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Der Bergesfluch
Schließlich war der Zeitpunkt gekommen, an dem da der Matthäus sprach: „Mutter, Vater, viele Jahr’ sind verstrichen und immerfort sitze ich hier, an meinem Geburtsorte, fest. Nicht einmal habe ich die Außenwelt erblickt. So will ich jetzt doch aufbrechen, und die weite Welt, wie sie mich seit Ewigkeiten lockt, bereisen.“ Das stimmte das liebende Mutter- und Vaterherz recht traurig, dennoch willigten beide, ihrem Sohne zuliebe, ein.
Nur wenige Monde später stand der Matthäus nach einem herzlichen Abschiede am Rande des hübschen Örtchens, in dem er geboren ward. Dann gab er sich einen Ruck, wandte den Blick den unerkundeten Wäldern zu, hinter denen ein spitzes Gebirg’ seine schneebedeckten Gipfel emporstreckte und wanderte drauf zu.
Es vergingen einige Tage, die er dahinstrich, sich bald an kleinen Bächen, bald an weiten Lichtungen erfreuend. Die Nächte verbrachte er oft auf solchen, der Ausblick auf den schier unendlich schön anmutenden Himmel entzückte ihn jedes Mal aufs Neue. Schließlich erreichte er eine Region, in der der Wald an Üppigkeit verlor und sich immer mehr und mehr in eine flache, von Blumen überzogene Ebene verwandelte. Es kostete den Wanderer kaum einen halben Tag, da hatte das Kronenmeer ihn gänzlich freigegeben, sodass er sich fortan an den dutzenden Arten der wunderbarsten Blüten erquicken konnte.
Am meisten entzückte den Jüngling jedoch das Gebirge, das sich jetzt majestätisch vor ihm aufbäumte. Mit großen Schritten wanderte er jenem entgegen, während sich die Spitzen der hohen Berge immer weiter und weiter in den dämmernden Himmel erhoben. Schließlich empfand Matthäus es für irrwitzig, noch weiter zu gehen, die Sonne schien nur noch schwach über die hohen Wipfel, die das Massiv ringsum umschlossen. Wenige Meter vor ihm ward er einen kleinen Teich gewahr, dem sich der Erschöpfte bald näherte. Als das dichte Meer aus Bäumen in der Ferne das Sonnenlicht ganz verschluckte, beschloss er, sofort den Schlaf zu suchen, um morgen mit den ersten Strahlen aufzustehen.
Es dauerte auch nicht lang, da ward Matthäus in Träumen versunken. Sogleich fand er sich auf einer Wiese wieder, die der, auf der er eingeschlafen war, täuschend ähnelte. Sich umblickend bemerkte er jedoch rasch, dass kein Gebirge und kein dichter Wald weit und breit zu sehen waren, es schien, als sei er allein auf einem Ozean aus Blumen. Zögernd erhob er sich, seine Umgebung noch einmal akribisch absuchend. Er hatte geirrt, er war nicht allein. Aus der Ferne sah er eine menschlich anmutende Gestalt auf sich zueilen. Wenige Zeit später hatte sie ihn erreicht, es war Johanna, seine jüngste Schwester. Ein warmes Gefühl der Freude kroch in seinem Inneren empor, es mochten nur einige Tage gewesen sein, seit er dem vertrauten Heimatorte den Rücken zugewandt hatte, dennoch freute er sich ungemein über das Wiedersehen.
Sogleich erkundigte sich der Fortgewanderte, was sie denn an jenem Orte suche. Statt einer Antwort fasste sie ihn bei der Hand und wollte ihn mit sich fortziehen. Erneut und mit Nachdruck stellte Matthäus die Frage, doch wieder blieb sie unbeantwortet. Sie drehte sich nur kurz zu ihm um und lächelte ihm verheißungsvoll zu. Es musste das Lächeln gewesen sein, das den Knoten der Verschlossenheit in dem Reisenden gelockert hatte, denn fortan folgte er der Schwester einfach, ohne weiter auf eine Erklärung zu pochen. So zog sie ihn weiter und weiter weg, der kleine Teich mit seinen hübschen Seerosen verschwand am Horizont. Im Gehen, das fiel ihm erst nach einiger Zeit auf, hatte sie begonnen, ein Liedchen zu summen, das ihm aus seiner Kindheit bekannt war. Ihre Melodie war so wunderbar, dass Matthäus den Eindruck hatte, ein ganzes Orchester würde die Musik fabrizieren, doch da, vor ihm her, lief nur seine jüngste Schwester, ihn immer noch bei der Hand gefasst.
