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Der Cellokasten
Margrit de Vries schreckte im Bett hoch. Mit ihrem schwarzen Seidenschlafanzug verschwand sie fast in der schwarzen Satin Bettwäsche. Für Margrit gab es keine andere Farbe als Schwarz, zumindest soweit es um Klamotten ging. Mit Schwarz kam auch ihre helle Haut, das rote lange Haar und er knallig rote Lippenstift, den sie immer trug am besten zur Geltung. Zumindest war das ihre Überzeugung.
Im dämmrigen Licht ihres Lofts fiel Ihr erster Blick auf ihren Cellokasten in der Ecke. Dort stellte sie ihn immer ab, direkt neben dem Stuhl, auf dem sie immer saß, wenn sie übte.
Puh, er war noch da, Gott sei Dank! Nicht auszudenken, wenn er wieder verschwunden wäre. Es begann vor einem Monat. Da war er auf einmal weg. Nach zwei Stunden tauchte er wieder an seinem alten Platz im Zimmer auf. Er war durchnässt und mit allerlei Algenkram verziert.
Was war da los? Sie konnte sich das mysteriöse Verschwinden beim besten Willen nicht erklären. Vor zwei Wochen war er fast einen ganzen Tag verschwunden. Als er wieder auftauchte, war er voller Sand und fühlte sich warm an, ja fast schon heiß.
Inzwischen sah er, nach etlichen Ausflügen, aus, als ob ihn ein Bulldozer überrollt hätte. Aber Gott sei Dank war es war nur der Kasten. Ihr Cello nahm sie zuhause immer sofort heraus, wenn es nicht unbedingt für Transportzwecke drin sein musste.
Margrit de Vries schloss ihre Augen und war sofort wieder eingeschlafen. Als sie später aufwachte, war es draußen schon hell. Ihr Smartphone zeigte 8:34 Uhr. Sie war völlig gerädert und hatte schreckliche Albträume gehabt. Sie versuchte sich zu erinnern.
Sie war im Traum in ihren Cellokasten geklettert und tatsächlich mit ihm gereist. Als sie ihn von innen öffnete, befand sie sich in einer Winterlandschaft. Sie begann sofort vor Kälte zu zittern, da sie nur ihren Schlafanzug trug. Neugierig stieg sie aus dem Kasten und sah sich um. Irgend etwas stimmte hier nicht. Sie konnte es aber nicht sofort benennen.
Lag es an dem Licht, das mehr diffus als sonnig war? War es die Luft, deren Kälte in ihren Lungen brannte? Es roch gleichzeitig erfrischend und dumpf, wie eine Mischung zwischen Zitronen und Schweinebraten.
Mit einem Schlag wurde es ihr klar! Hinter den Schleierwolken konnte man zwei Sonnen sehen. Wo um Himmels willen war sie?
Plötzlich hörte sie einen Laut, der so ähnlich wie das Muhen einer Kuh klang. Am Horizont tauchte ein großes Geschöpf mit sechs Beinen auf. Das war zu viel für die Cellospielerin. Sie sprang in ihren Cellokasten und hielt ihn panisch von innen zu. Dann wartete sie angstvoll, dass das seltsame Wesen auf ihrem Kasten aufschlug. Als längere Zeit nichts passiert war, nahm sie allen Mut zusammen und öffnete den Kasten vorsichtig.
Zu ihrer Überraschung war sie wieder in ihrem Loft mit angenehmer Raumtemperatur und nur einer Sonne am Himmel, die durch das Fenster in den Raum schien.
Erst jetzt wurde ihr richtig klar, dass sie offenbar auf einem anderen Planeten gewesen war. Aber so etwas gab es doch gar nicht! Wurde sie langsam verrückt? Sie berührte den Kasten und spürte immer noch die Kälte der Schneelandschaft. Dann war sie wieder aufgewacht. Ihr wurde immer noch übel, wenn sie an das sechsbeinige Monster dachte. Aber das war ja nur ein Traum gewesen!
Aber jetzt musste sie zur Probe. Sie ging erst ins Bad und versuchte sich den Albtraum vom Körper zu duschen. Dann zog sie ihr schwarzes Minikleid an, es sollte heute sehr warm werden, und verstaute ihr Cello im zugehörigen Kasten.
»Du bleibst jetzt erst mal hier bei mir!«, murmelte sie und sah den Kasten streng an. Als ob der etwas bemerken würde, ging ihr durch den Kopf. Dann schnallte sie den Kasten auf den Rücken und verließ das Haus in Richtung Opernhaus.
