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Der Fahrstuhl
Der Fahrstuhl
Von
Bernhard Montua und Mark Gosdek
Es war an einem Freitag im August. Die Stadt ächzte unter dersommerlichen Schwüle, welche die Straße fast an einem Hitzeschlagkollabieren ließ. Die Menschen suchten den lagunenblauen Schatten,den die Häuserwände spendeten und die Kühlung versprachen. Einigevon ihnen aber konnten das nicht. Die Straßenarbeiter, welche Rohreunter dem Asphalt erneuern sollten, hatten Termine einzuhalten undschufteten in der Gluthitze. Die Oberkörper der Männer waren braungebrannt und nackt, so dass der Schweiß wie Perlen auf der Hautglänzte. Doch niemand der Passanten hatte einen Blick dafür. Ganz sicher waren sie nicht um die Aufgabe zu beneiden; Immerhin streiftesie gelegentlich ein kleiner Lufthauch, und damit hatte die Kolonnees eindeutig besser als ihr Baggerführer. In seiner Kabine stand die Luft und Mario Kosanke hatte das Gefühl, über kurz oder lang ersticken zu müssen.
Doch selbst unter diesen extremen Bedingungen liebte er seine Arbeit.Baggerführer war sein Traumberuf, gerade wenn sich die Schaufel tiefin die Erde eingrub und er sie mit einem eleganten Schwung wiederemporhob. Für ihn war es immer wieder ein Wunder der Technik, dassdies alles allein durch die Betätigung der Schalter und Hebel inseiner Kabine möglich war. Einzig das fehlende Aufflackern vonkleinen Sternen deutete darauf hin, dass es sich nicht um Zaubereihandelte.
Andiesem Tag aber verschwammen die Grenzen, so dass Mario Kosanke sicherschrocken fragte, ob er nicht vielleicht tatsächlich zu einemMagier geworden war. Als die Baggerschaufel sich aus dem Boden erhob,blitzte es und zischte sogar ein wenig, als würde sich in diesemAugenblick die tiefe Finsternis unter ihm in ein Zauberlandverwandeln. In seiner Welt aber hatte alles einen realen Grund.
EinigeMinuten zuvor zuckte in der Eingangshalle des Gebäudes gegenüberder Baustelle der Uhrzeiger auf 16.45. Auf der Anzeigetafel desFahrstuhls, die darüber informierte, in welchem Stockwerk sich dieKabine gerade befand, es blinkte das „E“wieErdgeschoss auf. Fast lautlos öffnete sich die Tür und der kleine,stickige Raum spie sechs schwitzende Personen hinaus in die Freiheit.Sichtlich erleichtert, dass sie der Enge entkommen waren,schlängelten sie sich durch eine Gruppe Wartender und eilten in alleRichtungen davon.
Ihrerstatt zwängten sich fünf neue Fahrgäste in die Kabine, die nochvon dem beißenden Geruch der Vorgänger durchdrungen war. Jeder vonihnen wählte durch Drücken eines Etagenknopfs sein Ziel aus.Langsam und ebenso lautlos begannen die Türen, sich wieder zuschließen. Als nur noch ein schmaler Spalt offen stand, stießunvermittelt ein fleischiger, nackter Arm in den Schlitz. DieFahrgäste zuckten zusammen und selbst die Tür schien zu erstarren.Erst nach einer zögerlichen Pause, in der die Mechanik zu überlegenschien, ob sie auf diesen entschlossenen Vorstoß reagieren sollte,schoben sich beide Seitenteile träge wieder auseinander und einedickliche, vom kurzen Sprint außer Atmen geratene Frau sprang miteinem verlegenden Lächeln die Auszugskabine. Nun wurde es nochenger. Die Fahrgäste rückten ein Stück zusammen, sorgsam daraufbedacht, trotzdem den Abstand zueinander zu bewahren. Sie warfen derNachzüglerin vorwurfsvolle, doch desinteressierte Blicke zu, sahenim nächsten Augenblick aber wieder weg und ignorierten denEntschuldigung heischenden Blick der Frau. Glücklicherweise würdedie Fahrt nicht lange dauern.
Miteinem entschlossenen Ruck schlossen sich die Türen. Sie waren nichtmehr gewillt, weitere Passagiere hereinzulassen. Das Maximum desTransportgewichts war erreicht. Kaum wahrnehmbar ruckelte es und derAufzug machte sich auf seinem Weg nach oben.
Die Augen der Fahrgäste starrten wie hypnotisiert auf die langsam wechselnden roten Ziffern der Anzeige, damit sie den Halt in dem von ihnen gewählten Stockwerk nicht verpassten; Hauptsächlich jedoch,um die unangenehm dicht beieinander stehenden Fahrgäste nichtansehen zu müssen. Die abgestandene Luft lag zwischen ihnen wieBandscheibengallert. Immer weiter zog es die Kabine nach oben, kaum dass ein leises Zischen der Stahlseile zu vernehmen war.
„Dasdarf ich heute nicht versauen“,dachte der Mann, welcher sich direkt neben dem Tastentableauaufgestellt hatte und Roman hieß. Unwillkürlich krallten sich seineFinger fester um die Aktentasche in der rechten Hand. „Heidiwird wieder einen Aufstand machen und das ganze Wochenende ist imEimer.“ Kann sie sich gar nicht vorstellen, wie erniedrigend diesesGefühl ist? Als ob ich etwas dafür könnte, dass es heutzutage soschwierig ist, einen Job zu finden! Für einen so gelackten Typ wieden Kerl da gegenüber ganz sicher nicht. Wahrscheinlich ein Manageroder so etwas. Jedenfalls einer, der andere ausbeutet und sich selberein gutes Leben macht. „Sieht man doch schon an seinem Angeberanzug.“
Unterden Augenlidern hervor warf er einen Blick zu dem schlaksigen Mannhinüber, der fast direkt neben ihm stand und so tat, als würde erdie Verkleidung der Aufzugsstür eingehend begutachten.
»Bei meinem Pech ist das der Kerl, bei dem ich das Vorstellungsgespräch habe.« »Vielleicht beobachtet er mich jetzt schon.«
Dieser Gedanke machte Roman unruhig. Er verlagerte das Gewicht auf das andere Bein und sah weg. Sein Blick streifte die Frau, welche dicht neben ihm stand. Roman zog scharf die abgestandene Luft ein.
„Dasist ganz sicher so eine Emanze“,überlegteer. „Diesind Schuld, dass ich dauerhaft einfach keinen Job finde.“ „Von diesen Zicken, die einem das Leben schwer machen, kenne ich genug,sie nehmen keine Rücksicht auf mein schwaches Herz.“
Die Frau war klein und trug Jeans. Ihre naturblonden Haare hatte sie mit einem Haarkamm nachlässig hochgesteckt, gerade genug, dass es hielt und doch nicht streng wirkte. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Gurt des Rucksacks, den sie über der Schulter trug. Sie sah selbstbewusst aus und erinnerte Roman an Heidi. Solche Frauen ließen einen nicht in Ruhe. Ein wenig Zeit für sich, das war doch nicht zu viel verlangt!
Unvermittelt bewegte sich die Frau mit dem Rucksack und stieß dabei an Romans Arm. Sie wandte sich kurz zu ihm um und sah ihn verstört an, dass der Mann sich ein gequältes Lächeln abrang.
„Heutzutage nimmt einfach keiner mehr Rücksicht auf den Anderen“,dachte er. „Und dann noch so eine Gesichtsruine.“ Das Mädchen da hinten in derEcke wäre mir lieber gewesen. »Ist zwar eine Asiatin, aber von derBettkante würde ich sie nicht herunterstoßen.«
Nun blickte er zu der jungen Frau hinüber, die in der Fahrkabine hintenan der Haltestange lehnte und deren Gesicht und Körper sich imSpiegel der hinteren Wand doppelten, als würde es sich um eineiige Zwillinge handeln. Mit unbewegter Miene starrte sie über ihrem Gegenüber hinweg ins Zweifache Nichts. Roman zog die Luft ein.
„Was für ein komischer Kerl“,dachtedie Frau. „Wahrscheinlichsteht der auf kleine Chinesinnen.“ Einer von denen, die mit ihren Saufkumpanen nach Thailand fahren. Und wie das hier drin stinkt! Sicher der Alte neben mir, mit der Mütze und den gelben Zähnen .Also duschen kann man sich ja wohl jeden Tag! Zum Glück habe ich heute mein bestes Parfüm aufgelegt, dann wird Daddy den Gestank später nicht bemerken. Hoffentlich hat er Geld in seiner Praxis ,sonst habe ich den ganzen Weg umsonst gemacht. Tina ist auch ohne Kohle und heute Abend brauchen wir schon etwas, wenn wir Party machen wollen. Ist ja nicht gesagt, dass unbedingt die richtigen Kerle da sind, die uns einen ausgeben.
Was mache ich nur, wenn Daddy mir nichts gibt? Ist zwar unwahrscheinlich, weil Mummy nicht dabei ist, aber was dann? Mummy und ihre altmodischen japanischen Traditionen! Eine Frau muss sparsam sein und dem Mann dienen! Das gilt vielleicht für die da neben dem komischenKerl. Wenn man so aussieht, hat man sowieso keine andere Chance. Aber Daddy krieg ich schon rum.
Doch was, wenn nicht? Der Typ da in der Mitte mit dem Sommeranzug ist dochgar nicht so übel. Vielleicht würde er Tina und mir einen Abendspendieren, wenn ich ein wenig mit ihm flirte. Bei einer Frau wie mirfällt er sicher gleich in Ohnmacht. „Geld hat der bestimmt, nicht so wie der Verlierer in der Ecke.“
Die„2“leuchtete auf, die Kabine bremste sanft ab und blieb mit einem kurzen Ruckstehen. Beide Seitentüren schoben sich auseinander und gaben den Blick wie durch ein Passepartout auf den Etagenflur frei.
DieLeere des Ganges gähnte den Fahrgästen entgegen. Für einen Moment lockte sie die angenehme Weite, um der Enge in der Kabine zuentfliehen. Aber niemand von ihnen wollte hier aussteigen, und so unterdrückten sie den Drang. Noch mussten sie miteinander aushalten.
Alsdie Kabinentüren sich öffneten, waren die Fahrgäste unruhiggeworden. Die Aussicht, dass noch jemand zusteigen wollte, war ihnen extrem unangenehm. Schon jetzt war die Enge kaum auszuhalten. Dochals sich die Türen schlossen, entspannten sich ihre Körper wiederund es ging weiter.
„Nächster Halt, Damenbekleidung“, nuschelte der Alte mit der Mütze.
Ein oder zwei der Fahrgäste lächelten verschämt, doch antworteten sie ihm nicht darauf. Es war genug, miteinander aushalten zu müssen ;Reden war sicherlich nicht notwendig.
Der Asiatin hatte es eine Pause in ihren Gedanken gebracht. Nun aber kehrten sie zurück.
„Okay,Chinatsu“,dachte sie. „Jetzt werde nicht hysterisch!“ Bleib locker! Daddy hat mir noch nie etwas ausgeschlagen. So lange er denkt, dass ich brav studiere, habe ich keine Probleme und muss mich nicht mit zweitrangigen Kerlen im Fahrstuhl abgeben.
