf deinem Schreibtisch liegen die Berichte von den Fronten“ Breites Grinsen „Von wegen, zur Regierung haben wir schon seit Jahren keinen Kontakt und Frontberichte habe ich meinen Lebtag noch nicht gesehen“ Entsetzen meinerseits „Soll das heißen, ihr saugt euch die Nachrichten aus den Fingern?“ „Och nö, das kann man so nicht sagen, ich habe eine paar Mitarbeiter die ein gutes Gespür für das Getue des Feindes haben und wir werten natürlich die Gerüchte und das Gerede unserer Informanten aus“ „Und die Informanten kommen von der Front“ „Keine Ahnung das übernehmen meine Mitarbeiter“ „Vielleicht könntet ihr auch gelegentlich selbst an der Front nachsehen?“ „Bist du wahnsinnig, ich jage meine Mitarbeiter doch nicht in den Tod, soweit ich weiß ist noch keiner der Freiwilligen von der Front zurückgekommen“ Das machte mich wütend. „Dummes Geschwätz bei uns hat heute Morgen ein Hauptmann, der gerade von der Front kam, einen Vortrag gehalten“ Wieder ein Grinsen „Ach und das weißt du genau, dass der gerade von der Front kam, ja?“ „Glaubst du die Regierung lügt uns so schamlos an“. Kein Grinsen mehr „Wo liegt der Regierungssitz der Union?“ „Hmm...na ja der hat wegen dem Krieg ein paar Mal gewechselt, früher lag er in Launenburg“ „Ja, Launenburg, in einer der Randprovinzen die noch niemand, den ich kenne, je gesehen hat, lächerlich und sowieso, wer ist an der Regierung, wer hat sie überhaupt gewählt?“ Verwirrung meinerseits „Die 38. Regierung, wer genau...ich weiß nicht und Wahlen gibt es während des Krieges nicht“. „Wir sind jetzt beide 37 Jährchen alt, mein Lieber, ich weiß nicht einmal wann das letzte Friedensjahr war und du weißt es auch nicht, vermute ich. Also hör mir mit der Regierung auf, ich weiß nicht was die wollen, noch nicht Einmal wer die sind, hoffentlich wird der Feind bald vertrieben, damit wir wieder ein klein wenig über die Stadt hinaus sehen können“. Nachdenklich trank ich meinen Wein, ich hatte immer geglaubt. dass zumindest die Zeitung, als Verbindung zur Welt, blieb und das ich, wenn ich Interesse am Weltgeschehen haben sollte, Thomas schon ausquetschen könne. Aber nun - er war so Unwissend wie ich, wie alle, nur konnten wir wenigstens Schweigen, er aber musste immerzu lügen, nicht beneidenswert. „Die Schlagzeile heute war falsch, sagst du, was wäre denn die Geplante gewesen?“ „Front eingedrückt, Feind nur wenige Kilometer entfernt“. „Wäre daran etwas Wahres.?“ „Wie man es nimmt, wie die Front aussieht weiß keiner, dass unsere Kämpfer den Feind nicht mehr aufhalten können vermuten einige sehr intelligente Leute.“ „Du glaubst....“ „Ja, diese Stadt wird fallen, es ist schon längst keine Frage von Monaten oder Wochen mehr.“ Ich, schüchtern. „Sollte man nicht fliehen.“ Wieder ein Lachen, ein geradezu hysterisches „Verstehst du denn nichts? Der Feind hat einen Ring gebildet, wir sind seit Monaten von der Außenwelt vollkommen abgeschnitten“. „Warum habt ihr darüber nichts gebracht?“ „Schau dich doch um, alles normal heute während gestern noch das Chaos herrschte, die Leute glauben an uns, blind. Und spätestens wenn die Geschütze in die Stadt schießen werden wir wieder die Wahrheit bringen, zumindest soweit wir sie überhaupt erkennen können. Aber lass uns nicht mehr über den Krieg reden, nach der Arbeit sehne ich mich nach friedlichen Stunden“.
Sie wurden dann auch friedlich diese Stunden, wir saßen noch eine Zeit lang in der Kneipe, liefen dann durch die Stadt zu anderen Kneipen, redeten von den alten Zeiten, wurden betrunken, trennten uns, versprachen uns gegenseitig uns öfters zu sehen. Lange Zeit fand ich keinen Schlaf.