Dort angekommen stellte sie ihren leeren Cellokasten zu den andern Transportbehältnissen für Musikinstrumente und ging mit ihrem Cello in den Proberaum.
Als sie zurück kam, bot sich ihr ein Bild der Verwüstung. Ihr Kasten lag geöffnet am Boden. Eine Schleimspur führte von ihm weg. Das war neu! Außerdem steckten etwa zwanzig winzige Pfeile in der Vorderseite des Kastens. Sie waren ungefähr zehn Zentimeter lang, aus einem Material, das sich glitschig anfühlte und nach Pfefferminze roch.
Sollte sie das Ding, das die Schleimspur hinterlassen hatte, suchen? Oder so tun, als ob sie das alles nichts anginge. Sie entschied sich für Letzteres. Schnell brach sie die Pfeile ab. Es entstand dabei ein unangenehmer Geruch, dem sie sich durch Flucht mit ihrem Cello und zugehörigem Kasten entzog.
Der restliche Tag verging ruhig. Es tauchte kein schleimiges Ding auf, kein Schnee, kein Wasser, nichts!
Nachts wachte sie schweißgebadet auf, weil sie keine Luft mehr bekam. Bestimmt hatte sei einen Herzinfarkt. Das war ihre erste Vermutung. Margrit de Vries tastete nach ihrem Smartphone, um Hilfe zu holen, schaltete aber aus versehen das Licht auf ihrem Nachtkästchen an. Und dann sah sie Ihn/Sie/Es.
Er/Sie/Es saß auf ihrer Brust und starrte sie an. Schleim lief von ihrem, seinem Körper. Das Schleimmonster aus dem Cellokasten saß auf ihr. Es war etwa dreißig Zentimeter groß und genauso breit. Seine/Ihre Haut war lindgrün und sonderte dauernd Schleim ab. Aus zwei großen Kulleraugen sah Er/Sie/Es sie unverwandt an. Zuerst konnte sie nicht sagen, was an dem Ding nicht stimmte. Aber dann erkannte sie es, es zwinkerte nicht. Hatte Er/Sie/Es überhaupt Augenlider? Sie wollte es gar nicht wissen, sie wollte das Ding nur noch los werden.
»Ruhig bleiben!«, sagte sie zu sich selbst, wenn Er/Sie/Es ihr feindlich gesinnt wäre, würde sie wahrscheinlich schon nicht mehr leben.
»Hallo Monster! Wir gehen jetzt wieder in den Cellokasten, ok!«, sagte sie mit zitternder Stimme und wand sich unter dem Ding hervor. Sie stand auf und machte einladende Gesten von ihrem ungebetenen Gast zum Cellokasten.
Der war offenbar nicht blöd und kapierte, was sie wollte. Er/Sie/Es schlappte zum Kasten und stieg hinein. Sie klappte den Deckel zu und legte sich wieder ins Bett. Aber schlafen konnte sie nicht. Immer wieder lugte sie zu dem Kasten und wartete sehnsüchtig darauf, dass er verschwinden würde.
Nachdem sie gefühlte 100 Stunden wach gelegen hatte, schlief sie doch noch ein.
Ihr erster Blick nach dem Aufwachen galt dem Kasten. Äußerlich hatte er sich nichts verändert. Vorsichtig stand sie auf und öffnete langsam den Deckel.
Kein Schleimmonster! Also war der Kasten über Nacht unterwegs gewesen. Da das schon mehr oder weniger zu ihrem Leben gehörte, fand sie das nicht mehr außergewöhnlich.
Auf dem Deckel des Kasten pappte jetzt ein Blatt, offenbar so was wie ein Werbeflyer. Der Text war in einer Schrift verfasst, die sie nicht kannte und die sie an chinesische Schriftzeichen erinnerte. Aber höchst interessant war das Bild, das darauf prangte. Es zeigte einen Mann, der auf einem Instrument spielte, das einem Cello sehr ähnlich sah, allerdings keine Saiten hatte. Aber das war nebensächlich. Sie war augenblicklich schockverliebt in diesen Mann. Er sah einfach göttlich aus. Wer Ken aus der Barbiewelt kannte, wusste, wovon sie redete. Außerdem war er ganz schwarz gekleidet, was einen tollen Kontrast zu seinen strohblonden Haaren bildete.