Ich mache es wie die Frau neben ihm. Gucke einfach vor mich hin und denke garnichts. „So, wie die aussieht, wird es ihr sicher nicht schwerfallen.“
Chinatsuwarf einen abschätzigen Blick auf die Frau mit dem Rucksack und fühlte eine selbstzufriedene Wallung in sich aufsteigen. Als die andere ihr den Blick zuwandte, sah sie wieder weg, verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und stierte auf das Etagendisplay.
„Sieht so die Frau aus, mit der Marko ein Verhältnis hat?“ "„Überlegte die andere Frau, welche Karina hieß.“ " „Liegtes vielleicht daran, dass ich ihm zu alt werde, dass er sich mit so einem jungen Flittchen vergnügen muss?“ „Was hat sie, was mirfehlt?“ "
Karina zupfte unruhig mit der Hand an dem Rucksack, der über ihrer rechten Schulter hing. Die Enge des Aufzuges machte sie nervös. So nah mochte sie keine Menschen, schon gar nicht, wenn sie an Marko dachte.
„Wie kann er überhaupt denken, dass er so mit mir umspringen kann?“ Ich werde seinen Gesichtsausdruck genießen, wenn ich ihm erzähle, dass ich ein Massagestudio eröffne. Ich weiß schon jetzt, was er sagen wird. Meinst du, dass genug Kunden kommen werden? Marko hat ja keine Ahnung. Massagen liegen im Trend. Der Kerl neben mir geht sicherlichauch irgendwo hin. Er hat eine schöne, sportliche Figur. Seinen Körper würde ich auch gern massieren. Aber besser vielleicht nicht:Irgendwie guckt er arrogant. Mit ihm bekomme ich nur Stress und das kann ich gar nicht gebrauchen. Von Männern habe ich die Nase voll. Ruhige, freundliche Kunden will ich werben. Am besten Frauen, die sich etwas Gutes gönnen wollen. Wie die Frau hier neben mir.Vollkommener Durchschnitt. Kommt nie von zu Hause raus und achtet nicht auf sich. Sonst würde sie wissen, dass ihr Rock zu eng und zu kurz ist. Eine Massage würde ihr sicherlich gut tun. Solche Leute will ich. Marko wird ausflippen. Das wird ein Spaß!
Sie lächelte bei dem Gedanken, aber es blieb von den anderen unbemerkt.
In gleichmäßigen Abständen erlosch die Ziffer auf dem Anzeigendisplayund die nächstfolgende blinkte auf. In dieser Geschwindigkeit würdensie in einer Woche auf dem Mond landen. Zwischen dem sechsten undsiebten Stockwerk jedoch ruckte der Fahrstuhl unvermittelt wie einRennpferd, das an die Kandare genommen wurde, und stoppte mit einemknirschenden Laut, der langsam in ein klagendes Quietschen überging.Draußen auf der Straße erkannte Mario Kosanke, dass seineBaggerschaufel ein dickes Stromkabel zerstört hatte. Einige derAuswirkungen konnte er direkt mitansehen; Alle Ampeln auf der großenKreuzung erloschen und es kam zu einer Anzahl Unfällen, die zumGlück ohne Personenschäden blieben. Die Schaufenster der Geschäftewurden dunkel und die Scheiben zu Spiegeln, die die verblüfftenGesichter der vorbeischlendernden Passanten zeigten.
Fast gleichzeitig füllte sich die Fahrstuhlkabine mit atemloser Stille.
„Oh Mann“,dachte Roman. „Ich hoffe, dass das nicht ein Test ist, wie ich unter Stressbedingungen reagiere.“ Denen traue ich alles zu. „Wenigstens kann Heidi nicht ausrasten, wenn ich den Vorstellungstermin verpasse und deshalb den Job nicht bekomme.“
„Immer bei mir“,dachteKarina indessen. Was konnte nicht alles passieren? Gerade jetzt, wosie endlich einen Plan für ihr Leben hatte. Aber der Aufzug war ja nur stehen geblieben. Das passierte hunderte Male am Tag inirgendwelchen Städten. Ach was! Tausende Male, da war kein Grund, um nervös zu werden. Doch so sehr sie es sich auch einhämmerte, das ungute Gefühl blieb. Und damit war sie nicht allein. Über alle Fahrgäste senkte sich ein Hauch des Erschreckens, der sie für Augenblicke lähmte, unfähig, irgendetwas anderes zu unternehmen, als weiterhin auf das Anzeigedisplay zu starren.
Diekorpulente Frau, die sich mit dem Arm in letzter Sekunde den Zugangin den Fahrstuhl freigepresst hatte, reagiert als Erste. Hektisch begann sie, auf alle Etagenknöpfe zu drücken, und da dies nicht das erhoffte Ergebnis erbrachte, hämmerte sie mit ihrer kleinen fleischigen Hand an die Tür.
„Aufmachen,sofort aufmachen!“ „Ich will hier raus!“, schrie sie, woraufhindie anderen Fahrgäste nervös wurden. Niemand von ihnen mochte eine hysterische Frau in seiner Nähe.
Doch die Frau konnte nichts dafür. Von einer Sekunde auf die andere war alles wieder da. Sie hatte dieses Kindheitserlebnis nie wirklich überwunden. Die Erinnerung, als sie mit sieben Jahren von ihrem zweiJahre jüngeren Bruder im Keller ihres Elternhauses in einem alten,nach Schimmel und Mottenpulver riechenden Kleiderschrank eingesperrtwurde. Für einen Tag und eine Nacht. Doch in ihrem Schrecken unterschieden sie sich nicht. Nur mit der Hilfe von vielen Therapiesitzungen bei mehreren Psychologen war es ihr gelungen, mit dieser tiefsitzenden, traumatischen Erfahrung zu leben. Die krächzende Stimme des alten Mannes, den sie beim Betreten des Fahrstuhls kurz wahrgenommen und ihn als klassische Rentnerruine eingestuft hatte, nahm sie wie durch Watte war.
„Das bringt doch nichts, hören Sie auf damit!“, hörte sie ihn krakeelen. Er stand hinten an der Kabinenwand und stützte sich missmutig auf seinen Stock.
„Ach ja, wissen Sie etwas Besseres?“, schrie die Frau mit sich überschlagender Stimme und trommelte weiter gegen die Tür.
Bevor der Alte etwas entgegnen konnte, ergriff der etwa vierzigjährige Mann in eleganter Kleidung neben ihr mit befehlsgewohnter Stimme das Wort.
„Schluss jetzt, hören Sie auf!“ „Sie brauchen keine Angst zu haben, in wenigen Minuten geht es weiter“, sagte er und zog dabei ihren trommelnden Arm von der Tür.
„Lassen Sie mich sofort los!“ " Woher wissen Sie, dass es gleichweiter geht? Haben Sie das Scheißding gebaut? „Kreischte die Frau.“Sie war nicht mehr zu beruhigen. Sie musste aus diesem Fahrstuhl heraus! Vielleicht hatte sie in den Therapiesitzungen gelernt, ihre apokalyptische Kindheitserinnerung einigermaßen zu bändigen. Dochin dieser Situation hing nicht ihr Leben von dem Entrinnen ab. Es ging um mehr! Wenn ihr Termin bei Doktor Falk platzte, musste sie wieder Monate warten, um sich die Wangen straffen zu lassen, die bei ihrem Kampf gegen die Erdanziehung in den letzten Jahren immer schwächer geworden waren. Sie musste doch schön sein für ihren neuen, um zehn Jahre jüngeren, farbigen Mann, den sie bei einem Urlaub in der Dominikanischen Republik kennengelernt und vor dreiJahren geheiratet hatte. Für Eduardo würde sie alles tun, selbst wenn es bedeutete, sich durch Stahlblech zu trommeln. Der Elegante, welcher sie von der Fahrstuhltür weggezerrt hatte, ließ ihren Arm los und entgegnete sanft:
„Ich war schon einmal in einer solchen Situation und damals wurde ich schon nach kurzer Zeit befreit.“
Seine Worte beruhigten die Frau tatsächlich ein wenig, aber das Wort„befreit“ machte allen Passagieren angstvoll bewusst, dass sie nun Gefangene waren, die nichts weiter tun konnten, als auf ihre Rettung zu warten.
Im Grunde war der Alte an der Wand mit dem einverstanden, was der Mannin dem gut geschnittenen Anzug gesagt hatte. Aber das spielte momentan keine Rolle. Wieder einmal hatten sie ihn übergangen.Dieses Gefühl kannte er gut, es begleitete ihn schon sein ganzes Leben.
„Ich kenne diese Typen in Ihren Maßanzügen, die alles an sich reißen.“Das Handeln, das Geld, die Frauen und die Macht. „Scheißkerle sind das“,dachte er grollend. „Fünfundsechzig Jahre lang habe ich unter ihnen gelitten und sie gehasst.“ Auch wenn ich Sie irgendwie bewundere. Scheiße, irgendwie tue ich das wirklich! Die kriegen alles und ich gar nichts. „Doch diesmal werde ich nicht klein beigeben, diesmal werde ich es Ihnen zeigen!“
Energisch schlug er mit seinem Stock an die Metallverkleidung der Kabine, als würde er einen Baseballschläger schwingen, und seine Stimme krächzte zwischen zwei Hustenanfällen:
„Unfug,keiner wird kommen!“ „Sie haben ja noch nicht einmal den Alarmknopf gedrückt, Sie Schlauberger!“
Ichbitte Sie, wir stehen erst seit fünf Minuten. „Wir machen uns doch lächerlich, wenn jetzt schon den Alarmknopf betätigen“, sagte Roman, der links neben der wasserstoffblonden Frau stand.
„Denken Sie, der Alarmknopf ist nur Dekoration?“, beharrte der Alte auf seiner Meinung.
„Ich glaube, dass es gleich schon weitergehen wird“, entgegnete der andere. „Ja genau, ich habe es auch eilig, aber Panikmache hilft jetzt auch nicht“, sagte Karina in Jeans und grauem T-Shirt nebenRoman stehend.
Alle, außer der jungen, asiatisch anmutenden jungen Frau, nickten. Sie aber blickte zu Boden und beschäftigte sich mit ihren eigenen Gedanken. Konnte dieses Ereignis die Brieftasche des Vaters weiteröffnen? Vielleicht musste sie es dramatisch ausschmücken. Je schlimmer, desto besser! Daddy war ja so mitfühlend. Natürlich konnte nichts passieren. Bald schon würde der Fahrstuhl wieder anfahren. Irgendeiner kam und legte einen Schalter um, oder was auch getan werden musste. Das war sicher. Einer kam immer! Hoffentlichließ er sich noch ein paar Minuten Zeit, sie brachten ihr bestimmthundert Euro mehr ein!
Eine weitere Minute verstrich, ohne dass etwas passierte. Die Wasserstoffblonde schien erschöpft und ergab sie in resignierender Lethargie. Selbst der Alte hielt seinen Stock fest umklammert, ohnegegen irgendetwas schlagen zu müssen. Sie alle warteten, und eine bedrückende Stille breitete sich in dem Fahrstuhl aus, dass man das Summen des kleinen Ventilators hören konnte, der einen dünnen, aberstetigen kühlen Luftstrom in den Raum blies.
„Es wie an der Supermarktkasse, ich erwische immer die, bei der es Störungen gibt“, sagte die Wasserstoffblonde plötzlich und lächelte gequält. Sie schien ihre Panik über den verpassten Terminbei Doktor Falk überwunden zu haben, oder wenigstens tat sie so. Als niemand ihr antwortete, wandte sie sich der Frau in Jeans zu.
