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- Anmerkungen zum Text
1965 - Ein Dorf am Bodensee - ein kleines Haus neben einem landwirtschaftlichen Anwesen. Vier Kinder - 4, 5, 7 und 8 Jahre alt.
Der Blick einer Krähe
„Passen die da nicht durch?“ Kai zeigt auf die Abstände zwischen den Holzleisten der Kiste. Seine hellen Augen wechseln den Blick zwischen mir und dem Stapel vor uns.
„Nee, guck mal“, antworte ich, balle meine Faust und versuche sie durch den Zwischenraum zu schieben. Es gelingt mir nur mühsam.
„Da passt keine Krähe durch.“ Mein Bruder nickt.
Sein kurzes Haar leuchtet wie Flachs in der Mittagssonne. Mein langes nicht weniger. Ich ziehe die oberste Kiste vom Stapel und gemeinsam schleichen wir vom Hof unseres Nachbarn. Hinter seinem Kuhstall bewahrt er eine Wand aus unterschiedlichen Behältnissen für Obst oder Gemüse auf, die entweder unansehnlich oder kaputt sind. Er wird den Verlust nicht bedauern. Bis jetzt hat er sich noch nie beschwert, wenn wir etwas aus seinem Lager entwendet haben. Der Rückweg führt über die Felder. Zwischen den Reihen der Tomatenstangen liegen die ersten unreifen Früchte. Warm spritzt ihr Inhalt zwischen unseren nackten Zehen hervor, zertreten wir eine von ihnen.
Auf den mannshohen Komposthaufen legen wir die Kiste mit der Öffnung nach unten. Mit einem Pflock heben wir die eine Seite des Kastens an, so dass eine Krähe mühelos drunter durch passt. Meinen Bruder überrede ich, einige alte Essensreste so zu arrangieren, dass die Krähen angelockt werden und unter die Kiste geraten. An dem Holzstock befestigen wir eine Schnur, mit der wir im Herbst immer unseren Drachen steigen lassen. Sie reicht vom Komposthaufen bis zu einem etwa dreißig Schritte entfernten, dichten Holunderbusch, der um den Stamm eines Birnbaumes wächst, den wir neuerdings Oscar nennen. Hier verhedderte sich letzten Winter der Strick um den Hals eines Bullen, der beim Verladen im Hof des Nachbarn ausgebüxt war. Wir Kinder standen an den Fenstern und sahen zu, wie Opa Wurz den Häge Oscar am Nasenring durch unseren Garten dirigierte und wieder hinüber zum Hof zog. Am nächsten Tag leuchteten die Blutstropfen immer noch rot im Schnee neben den Spuren des Stieres.
„Heute Morgen waren schon welche da“, flüstert mir mein Bruder zu, will mir die Schnur aus den Fingern nehmen, aber ich wische seine Hand beiseite.
„Lass, da muss man nachher schnell sein!“, untermauere ich meine Reaktion; schließlich bin ich zwei Jahre älter. Einige Sperlinge umringen unsere Falle, flattern in und um die Kiste und plötzlich fällt der Stock, die Lücke schließt sich, die Spatzen fliegen davon.
„Manno, Kai, bist Du doof!“ Wütend boxe ich meinem Bruder auf die Schulter, der die Schnur gezogen hat, bevor ich es verhindern konnte. „Wir wollen doch Krähen fangen und keine Spatzen. Die passen doch durch die Schlitze.“
„Wollte ja nur mal gucken, ob´s auch klappt!“ Kleinlaut wendet er sich ab, springt auf, um den Knüppel wieder in Position zu bringen. Eine Elster schäckert aus dem Kirschbaum in Garten nebenan. Krähen sind keine zu hören.
So liegen wir eine ganze Weile. Im Schatten des Baumes ist es auszuhalten, die Hitze flimmert mittlerweile auf den Dächern, ich schwitze in meiner kurzen Lederhose, Ameisen und bunte Käfer tummeln sich vor uns im Gras.
„Ich hab Durst.“ Kai raunt es kaum hörbar vor sich hin.
„Pst! Nachher!“, ermahne ich ihn.
Leise dringt Mutters Hantieren und Klappern aus dem geöffneten Küchenfenster. Unsere beiden Schwestern leisten ihr Gesellschaft, ab und zu ist ein Lachen zu hören, lautere Ausrufe.