15. Tag.....
Noch immer müde kroch ich aus dem Bett, zwar musste ich heute nicht ins Büro, zwar blieben die üblichen kleinen Zwischenfälle aus, dennoch blieb meine Stimmung trübe FRONT EINGEDRÜCKT! FEIND NUR WENIGE KILOMETER ENTFERNT! Schön zumindest musstet ihr euch für heute keine neue Schlagzeile ausdenken und nach allem was Thomas mir erzählt hatte war diese Schlagzeile so gut wie jede andere.
Als ich aus dem Fenster schaute bemerkte ich, dass sie ihre Wirkung schon getan hatte, die Menschen waren in Panik, eine endlose Blechlawine stand auf den Ausfallstraßen Richtung Norden, überall Gehuppe, wild gestikulierende Menschen, nichts ging mehr. Es wäre die Aufgabe meiner Behörde gewesen genau diese Situation zu verhindern, aber ohne Geld, ohne Bürogeräte, durch das Warten auf die Entscheidung fast gelähmt – nichts zu machen. Natürlich glaubte ich der Zeitung nichts mehr, die Regierung war weiß Gott wo, aber all die Menschen auf den Straßen sprachen eine deutlich Sprache, unser Untergang schien eingeläutet. Ich beschloss eine weitere Erinnerung an frühere Tage, meine Freundin Tanja zu besuchen. Wir hatten uns schon lange nicht mehr gesehen, früher, in den Jahren vor meinem Abitur, war das noch anders, damals sahen wir uns häufig und gern. Was mir schwer war, über was ich mir den Kopf zergrübelte, was ich meistens dann doch nicht tat, konnte sie in Angriff nehmen. Ihr Nachdenken war eine nützliche Ergänzung für gewisse Stunden, meines war ein Gift das mich schon immer behindert hatte. Nach der Schulzeit reduzierte sich das ganze zu erst auf die Wochenenden dann auf manche Wochenenden später auf seltene Tage und war irgendwann vorbei. Die Abende die oft aus fast nichts bestanden und ihre Qualität nur aus den Beteiligten gewannen vermisste ich bald, anders als auf dem Lande, erwartet die Stadt einen Rahmen oder einen gebastelten Grund für einen Abend. Zwar ist dieser meist nutzlos, wird auch als nutzlos erkannt, dennoch besteht man darauf. Soweit ich es aus spärlichen Briefen, von anderen alten Freunden, mitbekam heiratete sie während ihres Studiums, erwartungsgemäß, einen totalen Vollidioten. Die Beziehung endete nach zwei Jahren mit einem gebrochenen Unterkiefer und einer Geldstrafe. Vor einigen wenigen Jahren zog sie hierher in die Stadt, wir sahen uns zwar regelmäßig aber sehr selten. Offensichtlich war heute fast jeder mit dem Auto auf der Flucht, so das die U-Bahn, was sonst fast nie vorkommt, angenehm leer war. In Tanjas Bezirk, im Süden der Stadt, angekommen fiel mir auf, das auch hier die Blechlawine zum stehen gekommen war, aber anders als in meinem Bezirk schienen fast alle in Richtung Süden zu wollen. Als Tanja, mir die Tür öffnete erschrak ich. Zwar war das Alter an ihr keineswegs so spurlos wie z.b. an Thomas vorbeigegangen, aber diese neuerliche Veränderung innerhalb nur einiger Wochen entsetzte mich. Die Wangen eingefallen, riesige Tränensäcke, das Haar wirr und ungewaschen wirkend, Augen wie zwei alte blinde Spiegel. Ein Wrack. Ohne Begrüßung, mit immer wieder vom hysterischen ins weinerliche wechselnder Stimme, wurde ich gebeten ihr beim Einpacken ihrer Sachen zu helfen. Mürrisch nahm ich die herumstehenden Kartons und brachte sie ins Auto. Als ich währenddessen kurz ins Bad wurde mir einiges klar. Wenn sie die herumstehenden Medikamente regelmäßig einnahm, dürfte sie wenig Kontakt mit der Realität haben, es war alles da von Prozac über Ritalin bis zu MAO-Hemmern. Lange lebe die Psychopharmakaindustrie dachte ich wütend. Ein paar Monate Bedrohung und Ungewissheit dank dem Feind und viele sind reif für die Therapie, ein paar Monate Therapie und unser Selbst ist gewesen.