„Ich heiße Anna“, sagte sie, als würde das irgendetwas an ihrer Lage verbessern.
Ich bin Karina. „Das mit der Supermarktkasse kenne ich“, entgegnete diese freundlich.
Auch der Mann im sandfarbenen Anzug schien nun aus seiner Erstarrung zu erwachen und meldete sich zu Wort. Mit einer angedeuteten Verbeugung stellte er sich Anna und Karina als Horatio Schmidt vor.
„Horatio“,sagte Anna und kicherte dabei.
„GefälltI hnen der Name nicht?“, fragte der Mann.
„So würde ich nicht einmal meinen Hund nennen“, brummte der Alteungefragt und würgte mit den Händen seinen Stock.
„Er ist ungewöhnlich“, entgegnete Anna.
Horatioverbeugte sich erneut, als hätte er ein Kompliment erhalten, und sahzu Karina, für die er nach seiner künstlichen Verbeugung mehr dennje arrogant wirkte. Horatio jedoch war sicher, dass diese Frau mit ihren langen blonden Haaren, den graugrünen Augen und ihrersportlichen, aber dennoch weiblichen Figur perfekt in sein Beuteschema passen würde. Flüchtig bemerkte er den Ehering an ihrem Finger, doch störte er sich nicht daran. Im Gegenteil, es war eineprickelnde Herausforderung und zusätzlicher Anreiz. Als er darandachte, dass die meisten seiner Eroberungen verheiratete Frauengewesen waren, musste er lächeln. Er war einfach besser als ihreEhemänner, sagte sich Horatio, ordnete mit der linken Hand seineFrisur und bemühte sich besonders, die kahle Stelle am Hinterkopf zu verdecken. Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte seine wulstigen Lippen. Verheiratete Frauen waren interessanter. Darüber hinaus gabes einen weiteren Vorteil, der nicht zu verachten war. Wenn er sie erobert hatte, und sobald es vorbei war, konnte er einfach gehen.
Zu Anna, der Wasserstoffblonden, war er nur aus taktischen Gründen freundlich. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es bei den schönen Frauen gut ankam, wenn er die weniger attraktiven Frauen mit Respekt und Charme behandelte.
„Freut mich, sie kennenzulernen“, sagten Anna und Karina fastgleichzeitig, wobei mindestens eine von ihnen log.
Karl Anton Haferkamp, der Alte in der anderen Ecke, aber dachte:
„Oh mein Gott, jetzt verbrüdern die sich gleich, umarmen sich und fangen an, sich auf die Wagen zu knutschen.“ Widerlich, einfach widerlich!„So etwas hat es früher nicht gegeben!“
Hilfesuchend schaute er an die Fahrstuhldecke.
„Von dort oben wird es wohl auch keine Erlösung für mich geben.“ Aber genau solch eine frohe Botschaft erhoffte ich mir von dem Untersuchungsergebnis, welches ich heute erfahren sollte; In der Praxis von diesem – wie hieß er noch gleich? – Doktor Schirmgabel oder Schirmgiebl? Nein, na egal, auf jeden Fall ist die Praxis im 12. Stockwerk.
Also jetzt könnte ich wirklich eine Zigarette gebrauchen. Verfluchter Mist, dass ich keine mehr habe, und selbst wenn – hier im Fahrstuhlist Rauchen streng verboten. Dieser Arzt – ach, jetzt fällt mirder Name wieder ein – Doktor Zirngiebl – ist aber auch einbescheuerter Name – hatte gemeint, es würde mein Tod sein, wenn ich weiter rauche.
Na und? Sterben werde ich auf jeden Fall, habe ich gesagt.
„Aber nicht in einem Jahr, plus minus drei Monaten“, hatte Doktor Zirnniebel geantwortet.
Scheiße nein, Zirngiebl heißt der doch! Das Beste wird sein, ich nenne ihneinfach Herr Doktor. Diesen blödsinnigen Namen kann ich mir doch nicht merken. So heißen nur Schwule und Leute aus dem Kaukasus.
Dann haben die mich in so eine Röhre geschoben, um zu schauen, was vonmeiner Lunge oder was nach fünfzig Jahren Kettenrauchen davon noch übrig ist. So geht es. Und jetzt stecke ich mit diesen verweichlichten Idioten in einem Fahrstuhl fest! „Ich könnte kotzen!“
Er schrak aus seiner Grummelei, als Karina, die Frau in Jeans, sich nachihm umwandte und an den Arm tippte.
„Und wie heißen sie?“, fragte sie ihn freundlich lächelnd.
„Es geht Sie zwar nichts an, aber mein Name ist Karl Anton Haferkamp“,knurrte der Alte.
„Freut mich, Herr Haferkamp.“ Karina neigte leicht den Kopf. Der konnte sicher auch eine Massage vertragen, um sich ein wenig zu entspannen,überlegte sie.
„Karl reicht“, nuschelte Karl.
„Scheiß egal, wenn die das können, dann mache ich das auch“,dachteRoman in seinem dunkelgrauen Anzug, der rechts von Anna stand. „Wennich schon in dem verfluchten Aufzug feststecke, sollte ich mich wenigstens etwas amüsieren.“ Mit Heidi habe ich heute Abend sowieso keinen Spaß und mein Vorstellungsgespräch kann ich vergessen. Vielleicht verklage ich die da oben sogar und kassiere eine Menge Kohle. „In den amerikanischen Filmen machen die das ständig.“
Er wandte sich der Asiatin zu und lächelte.
Bin der Roman, wie ist dein Name?
Die junge Frau war in ihren hohen Stöckelschuhen mit Roman auf Augenhöhe. Ihre mandelförmigen Augen schauten ihn gleichgültig an und nach einer kurzen Überlegung verbeugte sie sich ehrfurchtsvollund lispelte leise:
Ich Chinatsu. „Komme aus Japan und spreche nicht so gut Deutsch, bitte um Verzeihung.“
Erneut verbeugte sie sich, so wie sie es unendlich oft von ihrer Mutter gesehen hatte.
„Vielleicht lässt der Spießer mich jetzt in Ruhe“,hoffte Chinatsu dabei.
Ich hatte mal einen Nissan. „Der war gar nicht so schlecht, war aber dann schnell verrostet“, krächzte Karl, er wollte was Nettes sagen. Chinatsu lächelte, wie sie es immer tat, wenn sie der Meinung war, auf Geplapper eines Idioten nicht antworten zu müssen. Roman, der glaubte, Chinatsu und Nissan in Schutz nehmen zu müssen, kicherte:
„Mit Rost kennen Sie sich bei Ihrem Alter bestimmt gut aus.“
Er lachte gekünstelt laut über seinen Witz und schaute Beifall heischend in die Runde. Aber für ihn völlig unverständlich: Kam der Witz irgendwie nicht an. Im Gegenteil, Anna bemerkte wütend:
„Na mein Lieber, bei Ihnen sind aber auch schon einige Lackschäden sichtbar“, und betrachtete dabei gnadenlos seine strähnigen Haare.Roman presste seine schmalen Lippen zusammen. Mit einem pfeifendenTon zog er die Luft ein und schwieg fürs Erste. Stattdessen lockerteer seine graue Krawatte, entnahm seiner hellbraunen Aktentascheeinige Papierbögen und blätterte gewichtig in ihnen herum. Mochte dies vielleicht Eindruck auf die Anwesenden machen. Doch als sich niemand dafür zu interessieren schien, steckte er sie nach einer Weile wieder weg.
Trotz dieser kleinen Scharmützel hatte sich nach dieser Vorstellungsrundedie Stimmung in der Kabine verbessert. Nun waren sie Schicksalsgenossen, die einander mit Namen kannten, und dies schaffte eine Vertrautheit, dass die unterbewusste Angst für den Augenblickzu schrumpfen schien.
In diese entspannte Stille hinein explodierte der Klingelton eines Handys. „We are the Champions“, plärrte durch die Kabine. Sicherlich war Queen an größere Konzertsäle gewöhnt, und obwohl nur der Lautsprecher eines Mobiltelefons zur Verfügung stand, zuckten die Fahrgäste bei Freddie Mercurys Stimme erschrocken zusammen.
„Mein Gott!“ Stöhnte die wasserstoffblonde Anna. „Ich hab fast einen Herzschlag bekommen!“
„Ich auch, als ich sie sah!“, knurrte Karl, lachte gurgelnd und verschluckte sich an seinem eigenen Witz.
Das Handy gehörte Horatio, der es aus seiner Westentasche zog und auf dem Display sah, dass sein Bruder ihn zu erreichen versuchte. Sicher wollte er wissen, wie das Meeting mit den Leuten der Bank lief. Es musste klappen. Ihre Firma brauchte dringend einen größeren Kredit.Vielleicht konnten sie noch einen Monat überleben, ohne Konkurs anzumelden, aber sicher war das nicht.
Horatio hielt das Gerät ans Ohr und murmelte leise, in der Hoffnung, dass die anderen Fahrgäste nichts mitbekamen:
„Hallo?“
Doch schien sein Bruder ihn nicht zu verstehen, denn schon wurde Horatioimmer lauter.
„Hallo ,hallo!“ Kannst du mich hören? Ich stecke in einem Fahrstuhl fest.Hallo? "
Unwillig unterbrach Horatio die Verbindung und fluchte ziemlich unelegant vor sich hin. Er wählte die Nummer seines Bruders. Doch fastaugenblicklich kreisten auf dem Display die Punkte derVerbindungssuche. Dann verschwand die Anzeige des Anbieters und gleichzeitig erschien die Mitteilung „Kein Netz“.
„So ein Mist“, sagte Horatio. „Jetzt ist die Verbindung abgebrochen.“
„Das liegt an den Billiganbietern“, grinste Roman und zog gleichzeitigsein Handy aus der Tasche. Doch auch sein Gerät bekam keinen Kontakt.
Außer Karl, der kein Handy dabei hatte, kramten nun alle ihre Smartphonesaus den Taschen. Auch sie erhielten die gleiche
Niederschmetternde Nachricht „Kein Netz“. Augenblicklich kroch die ängstliche Anspannung zurück in den Herzen der Passagiere.
Selbst das Kabinenlicht schien die Nachricht zu schockieren. Es begann zuflackern. Zunächst in Abständen von fünf Sekunden, wie ein Wetterleuchten, das ein fernes Gewitter verkündete. Zusammen mit der stickigen Stille in der Kabine jagte dieses Flackern den Puls der Fahrgäste in die Höhe. Erst recht, als kurze Zeit später das Lampenlicht begann, blitzartig zu zucken. Die bleichen Gesichter der Insassen erschienen synchron zu der Abfolge der Lichtreflexe aus derDunkelheit aufzuflammen. Sie sahen in dem Stakkato der Lichtfunken gespenstisch aus und verzerrten sich bei der Erkenntnis, dass sie vonder Außenwelt vollends abgeschnitten waren. Unvermittelt breitetesich Panik aus.
„Ohn ein!“ kreischte die Wasserstoffblonde.
Doch die anderen kümmerten sich nicht darum. Sie waren in ihrer eigenen Angst erstarrt. Stürzte der Aufzug nun jeden Augenblick in dieTiefe? War dies das Ende? Noch vor einer Stunde hatte niemand von ihnen daran gedacht.