„Da kommt eine“, flüstert Kai und ich hab sie auch gesehen. Eine Saatkrähe stolziert auf dem höchsten Punkt des unregelmäßig hohen Haufens, legt den Kopf schräg, ihre Augen glänzen schwarz im Sonnenlicht. Beäugt misstrauisch das seltsame Holzgestell auf dem Absatz unterhalb von ihr. Vom Dachfirst des Nachbarhauses krächzt einer der drei schwarzen Vögel. Mittlerweile sind auch wieder die Sperlinge da. Ein neugieriges Männchen hüpft hemmungslos durch die Zwischenräume, andere folgen und ihr Tschilpen lockt auch die Schar vom Hof gegenüber an.
Die Krähe flattert bis kurz vor die Kiste, wendet wieder ihren Kopf in alle Richtungen, als traue sie dem Frieden nicht. Ein heiserer Ton signalisiert offensichtlich den dreien auf dem Dach, dass zumindest bis hier her keine Gefahr droht. Unter ihnen ist eine Dohle, die sich sofort den ausgelegten Essensresten widmet. Als sie fast unter der Kiste verschwindet, erscheint unsere kleine Schwester im Türrahmen und schreit. „Kai, Martin – essen kommen!“ Bevor ich die Schnur ziehen kann, ist die Dohle auf und davon. Mit ihr die anderen Krähen. Mit ihnen die Spatzen.
„Manno, Siggi, du hast alles versaut! Wir hätten fast eine gehabt“, schnauze ich meine Schwester an. Ihre Zöpfe stehen ab, die Wangen gerötet, ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt. Auf ihrem gelben Sommerkleid Flecken von Essensresten. Barfuß spielt sie verlegen mit ihren Zehen. „`tschuldigung“, murmelt sie, als wir an ihr vorbeigehen, durch die Tür, in die Küche.
„Hände waschen!“, befiehlt unsere Mutter und am Waschbecken im Klo schubse ich Kai zur Seite. „Mach mal Platz!“, sage ich, aber Kai hat schon die Seife abgespült und trocknet flüchtig seine Finger.
„Wir hätten fast eine gefangen, aber Siggi hat alle verscheucht“, weiß Kai zu berichten, stößt aber bei Mutter auf taube Ohren.
„Ehrlich, Mami, eine Dohle war schon drunter“, ergänze ich Kais Ausführung.
„Schluss jetzt! Beim Essen wird nicht geredet. Kai, reich mal deinen Teller rüber.“ Sie hebt bereits die volle Kelle, um ihm aufzutun.
„Was wollt ihr nachher mit dem Raben machen? Der kackt euch doch das ganze Zimmer voll und wisst ihr auch, was der frisst? Der ist doch wild“, steigt jetzt auch Astrid ein, die älteste von uns vieren. Sie schiebt mit einer Hand die langen Haare hinter ihre abstehenden Ohren, pustet vorsorglich auf den Löffel voller Suppe.
„Das war kein Rabe, sondern eine Dohle“, korrigiere ich meine Schwester. „Und da du sowieso keine Ahnung hast von Vögeln, kann es Dir ja auch egal sein“, doch meine Mutter fährt dazwischen.
„Schluss jetzt! Ich sag´s nicht zweimal!“ Sie klopft mit der Kelle auf den Holztisch. „Jetzt wird gegessen!“
Kai sitzt mit gegenüber und zieht eine schadenfrohe Grimasse in meine Richtung. Unter dem Tisch versuche ich ihn zu treten, treffe nicht, stoße mit dem Fuß unter die Tischplatte. Allein ihr Blick lässt mich konzentriert meinen Teller auslöffeln.