Ich dachte daran Tanja die Wahrheit zu sagen, dass ihr Versuch noch aus der Stadt zu kommen zum Scheitern verurteilt ist. Letztlich sagte ich nichts, lud nur die Kartons ein, verabschiedete mich, sah sie noch wegfahren, wusste dass sie nur einige kleine Seitenstraßen weit kommen würde. Hätte ich sie aufgeklärt, was hätte es geändert. Unser Schicksal war besiegelt, sie hätte ein paar Stunden, vielleicht einen Tag verloren, während dieser Zeit würde sie noch hoffen können, vielleicht gäbe es noch Augenblicke des Glücks währenddessen. Ich hatte nicht das Recht ihre diese Augenblicke zu nehmen.
Ich wanderte ziellos durch die Stadt blickte mich um, sah viele Dinge aber nur wenige die Gefühle in mir weckten. Hin und wieder weinte ich. Auf einem Platz entdeckte ich eine Menschenmenge die um irgendetwas stand. Neugierig ging ich hin und drückte mich durch die Menge nach Vorne. In der Mitte des Kreises stand der Hauptmann der Panzerwaffe, der uns den Vortrag gehalten hatte, jetzt allerdings nur in der Uniform eines Gruppenleiters der Heimatfront, links und recht von ihm zwei Rottenleiter der Heimatfront, vor ihnen auf dem Boden, in seiner glänzenden Uniform eines Untergebietsleiters der Heimatfront, lag blutend Sonneborn.
Wie aus dem Vortrag bekannt, dröhnend, hob der Gruppenleiter an: „Als von der Regierung eingesetzter Vorsitzender dieses Standgerichtes, verkünde ich dass der Angeklagte, Arthur Sonneborn der Plünderei, des Vandalismus sowie der Zersetzung schuldig ist. Er wird mit dem Tode bestraft.
Sprach´s, zog seine Pistole, ein kurzer trockener Knall. Sonneborn war tot.
Ich war entsetzt, ich hatte noch nie einen Menschen sterben sehen, es kam vor, im Krieg, durch Autounfälle, das war die Normalität. Aber dieses Gericht? Dieser sinnlose Tod? Etwas in mir dachte dass ein Zittern durch die Welt gehen müsste, das das Schicksal, das Leben, die Götter kein sinnlos vergossenes Blut hinnehmen würden, sich wehren würden. Natürlich wusste ich dass es nicht so war, aber es nun zu erleben, zu erfühlen....schrecklich..... Alle standen sie noch immer da, blickten auf Sonneborns Kadaver. Schreien, ich hätte schreien können, dass wir von der Regierung nichts wissen, dass die Regierung vielleicht längst selbst Opfer geworden ist, dass wir sinnlose Opfer, sinnlose Täter sind. Was hätte es verändert? Nichts, sie hätten mich erschossen, ob einen oder zwei, das störte sie nicht. Im Gegenteil sie wirkten eher erleichtert. Aber eines musste ich noch klären. „Gruppenleiter! Gehen wir ein paar Schritte, ich habe mit ihnen zu reden.“ Da ich mit fester Stimme gesprochen hatte parierte er sofort und kam.
„Sie haben in meiner Behörde einen Vortag gehalten, sie trugen eine Uniform eines Hauptmannes der Panzerwaffe!“ „Das ist richtig“ „Aber sie sind es nicht, sie waren nie an der Front, nicht wahr?“ „Nein das nicht“ „Wieso diese Lügen?“ „Im Interesse der Sache“.
Ich hatte genug, verabschiedete mich, wanderte weiter. Nichts wussten wir, selbst unsere großmäuligen Kämpfer ziehen es vor in der Stadt zu bleiben selbst wenn sie kleiner und kleiner wird, es stört sie nicht. Hier kennen sie sich aus, hier können sie durch einen Schuss zu einem neuen Orden kommen. Wer weiß was sie draußen an der Front leisten müssten. Vielleicht müssten sie dort erst ein Bein verlieren und hunderte Feinde töten um ausgezeichnet zu werden, vielleicht können sie aber auch ganz einfach die Seiten wechseln? Der Feind, dort draußen, sei grausam, sagt die Zeitung die nichts weiß, sagen alle, die es auch nur aus der Zeitung wissen. Ich habe noch keine Grausamkeit des Feindes erlebt, aber viele Grausamkeiten in dieser Stadt. Warum sollte der Feind mich töten wollen? Andererseits, warum sollte er mich durchaus nicht töten wollen? Verwirrt setzte ich mich auf eine Bank. Egal was ich tat, ich fand keine Antworten. Zurück in meine kleine Scheinheimat. Schlafen. Überschlafen. Durchschlafen. Schlafen wie ein Toter.