Danner losch das Licht vollends. Zunächst war die Dunkelheit nach dem Blitzgewitter eine Wohltat. Es geschah nichts Furchtbares und dies beruhigte die Gemüter für den Augenblick. Die plötzliche Finsternis aber senkte sich tiefer, umschlang die Körper, presste die Brüste, würgte die Hälse. Sie wurde unerträglich, bedrohlich dick, fast flüssig. Das Atmen war viel schwerer und ein angstvolles Stöhnen kroch an den Metallwänden entlang. Die Hitze wurde unerträglich.
EinLicht sprang an. Klein, fast nur eine Luke in die Wirklichkeit.
„Oh nein!“ schrie die Wasserstoffblonde wieder.
„Regen Sie sich ab, das ist nur mein Handy“, sagte Horatio, der als ersterdie Fassung wieder gewonnen hatte. Mochte es auch kein Netz haben, so wanderte immerhin ein bläuliches Licht durch den Raum. Die ängstlichen Gesichter ähnelten in dem kalten Licht gruseligen Wiedergängern aus einem Horrorfilm. Immerhin warteten sie nicht mehr im Dunkeln und dies schien eine gute Alternative. Nach und nach flackerten die anderen Handybildschirme in unterschiedlichen Farbenauf.
„Schaltet nicht alle Handys an, wir sollten Strom sparen“, sagte Karina leise und die anderen verstanden. Bis auf Horatios Display erloschen nach und nach die anderen.
„Ich denke, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir den Notrufknopf drücken sollten“, sagte Roman in die Stille hinein.
„Sag ich doch“, knurrte Karl.
Horatio lenkte das Licht auf das Tastentableau. Es fand den Notfallknopf am unteren Ende der Leiste. Mit dem Ausfall der Beleuchtung war der Knopf ebenfalls erloschen. Horatio entfernte die Sicherung, die verhindern sollte, dass der Alarm unabsichtlich ausgelöst wurde, und drückte den Notfallknopf. Die Fahrgäste lauschten und hofften auf eine rettende Stimme. Nur ein Zeichen: Ja, auch mit einem Kratzen wären sie schon zufrieden gewesen. Aus der kleinen Öffnung aber Drang, kein Laut. Noch weitere drei Male versuchte es Horatio, bis er resigniert aufgab. Die Mitgefangenen sagten nichts darauf. Was gab es auch zu reden? Sie hatten genug mit ihrer Angst zu kämpfen.
So vergingen Minuten; vielleicht auch Stunden. Es war, als hätte der Fahrstuhl sie direkt in ein schwarzes Loch katapultiert, in dem sichRaum und Zeit auflösten und in der Unendlichkeit des Nichts verschmolz.
Die Dunkelheit ließ ihre Augen erblinden und so reagierten ihre anderen Sinnesorgane umso intensiver. Jedes noch so kleine Geräusch, jeden Geruch und jede Berührung empfanden sie plötzlich als körperliche Folter. Die Gemeinschaft, vormals eine wohltuende Stütze, begann,ihre hässliche Fratze zu zeigen. Allein sein! Nur allein sein!
Karina hörte das Knurren von Romans Magen. Es klang bedrohlich wie das herannahen eines Raubtiers. Doch waren Menschen letztendlich etwas anderes? Roman hörte es ebenfalls und augenblicklich wurde er wütend, dass Heidi ihn mit ihrem Drängen in diese Lage gebrachthatte. Natürlich meldete sich sein Magen! Wegen des bevorstehenden Vorstellungsgespräches war er nervös gewesen und hatte nur eine Kleinigkeit gegessen. Wer konnte auch ahnen, dass es vielleicht sein letztes Frühstück gewesen sein sollte?
„Haben Sie Hunger?“, fragte Karina. „Im Rucksack finde ich bestimmt nochein Stückchen Streuselkuchen.“ Ist zwar ein wenig trocken, aber ich habe nichts anderes.
„Nein,danke, ich kann jetzt nichts essen“,sagte Roman in die Dunkelheit hinein.
„Aber ich würde den Kuchen gerne nehmen“, hörte Karina die Stimme von Chinatsu, welche nun ziemlich unjapanisch klang.
„Ich auch“, sagte Anna.
„Sie können unsere Sprache doch gut“, sagte Roman in Chinatsus Richtung.
„Ich lerne schnell“, entgegnete die junge Frau.
Roman sagte nichts mehr. Die junge Frau hatte ihn verarscht, so wie der Rest der Welt.
„Es ist nur ein kleines Stück Kuchen, aber ich könnte es teilen“, schlug Karina den beiden Frauen vor.
„Wir sollten alle nichts essen.“ „Niemand von uns weiß, wie lange wir hier drinnen noch ausharren müssen, und da macht es keinen Sinn, die Verdauung anzuregen, wenn sie verstehen, was ich meine“, mischte sich Horatio ein.
„Oh“,sagte Karina und gab damit zum Ausdruck, dass sie, ebenso wie alle anderen, verstanden hatte. Nun dachten sie mit Schrecken über eine solche Situation nach.
„Ich hab es mir überlegt“, murmelte Chinatsu.
„Ich auch“, fügte Anna hinzu. Karina sagte daraufhin nichts mehr.
Romanaber knurrte nicht nur den Magen. Zwar hatte Horatio das mögliche Problem gerade erst angesprochen, doch eine Weile schon kämpfte ermit seinem Harndrang und überlegte fieberhaft, wie er sich Erleichterung verschaffen könnte.
Was würde es bei seinem Vorstellungsgespräch für einen Eindruckmachen, wenn er als Erstes nach einer Toilette fragte oder, noch schlimmer, bei dem Gespräch mit unmittelbarer Not kämpfen müsste? Auch wenn er diesen Job nicht wollte: Er musste sich nicht unbedingtals vollständiger Idiot benehmen. Sie sollten ihn auf die sanfteTour ablehnen. „Tut uns leid, aber Sie passen nicht in unserAnforderungsprofil.“ Das war eine Aussage, die ihm am Wochenendedie ersehnte Ruhe brachte. Es gab keinen Zweifel: Sein Verlangenmusste weg und Roman begann, ernsthaft darüber nachzudenken, wie eres in dieser kleinen Fahrkabine bewerkstelligen konnte. Es muss geschehen, ohne dass es einer seiner Mitgefangenen bemerken würde.
Ich stehe direkt neben der Fahrstuhltür und es ist stockdunkel. „Wenn ich mich dicht an die Tür dränge und den Urin leise in den Türschlitz leite, müsste es gehen“, dachteer und begann, die Umsetzung seines Plans in Gedanken durchzuspielen.
Natürlich war die schmale Aktentasche ein Hindernis. In ihr befanden sich seine Bewerbungsunterlagen. Sie durften bei der Aktion nichts abbekommen.Schließlich wollte er sie noch öfter benutzen. Er zog die Tascheunter seinem linken Arm hervor, klemmte sie an die Wand und presste sich mit seinem Körper dagegen. Dann öffnete er vorsichtig die Hose. Als er den schon heftig drängenden Urinstrahl freigab und ihn gegen die Metalltür lenkte, musste er sich auf die Lippen beißen,um nicht vor Erleichterung zu stöhnen.
„Hier riecht es auf einmal nach Pisse, hat jemand aus Angst in die Hosegemacht?“, polterte Karl.
Inzwischen hatte Roman seine Kleidung wieder in Ordnung gebracht und schwieg ,wie alle anderen, zu der Frage.
„Die Probleme bei alten Menschen mit ihrer Blase sind ja bekannt, vielleicht solltest du mal bei dir nachschauen, ob es im Schrittfeucht ist“, bemerkte Anna genervt.
Karl giftete zurück und sagte, dass sie erst gar nicht zu fühlen brauche, denn dass es bei ihr im Schritt feucht geworden sei, läge sicher schon Jahre zurück, was auch kein Wunder wäre – bei ihrem Aussehen. Der Alte stampfte vor Aufregung und Ärger mit seiner Gehhilfe heftig auf den Boden. Das „Plock“ dröhnte durch die Kabine und erschreckte die Fahrgäste erneut. Die Situation drohte zu eskalieren. Da meldete sich Roman zu Wort:
„Mein Gott, im Kinderhort meines Sohnes geht es gesitteter zu als hier.“Ich kann es nicht glauben! Wir alle sitzen fest und verpassen unsere Termine. Wir wissen nicht, wann wir hier rauskommen. Und was machen wir? „Wir streiten und beleidigen uns, lasst uns damit aufhören!“
„Ja, das finde ich auch“, sagte Chinatsu; Horatio und Karina nickten zustimmend, was bei der Dunkelheit jedoch niemand sehen konnte.Vorerst war der Streit geschlichtet und dies erstaunte Roman übersich selber. Für gewöhnlich war er nicht der Typ, der sicheinmischte.
„Mir tun die Füße weh, ich muss mich setzen“, sagte Anna in die nachdenkliche Stille hinein.
Horatioa ktivierte sein Handy erneut und leuchtete in die Richtung der Wasserstoffblonden, die sich umständlich auf den Boden setzte und seufzte. Während der blaue Strahl des schwächer werdenden Lichtsden Bewegungen der Frau folgte, streifte es Roman. Genauer gesagtseine Hose, die in Höhe des Hosenschlitzes einen großen, feuchtenFleck aufwies. Das Licht glitt schnell darüber hinweg, kaum dass eszu bemerken war.
Obwohl Horatio es sah, schwieg er, um nicht wieder Streit aufkommen zulassen. Er war ein wenig überrascht über seine eigene Reaktion. Unter normalen Umständen hätte er dem Kerl den Hyänen zum Fraßvorgeworfen. Aber dies waren eindeutig keine normalen Umstände. Roman aber registrierte, dass Horatio den Fleck gesehen hatte. Erselber hatte ihn vorher nicht bemerkt. Erst der Blick des anderenbrachte ihn zu der Erkenntnis, dass er erwischt worden war. Warumhatte Horatio nichts gesagt? Für Roman war das Verhalten unverständlich und er grübelte über die Gründe nach.
„Wenn er derjenige ist, bei dem ich das Vorstellungsgespräch habe, bin ich verloren und Heidi wird mich wieder für einen Versager halten.“„Sie wird es nicht sagen, aber ich kenne diesen herablassenden, mitleidsvollen Blick.“
Er spürte, wie sein linkes Auge heftig zu zucken begann; das tat es immer, wenn er in unangenehmen Situationen geriet. Dann schlug „BigBen“ zwölf Uhr; Das Glockenspiel des Londoner Wahrzeichens klang dumpf aus der Ledertasche von Chinatsu. Sogleich kramte sie das Handyaus der Tasche und der Bildschirm leuchtete im rosa Licht auf. Ihrer Mutter zuliebe hatte sie das Foto einer Kirschblüte als Bildschirmschoner geladen.
„Das ist ja hier wie im Horrorkabinett“, knurrte Karl, doch die restlichen Fahrgäste jubelten.
„Wir haben wieder ein Netz“, riefen sie und zogen ihre Handys ebenfalls aus den Taschen.
„Nein,nein, das ist nur die Erinnerung an einen Termin.“ Chinatsuschüttelte den Kopf und schaltete das Handy aus.
„Oh Mann, das dauert ja ewig, bis einer kommt, um uns hier herauszuholen“,dachtesie ärgerlich. Ich muss mich für heute Abend noch stylen. Vielleicht komme ich bei Daddy schnell weg. Wenn nur endlich der verdammte Aufzug wieder fahren würde!