In dem Moment wusste sie, dass sie da hin musste, wo dieser Apollo war! Sie quetschte sich in den Kasten und sagte: »Los Kasten, tu einmal das Richtige und bring mich zu dem Gott auf dem Poster!« Dann wartete sie ungeduldig. Aber nichts geschah. Die Kiste bewegte sich keinen Millimeter. Margrit de Vries waren schon alle Gliedmaßen eingeschlafen, als der Cellokasten endlich etwas ruckelte. Dann ging alles sehr schnell, ein weiteres kurzes Rütteln und dann war schon wieder Stille. Margrit öffnete den Deckel.
Ihr Cellokasten stand auf einer Art Gehweg. Sie blickte auf eine Stadt, die ihrer Heimatstadt ähnelte. Die Passanten, die sie sah, waren aber völlig anders gekleidet. Die Häuser wirkten wie kleine Fabriken, die Bäume hatten lila Stämme und orangefarbige Blätter, die wie Gummibärchen geformt waren. Die Autos hatten keine Räder und offenbar auch keine Lenkräder. Und es herrschte Stille. Die Personen redeten nicht miteinander. Offenbar verwendeten sie eine andere Art der Kommunikation.
Aber das störte sie nicht. Sie stieg aus, klappte ihren Cellokasten zu und ging auf die nächste Person zu, die sie erreichen konnte.
»Kennen Sie den?«, fragte sie und deutete auf den Mann auf dem Flyer. Das schien der Typ zu verstehen. Er zeigte geradeaus die Straße hinunter.
So fragte sie sich durch und stand schließlich vor einem großen Gebäude. Über dem Eingang schwebte ein riesiges Hologramm, dass ihren Schwarm zeigte. Hier war sie richtig!
Eine Menschentraube hatte sich vor der großen gläsernen Eingangstür gebildet und sie ließ sich in der Menge mittreiben. So gelangte sie in einen unbestuhlten Saal. Die Personen standen in kleinen Gruppen zusammen.
Dann hörte ihr Herz fast auf zu schlagen. Ihr Idol stand auf einer Art Bühne. Es hatte das Instrument in der Hand und verharrte völlig regungslos.
Plötzlich wurde das Licht heruntergefahren, nur ihr Liebster wurde noch angestrahlt.
Zögerlich begann er zu spielen. So etwas hatte sie noch nie gehört! Ein dichter Klangteppich floss durch den Raum und hüllte sie völlig ein. Sie schien zu schweben und nie bekannte Glücksgefühle erfüllten sie. Nach viel zu kurzen Zeit wurde das Licht wieder hoch gefahren und es kam Bewegung in die Zuhörer im Saal. Langsam und lautlos leerte er sich. Schließlich war sie allein mit ihrem Liebsten.
Sie sah sich kurz um und kletterte dann auf die Bühne.
»Hallo, das war toll! Das möchte ich auch können!«, begann sie ein Gespräch. Aber er antwortete nicht. Mit leeren Augen starrte er durch sie hindurch. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte sein Gesicht. Er fühlte sich kalt und metallisch an. Schlagartig verstand sie.
Der Musiker war eine Maschine, ein seelenloser Roboter! Was war sie für eine Idiotin! Alle Personen hier waren Roboter!
Warum hatte sie das nicht gleich bemerkt?
Sie zog das Instrument aus den leblosen Händen des Spielers, verließ den Saal, rannte zurück zum Cellokasten und quetsche sich damit in den Kasten. Der Deckel ging jetzt zwar nicht mehr ganz zu, aber sie hoffte, das würde ihre Reise nicht erschweren.
Dann musste sie wieder warten.
Irgendwann machte die Kiste den bekannten Rucker und sie befand sich kurz darauf wieder in ihrem Zimmer.
Glücklich stieg Margrit de Vries aus dem Kasten. Sie stellte das Instrument vor sich hin und fuhr mit den Händen über dessen Hals, wie sie es bei dem Roboter gesehen hatte. Augenblicklich breitete sich der wunderbare Klangteppich aus. Zuerst klang er unbeholfen und nicht sehr harmonisch, dann wurde er immer professioneller und entwickelte einen einzigartigen Sound. Den ganzen Abend verbrachte sie damit, die klanglichen Möglichkeiten des Instrumentes zu erforschen.
Sie würde berühmt und reich werden! Margrit de Vries und ihr einmaliger Klangteppich!
Bei all ihrer Begeisterung bemerkte sie nicht, wie sich in ihrem Garten eine Gruppe rot gekleideter Personen materialisierte. Die Gruppe trug lanzenähnliche Gerätschaften in den Händen. Sie führten zwei silbern glänzende Gestelle mit, die wie Kanonen aussahen.
Lautlos setzte sich der Trupp in Richtung Margrits Haus in Bewegung.