16. Tag des 10 Monates des 12. Jahres der 38. Regierung
Mitten in der Nacht wurde ich durch Sirenengeheul aufgeweckt, Luftalarm. Das gab es hier nur selten, ich beschloss mir das Schauspiel vom Dach aus anzusehen. Inzwischen hatten alle Sirenen der Stadt eingesetzt, auf den Häusern knatterten die Sperrfeuerbatterien, aus den Parks dröhnten die größeren Geschütze.
Zudem ging über der Stadt auch ein Gewitter nieder, der Krach von Mensch und Natur war ohrenvernichtend. Leider konnte man durch die geschlossene Wolkendecke nicht entdecken worauf geschossen wurde, getroffen wurde, soweit ich es erkennen konnte, nichts. Hier, immerhin 20. Stockwerke hoch, hatte ich einen guten Blick nach Süden, hinter den Hügeln, die jenseits der Vororte lagen, blitzte es, der Feind oder das Gewitter, wie üblich wusste ich es nicht. Frustriert ging ich wieder in meine Wohnung, irgendwann beruhigte sich die Luftabwehr und ich schlief weiter. Einige Stunden später frühstückte ich bei schönstem Sonnenschein. Neben der Sonntagsausgabe (KANN DIE STADT NOCH GEHALTEN WERDEN?) fand ich auch einen Brief in meinem Briefkasten. Er war merkwürdigerweise an meinen Vermieter aber an meine Adresse geschickt worden. Ich riss ihn auf. Meinem Vermieter wurde von einer „Sonderkommission für Wohungsfragen“, von der ich noch nie etwas gehört hatte, mitgeteilt dass die Wohung 7.02 in der Ella-Kay-Straße Nr.10 in Folge des, durch Feindeinwirkung, verstorbenen Herrn S. leer steht. Des weiteren wurde mein Vermieter aufgefordert die Wohnung nicht weiter zu vermieten sondern eine Mieterzuweisung durch die SkfWf abzuwarten.
Der Brief trug genügend Stempel und Unterschriften um als amtlich durchzugehen – ich war offiziell tot.
Darüber erstaunt schlug ich die, in der Sonntagsausgabe besonders ausführlichen, Gefallenenlisten auf. Ich war erwähnt, weiter hinten fand sich sogar ein Nachruf auf mich in dem meine „langjährige, der Heimat nutzbringende Tätigkeit in der Abteilung 12 (Optimierung der Infrastruktur) des Verkehrministeriums“ sowie die „große Bestürzung über den unerwarteten Todesfall“ meiner Kollegen herausgehoben wurde. Ich war ziemlich wütend, zeit- und nervenkostende Behördenbesuche würde ich durch diesen Irrtum haben.....falls...die Bank, die Träume letzte Nacht...sollte ich tatsächlich...???
Ich durchsuchte meine Schubladen nach Photos, Briefen und anderen persönlichen Dingen. Es waren erschreckend wenige, die 17 Jahre die nun schon in dieser Stadt lebe habe fast keine Spuren hinterlassen und wenn ich nicht mehr bin wird man mich vergessen. Ich ging zu meinem Schreibtisch holte einige Blätter und beschrieb die letzten Tage, soweit ich mich noch daran erinnerte, manchmal wohl auch etwas konstruierend. Als ich damit fertig war nahm ich die Straßenbahn Richtung Süden.
Dort sitze ich gerade, der Stadt ein Lebewohl wünschend, ich werde diese Seiten an der Endhaltestelle ablegen, ich weiß nicht recht warum ich sie schrieb. Als Wegweiser werden sie Dir, lieber Finder, nichts nützen meine Suche war, ist und wird eine andere bleiben als die Deine. Vielleicht gefällt mir die Vorstellung dass etwas von mir und sei es noch so wenig und noch so flüchtig in dieser Stadt bleibt. Wenn ich die Endhaltestelle erreicht habe werde ich weiter nach Süden laufen, in Richtung der Front, des Feindes. Was mich dort erwartet weiß ich nicht, vielleicht all die Freiwilligen die schönere Leben fanden, vielleicht all die Freiwilligen hingeschlachtet. Sei es das Leben, sei es der Tod, es ist nicht wichtig. Was immer es auch ist, dort draußen ist die Welt, ich werde sie sehen, vielleicht nur sehr kurz, aber während dieser Zeit werde ich, zum ersten Mal, nicht durch die Zeitung, die Regierung, die Kämpfer oder den Feind über die Stadt hinaus blicken, sondern selbst sehen können.
(3. Variante – Kai fand noch ein paar Fehler)
(2. kurz durchgesehene Variante)