Nach einigen enttäuschten Sekunden hielt sie die Untätigkeit nicht mehr aus. Erneut kramte sie ihr Handy aus der Tasche, loggte sich wiederein und begann „Angry Bird“ zu spielen. Das Krachen dereinschlagenden Comic-Vögel bei dem Handyspiel wurde von der Metallverkleidung der Fahrstuhlkabine verstärkt, als wären sie in eine Autopresse geraten.
„Wir waren uns doch einig, dass wir Energie sparen wollten“, erinnertesie Anna in einem vorwurfsvollen Ton, der keinen Zweifel über ihre Missbilligung aufkommen ließ.
„Mir ist aber langweilig und mein Akku ist noch randvoll; bevor der leer ist, sind wir längst alle hier raus“, entgegnete Chinatsu, ohne auch nur eine Sekunde ihren Blick vom Bildschirm zu lassen.
„Dann schalte wenigstens den Ton aus.“ „Es ist sehr laut und nervt schrecklich“, bat Karina.
„Ohne die Geräusche macht es aber keinen Spaß mehr“, antwortete Chinatsu zwischen zwei Explosionen und spielt ungerührt weiter.
„Wennich versehentlich stolpere, mich an dieser blöden Kuh festhalte, ihr dabei das verfluchte Handy aus der Hand schlage und anschließend, um wieder Tritt zu fassen, darauf trete, dann wäre Ruhe“,dachte Karl.
Schon in dem Augenblick, als er dies dachte, gefiel ihm sein Plan und führte ihn aus. Er schob sich näher an Chinatsu heran und rief wehleidig:
„Ich glaube, mir wird ein wenig schwindelig!“
Kaum gesagt stürzte er sich vollends auf die überraschte Chinatsu. Wie beabsichtigt flog das Handy im hohen Bogen ihr aus der Hand und landete vor seinen Füßen. Karl fing sich wieder und trat mit aller Kraft darauf. Das Knirschen des Bildschirms und der wimmernde Ton des sterbenden „Angry Birds“ waren Musik, und das nicht nur in seinen Ohren. Von nun an würden die Vögel nicht mehr ärgerlich sein. Das rosa Licht zuckte noch zweimal kurz und erlosch dann.
„Oh mein Gott, oh mein Gott!“ „Das tut mir aber ehrlich leid“,jammerte Karl. Er brachte es so überzeugend hervor, dass es ihm die meisten abnahmen. Nur Horatio hatte so seine Zweifel und sagte vollerIronie in den nun wieder schwarzen Raum:
„Restin Peace.“ „Das arme Ding kommt bestimmt in den Handyhimmel, dabin ich mir sicher.“
War zuvor die Szene nur durch das rosa Licht von Chinatsus Handy erhellt,flackerten nun alle Bildschirme auf, um nichts von der zu erwartenden Auseinandersetzung zu verpassen.
„Duhast sie doch nicht mehr alle, alter Idiot!“ „Das Handy musst dumir ersetzen“, schrie Chinatsu, während sie sich wütend zu Karl umwandte. Einen Augenblick lang schien es, als würde sie ihnschlagen. Doch der Alte hob drohend seinen Stock.
„Versuch es nur, du Ausländerschlampe!“, geiferte er.
„Hey,Hey!“ Horatio drängte sich zwischen die beiden. „Nun mal langsam!“
Augenblicklich ergriff Anna Partei für Chinatsu und rief:
„Schützen Sie die arme Frau vor diesem cholerischen alten Spinner!“
Doch Karina entgegnete:
„Lastden armen alten Herrn in Ruhe! Was kann er denn dafür, dass es ihm schwindelig geworden ist? Ist doch kein Wunder bei seinem Alter und der Luft ihr drin.“
„Ja,das stimmt, es ist wirklich deutlich stickiger geworden“, sagte Roman, lockerte seine Krawatte und zog sein Jackett aus.
Aus diesem Streit der beiden hielt er sich heraus. Position zu beziehen machte das Leben kompliziert. Davon hatte er mit Heidi genug. Nun nahmen auch die anderen den Anstieg der Temperatur und die Verschlechterung der Luft wahr.
Friedensstiftend sagte Karl zu Chinatsu:
„Na klar werde ich dir das Handy ersetzen.“ Ich habe eine private Haftpflichtversicherung. Wenn du mir deinen Nachnamen und deine Adresse gibst und aufschreibst, was das Handy gekostet hat und wie alt es war, werde ich den Schaden melden, okay? "
Etwas verblüfft über die schnelle Bereitschaft von Karl, den Schaden begleichen zu lassen, erwiderte die junge Frau merklich freundlicher:
Ja,danke. Ich gebe Ihnen meine Daten, wenn wir hier raus sind.„Entschuldigen Sie, dass ich so aufbrausend war, aber ich habe mich so erschrocken.“
Karl nickte und grummelte:
„Ist schon gut, ich habe mich auch erschrocken“, log er, doch dachte gleichzeitig:
„Geht doch!“ „Erziehung durch Härte hat mir auch nicht geschadet.“
Etwas hilflos stand der Schlichter Horatio da und dachte:
„Naja, das hätte auch anders ausgehen können, ich werde jedenfalls nicht mehr gebraucht.“
Ein Gedanke, der ihm nicht sonderlich gefiel.
Die Bildschirme erloschen nacheinander und Dunkelheit flutete wieder den kleinen, stickigen Raum. Es war ruhig, aber nicht still. Man vernahm das Rascheln der Kleidung, das mühsame Atmen, das gelegentliche Scharren der Schuhe auf dem Boden – ja, manch einer meinte sogar,den ängstlichen Herzschlag seines Nachbarn zu hören. Karina bemerkte es zuerst, dass das gleichmäßige Surren des Ventilatorsder Klimaanlage verstummt war. Leise sagte sie in den finsteren Raumhinein:
„Die Klimaanlage, ich kann sie nicht mehr hören.“
Anna, die sich wieder vom Boden erhoben hatte, flüsterte:
Ich höre auch nichts. „Das ist wohl der Grund, warum es so heiß und stickig geworden ist; wir werden nicht abstürzen, sondern ERSTICKEN!“
Das letzte Wort flüsterte sie nicht, sondern schrie es in den Raum.
„ERSTICKEN! Ersticken! Ersticken!“, wiederholten die Metallwände abdämpfend,als wären sie mit einem Knebel gebunden.
„Ach,Unsinn, das wird schon wieder.“ Leuchte mal einer“, sagte Karl.
Anna schaltete ihr Handy ein und richtete das Licht auf den Platz, an dem Karl stand, und dachte:
„Vielleicht habe ich dem Opa Unrecht getan und der ist gar nicht so übel, wie ich dachte.“
Karl nahm seinen Stock und klopfte mehrmals an die Stelle der Decke, ander er den Ventilator vermutete. Irgendwie sah es aus, als wüsste er, was er tat. Auch wenn das sehr unwahrscheinlich war. Wer konnte schon wissen, was in so einer Situation getan werden musste? Nach jedem Schlag lauschten die Fahrgäste auf das surrende Geräusch eines anspringenden Ventilators. Doch nichts geschah. Schließlich meldete sich Roman zu Wort und meinte:
Vielleicht können wir die Tür ein Stück weit aufbekommen, um etwas mehr Luftin die Kabine zu bekommen.“
Das hörte sich vernünftig an und überzeugte alle. Roman und Horatio krallten ihre Finger in den schmalen Türschlitz und versuchten, sie gewaltsam auseinanderzuziehen. Anna und Karina beleuchten die Bemühungen mit ihren Handys. Aber immer wenn die Männer es geschafft hatten, den Schlitz ein wenig zu verbreitern, und ihre Finger lösten, schob sich die Tür augenblicklich wieder in ihre Ausgangsposition zurück.
„Wartet ein mal.“ Ich komme und stecke meinen Stock in die Öffnung. »Wir benutzen ihn als Hebel.«
„Endlich ehrliche Arbeit, endlich etwas für mich“,dachte Karl zufrieden.
Sie schafften es, die Tür um etwa fünfzehn Zentimeter zu öffnen, und unvermittelt drang frische Luft, die nach Schmieröl roch, durch den Spalt. Die Fahrgäste drängten sich zusammen an die Öffnung, atmeten tief ein und kühlten sich die verschwitzen Gesichter. Mit dem Luftzug stieg die Hoffnung.
Anna dachte wieder an ihren Termin zur Wangenstraffung und dieMöglichkeit, ihn doch noch wahrnehmen zu können, um Eduardo zuerfreuen. Sie griff nach ihrem Handy und leuchtete in die Dunkelheitdes Schlitzes. Doch was sie sah, dämpfte die aufgekommene Euphorie.Das hässliche, schmutzige Grau einer Betonwand grinste ihnen entgegen. Anna sprang zurück, soweit jedenfalls, wie es ihr in der Enge der Kabine möglich war. Dieses Mal schrie sie nicht. Der Tonerstickte in ihrer Kehle. Es gab nichts, was sie tun konnten, um sich selber zu befreien. Alle Fahrgäste hatten die kalte Wand gesehen.Das Gefühl, lebendig begraben zu sein, wurde in ihnen stärker als je zuvor. Grauen erfasste ihre Herzen. Und alle schwiegen.
Seit einer Stunde waren sie nun in diesem Metallsarg eingesperrt. Es kam Ihnen wie eine Ewigkeit vor. Die Zeit fließt sadistisch langsam in der Not, so wie sie rasend schnell vergeht in den Glücksmomenten imLeben der Menschen.
Drei Stunden später kauerten sie auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Sie hatten sich wie Sardinen in einer Dose sortiert.Karls Anglerweste und die Jacketts von Horatio und Roman dienten auf dem harten Kabinenboden als Unterlage. Roman benutzte seine braune Aktentasche als Sitzkissen. Anna und Karl schliefen, wahrscheinlich aus Erschöpfung. Doch die restlichen Gefangenen fanden keine Ruhe.Eine Weile hatten sie vor sich hin gestarrt und sich in ihren kreisenden Gedanken verloren. Es hatte nichts gebracht. Schließlich begannen Horatio und Roman sich leise zu unterhalten. Sie fühlten sich als Schicksalsgenossen. Ihre gemeinsamen Bemühungen an der Fahrstuhltür hatten die Männer einander nähergebracht und alles war besser als diese Grabesstille.
Karina und Chinatsu lehnten an der Kabinenwand und schwiegen. Sie waren ihrer eigenen Gedanken müde geworden. Nun lauschten sie der Unterhaltung und dem gleichmäßigen Schnarchen von Karl.
Esstellte sich heraus, dass Horatio nicht derjenige war, der bei dem Roman das Vorstellungsgespräch haben sollte, und so beichtete er dem anderen seine Probleme bei der Jobsuche. Für einen Sekundenbruchteil überlegte Horatio, ob er Roman einen Job in seiner Firma anbieten sollte. Doch wahrscheinlich war das keine gute Idee. Geschäftliches entschied er nie aus den Emotionen heraus. Dies behielt er sich bei Frauen vor. So blieb er unverbindlich und sagte:
Du kannst ja einmal bei uns vorbeischauen. „Manchmal ergibt sichetwas, nur im Moment sind es schwierige Zeiten.“
„Da hast du Recht“, entgegnete Roman und lachte bitter.