Gottseidank wollen meine Schwestern den Mittag nicht im Schatten des großen Birnbaumes verbringen, sie ziehen die Nordseite des Hauses vor. So können Kai und ich einen weiteren Versuch starten. Die Kiste steht unverändert. Während wir im Haus aßen waren offensichtlich die Krähen fleißig dabei, das bunte Gemisch aus Nudeln, roter Hackfleischsauce und weißen Maden zu zerfleddern. Unzählige Insekten umschwirren uns, Graue Fleischfliegen mit weißen Haaren und Goldfliegen, die metallisch grün in der Sonne glänzen. Wir schieben die Essensreste noch ein bisschen weiter unter die Kiste, prüfen die Schnur und legen uns hinter den Busch. Drüben im hohen Gras zirpen die Grillen und im Kirschbaum wetteifern Stare lautstark, indem sie die Stimmen anderer Vögel imitieren. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Kais Lider schwer werden. Seine Konzentration lässt nach und als er auf dem Bauch liegend seinen Kopf in die Armbeuge legt, schaut er zu mir auf. „Ganz schön langweilig. Soll´n wir nicht lieber baden geh´n?“
„Komm, noch solange, bis Mami fertig mit der Küche ist. Vielleicht gehen wir zusammen“, antworte ich und Kai schließt die Augen, nickt kaum sichtbar.
Er ist wieder hellwach, als keine Minute später lautes Flattern vom Kompost her zu uns dringt. Offensichtlich dieselbe Dohle, doch diesmal ist sie vorsichtiger, pickt vor der Kiste in den Abfällen. Gleich darauf tauchen zwei weitere Krähen auf, diesmal sind es Nebelkrähen mit ihren hellen Banderolen im Gefieder. Als sich noch zwei Schwarze mit nackten Gesichtern dazugesellen bricht wildes Krächzen aus. Keiner der Anwesenden will abgeben oder teilen. In ihrem Ringen um den besten Happen hüpft einer der Vögel unter die Kiste. Mein Bruder schreit: “Zieh!“, während ich die Schnur spanne, reiße, der Pflock fällt, Sperlinge fliehen nach allen Seiten und irritiert flattern die Krähen über das Dach unseres Hauses davon. Siggi springt hinter der Ecke des Hauses hervor, klatscht in die Hände, jubelt. Selbst Astrid hat ihren Kinderwagen bis unter den Pfirsichbaum geschoben, der dicht neben unserem Haus ein wenig Schatten spendet. Sie tut so, als wäre sie mehr mit ihren beiden Puppen beschäftigt, wirft aber verstohlene Blicke zum Komposthaufen, wo unter der Kiste lautes Flügelschlagen zu hören ist. Kai und ich rennen durch die Reihen der Erdbeeren, der kürzeste Weg zum Haufen. Meine kleine Schwester nähert sich bis auf wenige Meter, verschränkt die Hände hinter ihrem Kopf. „Passt bloß auf, die ist ganz schön groß!“ , schreit sie; Kai nähert sich der Kiste, die Saatkrähe ist plötzlich still, beobachtet uns durch den Spalt zwischen den Holzleisten. Ihre Nickhaut wischt mehrmals über das Auge. Ich hatte keine Ahnung, wie groß so eine Krähe aus der Nähe ist. Der leicht geöffnete Schnabel sieht aus, als könnte er selbst Menschen verletzen. Astrid ruft aus dem Hintergrund, dass wir aufpassen sollen. „Dem sein Schnabel ist ganz schön groß.“
Hilflos dreht sich Kai zu mir um, hebt die Schultern.
„Und jetzt?“ Er sieht wieder hin. „Holst Du ihn raus?“
„Lasst sie wieder frei!“ Von uns unbemerkt hat Mutter den Garten durchquert, nähert sich mit leisen Worten dem Gefängnis des wilden Tieres. Langsam streckt sie die Arme vor, öffnet die Hände, hebt behutsam die Kiste an. Mein Herz schlägt wild, noch nie sah ich eine Saatkrähe aus dieser Nähe. Ihre Federn glänzen in einer wunderschönen Symmetrie, einer perfekten Anordnung. Auf einmal ist die Zeit wie ein Kaugummi, den ich zwischen den Fingern in die Länge ziehen kann. Noch mal blinzelt ihr Auge, dann katapultiert sie sich mit einem Flügelschlag aus der Gefangenschaft.
„Versprecht mir, dass ihr beide das nie wieder macht, ja?“ Kai und ich nicken gleichzeitig, Mutter legt ihre Arme auf unsere Schultern und führt uns zum Haus.
„Und jetzt gibt es Erdbeereis!“, ruft sie laut in den Garten, Freudenschreie aus vier Kinderkehlen sind das Echo.
Abends im Bett - es ist noch hell - sehe ich die Augen der Krähe. Ich wünsche mir, dass ich diesen Blick in meinem Leben nie mehr vergessen werde.