Horatio grinste verlegen, als er den sarkastischen Bezug auf ihre derzeitige Situation erkannte.
„So habe ich es nicht gemeint“, sagte er.
„Ich weiß“, entgegnete Roman und bedankte sich für das Angebot. Aberer dachte: „Daswerde ich mir sparen, das wird nie etwas werden.“
Anna erwachte von dem kurzen Nickerchen und lauschte in den finsteren Raum, der voll bereits vertrauter Geräusche war. Nur eines kannte sie nicht. Es war ein leises, zögerliches Gluckern, ähnlich einem kleinen Rinnsal, der nach einem Wolkenbruch in eine Regenrinne lief.Durch dieses Geräusch bemerkte sie schmerzhaft den großen Durst, der in ihrer Kehle brannte. Sie schaltete ihr Handy ein und hielt den Lichtstrahl in die Richtung, aus der sie das Gluckern gehört hatte.Chinatsu zuckte zusammen und beeilte sich, die kleine Wasserflaschein ihrer unförmigen Handtasche zu verbergen.
„Bitte,kannst du mir einen Schluck Wasser abgeben?“ ", sagte Anna mit trockener Zunge. „Ich verdurste fast!“
Chinatsu sah in Richtung des Bodens, zuckte mit den Schultern und sagte:
„Nein,tut mir leid.“ „Ich habe selbst nur noch sehr wenig.“
Annas Handylicht blieb vorwurfsvoll auf Chinatsu gerichtet. Nun waren auch die anderen aufmerksam geworden.
„Aber die Flasche ist doch noch halbvoll, da kannst du mir doch einen kleinen Schluck abgeben“, sagte Anne nun nicht mehr bittend, sondern ärgerlich fordernd.
„Nein ,kann ich nicht!“ Wer weiß denn, wie lange wir hier noch ausharren müssen? „Da reicht das Bisschen Wasser nicht einmal für mich!“
Chinatsu stopfte nun energisch die kleine Wasserflasche zurück in die Tasche.Mit einem entschlossenen Ruck verschloss sie den Reißverschluss der Tasche und wandte sich ab. Doch blieb das Handylicht einige Sekundenanklagend auf dem Gesicht von Chinatsu, bevor es erlosch. Karina dachte:
„Ja,so sind sie, diese jungen Flittchen.“ Nur auf Ihren Vorteilbedacht. Marko wird das auch noch zu spüren bekommen!“
In die Richtung von Anna aber sagte sie:
Komm,du kannst von mir einen Schluck haben. „Die anderen auch, außer Chinatsu, die hat ja alles, was sie braucht, und ich gebe einen Bissen alten, harten Streuselkuchen aus, wenn ihr mögt.
Demonstrativ klatschte Horatio Beifall und rief:
„Ein Hoch auf Karina!“ „Du bist hier die Mutter Theresa des Fahrstuhls!“
Außer Chinatsu lachten alle zustimmend. Die plötzliche Heiterkeit tat gut.Das Lachen befreite sie ein Stück von der lähmenden Lethargie.Roman meinte, dass er noch zwei Schokoriegel in der Tasche habe und diese ebenfalls verteilen würde. Es kamen noch sieben Zitronenbonbons von Anna und zwei Taschenfläschchen Underberg vondem inzwischen erwachten Karl hinzu. Im Licht des Handys von Roman –das Handy von Horatio hatte in zwischen keinen Strom mehr –verzehrten sie das Festmahl der Brüderlichkeit.
Chinatsu,die ihre harsche Reaktion auf die Bitte von Anna bereute, sagte leise:
„Ich habe zwei Müsliriegel, die könnte ich abgeben.“
Sie verstanden die unbeholfene Entschuldigung, lehnten aber das Angebotab. Karl, der in einer seiner vielen Taschen noch ein Notfläschchen Underberg gefunden hatte, prostete den anderen zu und erzählte, dasser früher – also bevor er in die Frührente ging –
Bergmannauf der Zeche Fürst Leopold gewesen war.
„Ich war schon in sechshundert Metern drei Tage eingeschlossen, und wie ihr seht, ich habe überlebt.“
„Warst du alleine da unten?“, fragte Karina.
„Nein,wir waren zu sechst.“
„Haben die anderen auch überlebt?“, wollte Roman wissen und nahm vorsichtshalber vor der Antwort einen kräftigen Schluck Underberg.Die Antwort von Karl ließ endlose Sekunden auf sich warten, in denen die anderen gespannt in die Dunkelheit lauschten.
„Nein,Sie sind alle an den giftigen Gasen erstickt, weil sie nicht auf mich gehört haben“, knurrte Karl.
Was hast du denn den anderen geraten? „Wollte Horatio wissen.“
Karlmusste ein triumphierendes Grinsen unterdrücken und dachte:
„Läuftja besser als erwartet.“
Dann sagte er:
„Ich habe Ihnen empfohlen, sich flach auf den Boden zu legen.“ Heiße Gase steigen schnell nach oben. Aber die Idioten wollten unbedingtden nächsten Notstollen erreichen und sind losgerannt. Den Letzten von ihnen hat die Rettungsmannschaft zwei Meter vor dem Eingang entdeckt. Mich hat man mit der Nase im Dreck gefunden. Nur mit einer leichten Rauchvergiftung – ja, so war das!
Wenn irgendein Unglück geschieht, egal ob Erdbeben, Bombenangriffe, Feuer oder Abstürze, gilt: Flach und lang machen und die Hände über den Kopf!
Einheftiger Hustenanfall beendete seine Schilderung, der die anderen atemlos gelauscht hatten.
„Gut zu wissen, in unserer Situation.“ Wobei ich nicht glaube, dass wir abstürzen können. „Das verhindern die Notbremsen, eigentlich kann da nichts passieren“, bemerkte Horatio.
„Ja,da hast du Recht – eigentlich.“ Wenn dieser Scheißfahrstuhl regelmäßig und fachmännisch gewartet wurde. Ich habe gelesen, dass die Hauseigentümer aus Kostengründen die Fahrstühle nicht immer anmelden. „Hier habe ich kein verdammtes Prüfsiegelgesehen“, sagte Roman.
„Ich auch nicht“, krächzte Karl.
Daraufhin leuchteten die Handylichter die Wände der Kabine ab, aber ein TÜV-Siegel fanden sie nicht. Nur ein verblichener, acht Jahre alter Aufkleber der Herstellerfirma des Aufzugs, der behauptete, den Fahrstuhl überprüft zu haben, prangte an der linken Seite über der Tür.
„Na toll!“ „Es ist wohl mein Schicksal, dass ich immer das Falsche bekomme“, murmelte Anna.
Wieder schwiegen sie. Niemand von ihnen hatte jemals wirklich darüber nachgedacht, ob ein Aufzug gewartet worden war, wenn sie ihn betraten. Man vertraute einfach. Doch wem? Firmen, für die Sicherheit von Menschen die oberste Priorität besaß, oder Buchhaltern, die ihre Kosten so niedrig wie möglich halten wollten?Die Fahrgäste konnten nur hoffen, keine Kalkulationsvariable zusein. Doch wer konnte das schon wissen?
Die leichte Entspannung, welche sich vor Kurzem noch ausgebreitet hatte,sickerte nun wieder durch den Türschlitz und tropfte in die Tiefe.Wann kam endlich Hilfe? Nichts war zu hören. Kein Ruf, kein Geräusch. Es war, als lebten sie allein auf einem lebensfeindlichen Planeten, ohne Eingebung, wie sie sich retten konnten. Nur KarlHaferkamp dachte voller Genugtuung:
„Ichbin für alle Fälle vorbereitet.“
Anna, nun endgültig überzeugt, dass der Alte doch nicht so schlecht war,wie sie anfangs gedacht hatte, sagte:
„Na,wenigsten haben wir mit Karl einen, der sich auskennt.“
Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum. Dies war alles, was Sie tun konnten.
Nacheiner halben Stunde des stumpfen Sinnierens sagte Karl:
„Lasst mich mal an den Türschlitz.“ „Ich muss jetzt Pinkeln, sonst gehtes in die Hose, wie Anna fälschlicher Weise vorhin schon vermutet hatte.“
Die anderen zogen die Beine an und rutschten zur Seite, dass der Alte vorbeistapfen konnte. Als er vor der Tür stand, befahl er:
„Und dass keiner Licht macht!“ „Ich bevorzuge das Pinkeln im Dunkeln,wie mein Vorgänger“, dabei kicherte er vergnügt. Roman zuckte zusammen. Als er fertig war, rief Karl fröhlich: „Der Nächste,bitte!
Natürlicher Weise hatten auch die anderen nach den vielen Stunden ein dringendes Bedürfnis, sich zu erleichtern, und so überwanden sie, im Schutzeder Dunkelheit durch den Türschlitz in die Tiefe zu urinieren. Die Verrichtung bei den Damen erfolgte aus nachvollziehbaren Gründen nicht ganz so präzise wie bei den Herren, aber bei den gegebenen Umständen waren alle erleichtert und zufrieden.
Die darauf folgenden heftigen Blähungen, die einen intensiven Kotgeruchin der Kabine verbreiteten, kommentierte niemand der Passagiere. Peinlichkeit senkte sich auf die Atmosphäre.
Ohne Vorwarnung ging das Licht in der Kabine wieder an. Die gleißende Helligkeit bohrte sich schmerzhaft in die Augen. Erschrocken kniffen die Fahrgäste sie zusammen. Erst nach einem unendlich langeanmutenden Augenblick begannen sie damit, ihre Handflächen zum Schutz gegen die brennende Helligkeit über die Augen zu halten und in den Raum zu blinzeln. Licht bedeutete Strom, bedeutete Leben,bedeutete Befreiung aus diesem Raum. Aber niemand jubelte. Das plötzliche Licht machte die zuvor in der Dunkelheit verborgenen und nur manchmal durch den matten Schein der Handys beleuchteten Mitleidenden schmerzlich deutlich sichtbar. Der schützende Vorhang der Dunkelheit war zu schnell zerrissen worden. Anna fand als Erste ihre Sprache wieder.
„Gott sei Dank, jetzt kommt Rettung und dieser Albtraum ist vorüber“,sagte sie.
„Ja,ja, Gott sei Dank“, murmelten die anderen Passagiere.
NurKarl knurrte:
„Noch sind wir nicht draußen.“
Und als wenn der Fahrstuhl die Worte des Alten unterstreichen wollte, sackte die Kabine plötzlich einen Meter ab und blieb erneut mit einem scharfen Ruck stehen. Die Türen öffneten sich. Ein dumpfes Stöhnen erfüllte den Raum. Eben noch die Rettung vor Augen und Sekunden, danach den Tod! Dies ließ keine Schreie zu. Es geschah zu schnell, um die Angst herauszuschreien.
Am unteren Ende der Tür hatte sich ein Spalt von fast vierzig Zentimetern gebildet. Dort hindurch konnte man in den Boden der sechsten Etage sehen. Auf dem Tastentableau in der Kabine zuckten die roten Lichter wie eine billige Reklame auf der Vergnügungsmeile rauf und runter. Das Steuerungsprogramm versuchte, sich neu zukalibrieren.
Entschlossen schrie Chinatsu:
„Da passe ich durch!“
„Nicht!“,warnte Karina und hob abwehrend die Hand.
Chinatsu aber warf sich auf den Kabinenboden und begann, sich in schlängelnden Bewegungen durch den Spalt zu zwängen. Fast hatte sie es geschafft.Nur noch ihre Unterschenkel ragten in die Kabine.
Da zitterte der Fahrstuhl kurz, als wenn er kichern würde. Er schossnach oben, zurück in seine alte Position, wo er mit einem entschlossenen Ruck verharrte.
Die beiden sauber durchtrennten, blutigen Beinstümpfe hatten, während sie an der grauen Betonwand vorbeigeschabt waren, zwei rote Streifen hinterlassen. Mit sprachlosen Entsetzen starrten die Passagiere auf die Stümpfe, die auf dem Kabinenboden lagen, als wenn sie von der Eigentümerin nur vergessen wären, und für einigeSekundenbruchteile hofften sie, jemand würde kommen und sagen: „Ach,da sind sie ja!“ Aber niemand kam, um sie von dem Grauen zuerlösen.
Aus der sechsten Etage hörten Sie nichts. Kein Schreien drang zu ihnenempor. Chinatsu dachte nicht an das Geld ihres Vaters und nicht andie Feier, welche sie ursprünglich des Abends veranstalten wollte.Fast augenblicklich war sie in Ohnmacht gefallen. Wenn die Hilfenicht schnell kam, musste sie verbluten.
Zudiesem Gedanken aber waren die restlichen Fahrgäste unfähig. Siestarrten auf die beiden Stümpfe. Anna drehte sich um, beugte sich hinab und erbrach sich. Die anderen konnten sie verstehen. Auch sie waren zu geschockt, um überhaupt irgendwie noch reagieren zu können.
Noch hatten sie diese wundervollen Beine der jungen Frau im Gedächtnis,als sie bei ihnen gestanden hatten. Nun waren sie nur noch totes Fleisch und abgetrenntes Muskelgewebe. Niemand von ihnen hatte vorher so etwas gesehen und sie beneideten Anna, dass sie ihr Entsetzen auskotzen konnte.
Bedingt durch die schrecklichen Ereignisse nahmen sie den leichten Brandgeruch nach geschmorten Kabeln erst sehr spät wahr. Dieser Geruch bedeutete Feuer und Feuer entfachte den grausigen Gedanken, in dieser Metallkiste bei lebendigem Leib geröstet zu werden. Keiner der Fahrgäste hätte vermutet, dass sie Chinatsu um ihr furchtbaresSchicksal beneiden würden. Was ihr passierte, war schrecklich –immerhin aber es war schnell gegangen.
Da kratzte ein keuchendes Röcheln an ihren albtraumhaften Gedanken. Es lag nicht in der Vergangenheit. Es war unmittelbar hier. Niemand von ihnen sah die angstvoll aufgerissenen Augen von Roman, mit denen eran der blutverschmierten Betonwand lehnte und sich seine Hand in der linken Brusthälfte festkrallte. Ein lautloser Schrei erbrach sich aus seinem Mund. Und erst, als ihm die Beine weg-knickten und er wie eine Marionettenpuppe, der man die Fäden durchgeschnitten hatte,umstürzte, blickten die anderen geschockt in seine Richtung.
„Er hat einen Herzanfall!“, schrie Karina und beugte sich hinunter zudem krampfartig zusammenziehenden Körper, der damit die Blutversorgung unterbrach. Sie legte zwei Finger an die Halsschlagader und nach wenigen Sekunden begann sie hektisch mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Nach vier runden Pumpen und Mund-zu-Mundbeatmung prüfte sie schwer atmend seinen Puls.
„Du stirbst mir hier nicht weg!“, sagte sie, als wollte sie dem Mann einen Befehl erteilen.
Anna schrie die ganze Zeit. Horatio sagte gar nichts. Er sah zu der Frau hinunter, die unablässig versuchte, den Körper zurück ins Leben zuholen. Dann aber schüttelte Karina resignierend den Kopf und sagte keuchend:
Erhat es hinter sich. „Er muss wohl ein angegriffenes Herz gehabt haben und die Aufregung der letzten Stunden war zu viel gewesen.“
„Du hast getan, was du konntest“, meinte Horatio.
„Was nützt ihm das?“, fragte Karina und sah zu dem Mann empor.
Romans geöffnete Augen aber starrten zu der Kabinendecke empor. Ihr Glan zwar erloschen, und doch lag immer noch Erstaunen in ihnen, als ob sie fragten, wie es passieren konnte – oder was Heidi dazu sagen würde. Vielleicht war sie nun mit ihm zufrieden.
Anna schrie nicht mehr, nun weinte sie.
„Wir kommen hier nicht mehr raus“, schluchzte sie.
„Rede nicht so einen Unsinn“, wies Karina sie zurecht. Aber sie war sich selber nicht sicher. Horatio schwieg dazu.
Karl stand an der Kabinenwand und stützte sich auf seinen Stock. Der Verlust des größten Teils von Chinatsu war zu verkraften, so dachte er. Wenn es zum Absturz kam, würde der leblos daliegende Roman den Verlust durchaus ausgleichen.
Anna krümmte sich zusammen. Augenblicklich erhob sich Karina, beugte sich zu ihr hinüber und legte ihr die Hand auf den Rücken.
„Was ist los?“ fragte sie.
„Mir ist schlecht“, sagte die andere. Dann begann sie zu würgen.
Da Anna über keinen Mageninhalt mehr verfügte, den sie hätte erbrechen können, trat nur noch blutiger Schaum über ihre Lippen.Durch das wenige Wasser, das sie getrunken hatte, und dem Flüssigkeitsverlust durch das Erbrechen war sie dehydriert. Wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwich, fiel sie in sich zusammen. In Zeitlupe sackte sie neben dem reglos daliegenden Roman zu Boden und versank in Ohnmacht. Karina, die nun endgültig die Rolle der Notfallschwester übernommen hatte, rief:
„Sie braucht dringend Wasser!“
Horatio zuckte hilflos mit den Achseln. Es gab kein Wasser mehr, selbst der kleinste Rest vom Underberg war aufgebraucht. Karina seufzte verzweifelt. In der Enge der Kabine kniete sie fast auf Romans Leiche und neben ihr lag Anna, die Gefahr lief, das gleiche Schicksal zuerleiden. Ganz zu schweigen von Chinatsu, die sich unbesonnener Weise versucht hatte, sich durch den Spalt zu schlängeln, nun irgendwo lag und mit Sicherheit verblutete, wenn sie nicht umgehend Hilfe bekam oder vielleicht schon an dem Schock gestorben war. Obwohl Karina mit den beiden Männern in der Kabine kauerte, fühlte sie sich plötzlich allein. Sie war hilflos.
„Reiß dich zusammen“, dachtesie. „Es bringt nichts, wenn du hier auch noch zusammen klappst.“
Horatio stand hinter ihr und starrte ebenso ratlos zu der Frau hinunter. Karl stemmte sich immer noch auf seinen Stock. Ungeachtet der ernsten Lage konnte er ein leichtes Schmunzeln nicht ganz unterdrücken.
„So,das Fundament wäre gelegt“, dachte er.
Karina bemerkte Karls Reaktion nicht. Horatio jedoch sah es aus den Augenwinkeln heraus und versuchte irritiert, das Minenspiel des Alten zu deuten. Plötzlich kam ihm ein ungeheuerlicher Gedanke.
„Was wäre, wenn dieser alte Knochen plant, uns als Polster zumissbrauchen und die Geschichten über seine Erfahrungen als Bergmannnur dem Zweck dienten, ihm zu vertrauen, um uns bei einem Absturz auf den Boden zu legen?“ "
Unwillig seiner Gedanken schüttelte Horatio den Kopf und warf einen scharfen Blick auf Karl, der weiterhin unbewegt an der Kabinenwand stand. Sein gekrümmter Rücken, die entschlossen auf den Kopf gedrückte Mütze und das unablässige Mahlen seiner beiden Lippen beruhigten Horatio für einen Augenblick.
„Du siehst Gespenster“, dachteHoratio. „Zu solchen Gedanken ist der Alte gar nicht fähig.“ „Trotzdem werde ich diesen Kerl im Auge behalten.“
Karl blinzelte und sah in Richtung von Karina hinab, die immer noch nebenAnna kniete und nicht zu wissen schien, was sie nun machen sollte.Sie hatte die Hand der Frau ergriffen und legte ihre schützend darüber. Es half mit Sicherheit nicht, doch schaden konnte es auch nicht.
Horatio aber ließ seine Gedanken über Karl nicht mehr los. Er grübelte über die Möglichkeiten nach, die in diesem verrückten Gedanken steckten, und befand, dass sich die Überlebenschancen tatsächlich erheblich verbessern würden, wenn man bei einem Aufprall einen oder besser zwei menschliche Körper als Airbag unter sich hätte. War sich der alte Knochen auch darüber bewusst? Mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung musterte Horatio Karl und beschloss, diese Idee weiter zu verfolgen.
Wenn es tatsächlich der Plan des alten Bergmanns sein sollte, so konnte Horatio diesen Vorteil auch für sich nutzen. Er musste lediglich dafür sorgen, dass er selber oben lag. Karina und Karl mit Gewalt dazu zu bringen, sich neben Anna und Roman auf den Boden zu legen, war kein Problem. Immerhin war er den beiden körperlich weit überlegen.
Horatios Handy vibrierte. Die Netzverbindung musste sich durch den offenen Schacht und die Kabinentür letztendlich doch zu ihnen durch gekämpft haben. Doch dies war momentan keine Option. Der Bruder und die Probleme der Firma waren in weite Ferne gerückt. Die stickige Kabine war die Realität. Der Geruch nach Kot und Erbrochenem. Und die kniende Frau, welche sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie der Wasserstoffblonden helfen konnte. Sie zu überwältigen würde leicht. Ebenso wie Karl, der zu alt sein würde, um sich zu wehren.Zumal Horatio die Überraschung auf seiner Seite hatte. Ehe sie begriffen, was mit ihnen geschah, hätte er sie unter sich gezwungen.
Alssie die undeutlichen Stimmen, die zwischen Fahrstuhlkabine und Betonwand zu ihnen drangen, hörten, konnten sie zuerst nicht reagieren. Sie misstrauten ihrer Wahrnehmung; Zu schön war das Versprechen auf Rettung. Flüsternd, als ob sie Angst hätte, die Stimmen zu vertreiben, fragte Karina:
„Habt ihr das auch gehört?“
Horatio nickte und Karl murmelte:
„Ja,ich glaube, da war etwas, aber ich bin mir nicht sicher.“
Atemlos lauschten sie in die Stille.
„Da !Da ist es wieder“, sagte Horatio.
„Hilfe,Hilfe!“ Wir sind hier eingeschlossen! Hilfe! Karinas Stimme überschlug sich. Karl hämmerte mit seiner Gehhilfe gegen die Metallwand der Kabine und bekam vor Aufregung einen Hustenanfall.Dann wieder lauschen.
Mit einem kaum spürbaren Ruck bewegte sich der Fahrstuhl quälendlangsam nach oben.
„Verdammt,das wurde aber auch Zeit.“ „Mein Anwalt wird prüfen, ob man den Betreiber nicht auf Schmerzensgeld verklagen kann“, schimpfte Horatio erleichtert. "
„Die gehören alle in den Knast!“, krächzte Karl zustimmend.
Nur Karina schwieg, sie war einfach zu überwältigt von der Aussicht auf Rettung. Doch die Fahrt des Aufzuges dauerte nur kurz; nach wenigen Augenblicken stoppte er bereits wieder. Der Spalt der beiden Türteilestand immer noch offen. Nun aber lugte ein Gesicht, so gut es konnte,von außen herein. Der Feuerwehrhelm rutschte dem Mann ein wenig indie Stirn und er hob den Kopf, um ihn gerade zu rücken. Dann aber versuchte er wieder, in die Kabine zu schauen.
„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ „Keine Angst, wir werden sie hier rausholen, aber haben Sie noch Geduld, es ist schwierig und wird noch ein wenig dauern“, rief er hinunter, und obwohl seine Stimme eine Spur kratzig klang, hatten die drei Fahrgäste niemals eine schönere gehört.
„Gibt es Verletzte?“, fragte der Feuerwehrmann weiter.
„Nein,nur zwei Tote“, erwiderte Karl grimmig.
„Einer Frau wurden die Beine abgerissen, als sie hinausklettern wollte“,rief Karina dem Retter entgegen.
„Wir haben sie gefunden“, entgegnete der Mann und achtete darauf, dass ihm der Feuerwehrhelm nicht wieder in die Stirn rutschte.
„Wie geht es ihr?“ Lebt sie noch? „Wollte Karina wissen.“
„Sie hat sehr viel Blut verloren, aber sie wird überleben“, entgegnete der Feuerwehrmann.
„Gottsei Dank!“ Karina legte ihre beiden Hände über kreuz auf ihreBrust.
Horatio nickte anerkennend und selbst Karl brummte etwas von Courage, die Chinatsu bewiesen hatte, gerade weil sie sich entschlossen hatte,nicht einfach zu sterben.
Der Kopf des Feuerwehrmannes verschwand für einen Augenblick.
„Hey!“rief Horatio hinauf, doch sogleich erschien das Gesicht der Rettungwieder. Dieses Mal langte er jedoch mit seinem Arm hinunter in die Kabine. Er reichte drei Wasserflaschen durch den Schlitz und einigeTabletten zur Kreislaufstabilisierung.
„Nehmen Sie die ein“, sagte er ruhig, aber bestimmt.
Gierig öffneten die Fahrgäste die Flaschen und ließen das kühle Wasser durch ihre Kehlen rinnen. Es war, als würde die Angst in dem Waasser ertrinken, und die Hoffnung, welche sich mit dem Kopf des Feuerwehrmannes gezeigt hatte, wurde zur Gewissheit. Selbst der Gestank schien der Kabine zu entfliehen.
So gleich,nachdem sie getrunken hatte, öffnete Karina den Mund von Anna und tröpfelte vorsichtig Wasser hinein und schüttete ihr einen Strahlüber das Gesicht. Ein leichtes Flattern von Annas Augenlidernzeigte, dass sie auf dem Weg zurück ins Leben war. Als sie die Augen öffnete, verlangte sie nach mehr Wasser. Karina gab ihr die Flasche,welche sie mit zitternden Händen entgegennahm.
„Du darfst nur in kleinen Schlucken trinken, hörst du?“ " mahnte Karina sie.
Anna nickte. Karl dachte:
„Na ja, jetzt, wo wir gerettet werden, ist es egal, wenn ein Teil des Fundaments wegfällt.“ Doch dieser arrogante Besserwisser hat mich so merkwürdig gemustert. „Es ist zwar unmöglich, aber es kam mir so vor, als wenn er von meinen Notfallplänen etwas ahnen würde.“
Dieser Gedanke war ihm nicht angenehm. Er grunzte vor sich hin. Horatio lehnte sich an die Kabinenwand und zog erneut gierig an seiner Flasche. Sie alle bereiteten sich auf ihre Rettung vor.
In der Zwischenzeit versuchten die Feuerwehrleute, den Fahrstuhlkorb mittels eines Handrades weiter nach oben zu ziehen.
Der Spalt an der Tür verbreiterte sich Zentimeter um Zentimeter. Jede Vergrößerung wurde von den Passagieren mit Erleichterung registriert. Sie wussten nicht, dass es zwei Feuerwehrmänner waren,die sich mit dem Handrad abmühten.
Bedingt durch die schlechte und weit zurückliegende Wartung waren das Radund die Achse, die es mit den Zahnrädern verband, stark verrostet.Die beiden Männer nahmen eine Brechstange zu Hilfe, die sie in die Speichen des Rades klemmten, um so einen Hebel zu haben und das Raddrehen zu können. Tatsächlich schien es zu funktionieren. Für die Verbindung zwischen dem Rad und der Achse aber war es zu viel. Sie hielt die Belastung nicht aus und brach.
Das Halteseil zerriss mit einem sirrenden Geräusch, welches an das Zerreißen einer Gitarrenseite erinnerte, und die Aufzugkabine sackte urplötzlich nach unten. Zuerst bewegte sich der Fahrstuhl langsam und ruckelnd abwärts; die Notbremsen gaben ihr Bestes, um die Höllenfahrt zu stoppen. Aber die Bremsbacken waren verdreckt und verölt und so rutschte die Kabine immer schneller nach unten.
„Oh nein“, kreischte Anna wieder und wälzte sich erneut apathisch aufden Boden zurück.
Selbst Karina, die bislang so selbstbeherrscht schien, konnte sich eines Schreies nicht erwehren. Das wankelmütige Schicksal hatte sich fürden Absturz entschieden und gegen die Rettung.
Auch Horatio hatte einen Entschluss gefasst. Er stieß sich von der Kabinenwand ab und trat auf die am Boden liegende Anna. Er packte Karina an den Schultern und schleuderte sie zu Boden, wobei sie mit dem Kopf gegen die Wand stieß und benommen auf dem toten Roman zuliegen kam.
Horatio kümmerte sich nicht darum. Er zuckte herum und ging auf Karl Los.Doch der alte Mann besaß Geistesgegenwart. Mit voller Wucht rammte er dem Angreifer seinen Krückstock in den Magen. Horatio schrie auf vor Schmerz. Er umklammerte den Stock und versuchte, ihn Karl aus den Händen zu reißen. Trotz seines Alters aber war der ehemalige Bergmann stärker als gedacht; Sein lebenslanges, körperlich hartes Arbeiten hatte ihn gestählt. Sekundenlang rangen sie um die Krücke.Plötzlich aber ließ Karl die Krücke los und Horatio verlor auf dem schwammigen Körper von Anna sein Gleichgewicht und stürzte rücklings gegen die vorbeisausende Betonwand. Das Metallstück,welches aus der Betonwand herausragte, war nicht groß. Es mochte die Länge eines Nagels besitzen. Trotzdem genügte es vollends, um Horatio ein großes Loch in seinen Hinterkopf zu reißen und ihn zurück in die Kabine zu schleudern. Bäuchlings blieb er auf Anna liegen und rührte sich nicht mehr. Es entsprach nicht seiner Vorstellung, sich Frauen zu nähern.
Dies alles geschah in rasender Geschwindigkeit. Der Fahrstuhl raste weiter dem Boden entgegen. Der bevorstehende Aufprall stand unmittelbar bevor. Die Zeit zerplatzte wie eine Seifenblase. Doch nicht fürKarl. Für den Bruchteil eines Augenblickes sah das Bild des Menschenteppichs, der sich vor ihm auf dem Kabinenboden ausbreitete.Genussvoll spreizte er seine Arme und stürzte sich auf den Körperhaufen, gerade so, als wäre er ein gefeierter Rockstar, dersich im Diving von der Bühne in die Hände der tobenden Fans fallenließ. Doch sein Auditorium schwieg und bekam es nicht mit. Immerhinerfüllten sie für Karl ihren Zweck.
Trotzdes Luftkissens, das sich zwischen Kabine und Schachtboden gebildethatte, war der Aufprall nach fast 20 Metern hart und laut. Unter sichs pürte Karl das Brechen der Rippen und Zersplittern der Gelenke. Für ihn jedoch wurde der Stoß abgedämpft. Er stöhnte kurz auf und bekam eine Hustenattacke. Aber das war er ohnehin gewöhnt.
Unter der Gewalt des Aufpralls krachte die Kabine in sich zusammen, als ob das Himmelsgewölbe herabstürzen würde. Trotzdem blieb sie in der Grundstruktur bestehen. Als das letzte Ächzen der verformtenStahlblechwände verstummt war, herrschte im Kellergeschoss staubige Grabesstille. Eine schwache Notbeleuchtung flimmerte wie ein Nebellicht durch das Chaos. Durch den enormen Aufprall hatte sich derTürspalt vollends geöffnet. Glasscherben hagelten von der Kabinendecke herab. Nun gab es dort oben einen Riss, durch den die blanke Stahltür des Aufzugeinganges zu erkennen war. Der Menschenteppich rührte sich nicht und für ein paar Sekunden blieb Karl über Ihnen liegen.
Erst langsam rappelte er sich auf und tastete nach seinem Stock. Ein Fuß glitt zwischen einem Körper und Arm. Es musste sich um Anna handeln,vermutete Karl. Fast als ob er Angst hätte, dass die Frau sich plötzlich bewegen und sein Bein einklemmen würde, zog er ihn zurück. Dann ließ er seinen Blick über die deutlich flacheren und irgendwie zerknitterten Körper seiner Schicksalsgenossen gleiten.
„Ja,also wirklich schön sehen die Airbags nach Gebrauch nicht aus“,dachteKarl Anton Haferkamp achselzuckend.
Es rasselte von der Decke herab und der alte Mann hob den Kopf.
„Ist da noch jemand?“, rief es von oben. Kurz darauf erschien der Kopf des Feuerwehrmannes, der wenige Augenblicke zuvor ihnen noch so zuversichtlich das Wasser gereicht hatte. Nun wirkte er verstört.
„Ich lebe noch!“, krächzte Karl nach oben und hustete erneut.
„Sonst niemand?“, fragte der Feuerwehrmann.
„Ich glaube nicht!“
„Sind Sie verletzt?“
„Ich bin gesund genug, um hier herauszukommen“, entgegnete der Alte.
„Wir holen sie sofort!“, rief der Feuerwehrmann hinunter.
Dann verschwand sein Kopf. Karl war sicher, dass er dieses Mal tatsächlichdem Fahrstuhl entkommen konnte. Ein Seil wurde heruntergelassen und wenige Augenblicke später stand der Feuerwehrmann neben ihm. Er versuchte, den Blick auf die Fahrgäste auf dem Boden zu ignorieren.
„Gott sei Dank!“, sagte er.
„Fragen Sie mich einmal“, entgegnete Karl. „Und jetzt holen Sie mich hierraus!“
Vier Jahre später wurde sie bei den Paralympics Olympiasiegerin. Karina überlebte Schwerverletzt und ist heute stolze Eigentümerin einer gut laufenden Massagepraxis; Sie hat nie mehr einen Fahrstuhl betreten. Die wiederbelebte Anna verstarb an den Folgen des Aufpralls, ohne Eduardo wieder zusehen. Eine gebrochene Rippe hatte ihre Lungen durchbohrt. Horatio lebt in einem Heim für geistig Behinderte und erzählt jedem, dass er es geahnt habe, was dieserKarl vorgehabt hatte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was es war. Sein Gedächtnis war dem Metallstück an der Betonwandzum Opfer gefallen. Karl Anton Haferkamp starb acht Monate nach derFahrstuhlkatastrophe an Lungenkrebs.