Endlich ging die endlose, flache Flur im Mondschein in eine bergige Landschaft über. Zwischen immer höheren und steileren Bergen wanderten die Beiden hindurch, immer spärlicher wurde das Grün um sie herum. Schließlich blieb Johanna stehen. Vor ihnen war in den kalten Fels ein Gang geschlagen worden, der wohl einst eine Miene gewesen sein musste. Morsche Stämme stützten die Decke des Gewölbes, in dessen Inneren etwas zu in dutzenden Farben zu funkeln schien. Matthäus sah genauer hin, so genau, dass es ihn nicht gewahr wurde als die Schwester seine Hand losließ. Nachdem er so eine Weile gestanden und gestarrt hatte, fand sein Geist zu ihm zurück. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Johanna ihn losgelassen hatte und so sehr er seine Umgebung auch nach ihr absuchte, sie war wie vom Erdboden verschluckt.
Genauer musterte er nun seine Umgebung, die ihn auf einmal, anders als im Tageslicht, in dessen Schein ihm das Gebirge so verlockend und herrlich vorgekommen war, regelrecht ängstigte. Hinter den zerklüfteten, scharfen Bergesgipfeln warf der von dunklen Wolken halb verschlungene Mond sein spärliches Licht auf unzählige Ecken und Kanten, von denen jede, wie es sich der Jüngling nun ausmalte, einen heimlichen Beobachter verstecken mochte. So stand er da, verstört und ganz allein in dem scharfen Relief, bald hatte ihn seine Angst übermannt und in die wundersam schimmernde Höhle getrieben. Sie war eng, aber der stramme Bursche hatte keine Schwierigkeiten durch das dunkle Gestein auf das Funkeln zuzugehen. Nach wenigen Metern weitete sich der Schacht zu einem Hohlraum, der über und über mit wundersamen Steinen besetzt war, die alle in einer eigenen Farbe zu leuchten schienen. Am meisten jedoch entzückte ihn ein marmornes Becken, das in der Mitte der Höhle aus dem Fels emporragte. In seinem Inneren wogte sanft eine eigenartige, goldene Flüssigkeit, die wie willkürlich bald im, bald gegen den Uhrzeigersinn in der kreisrunden Einwölbung schwamm.
Matthäus ging darauf zu, wie hypnotisiert streckte er seine Hand aus und gerade als seine Fingerkuppen die eigenartige Flüssigkeit hätten berühren müssen, riss es ihn aus dem Schlafe. Mit einem ähnlich güld’nen Schein griff die Morgensonne nach seinem Gesicht. Verwundert streckte er die Glieder und setzte sich auf. Da war der hübsche kleine Teich, dort der dichte Wald und nur wenige Stunden des Weges thronte vor ihm das Gebirge. Mit einer noch stärkeren, unerklärbaren Kraft zog es ihn nun zu sich hin. Sogleich erhob er sich und begann, der noch schlaftrunken anmutenden Sonne entgegenlächelnd, auf das Massiv zuzuwandern.
In der Tat dauerte es nur eine handvoll Stunden, da fand er sich am Fuße der ersten, nennenswerten Erhebung wieder. Unaufhaltsam wandelte er jetzt drauf los, immer tiefer und tiefer hinein, während die Berge um ihn immer höher und höher wurden. Als die Sonne am höchsten stand, da sah er sich inmitten eines Kessels wieder. Er blickte sich um und zu seinem Erstaunen ward er da, in einen der Berge eingehauen, einen alten Stollen gewahr. Er glich dem, den er im Traume betreten hatte, auf unverkennbare Weise. Die Atmosphäre war jedoch anders, war er doch bei seinem geistigen Besuche diesen Ortes förmlich hineingeflüchtet, zögerte er nun darauf zuzugehen. Doch die Neugier wuchs und wuchs beständig, sodass er dem inneren Verlangen schlussendlich statt gab.
Langsam und vorsichtig trat er hinein, in der Hand eine alte Fackel, die er nahe dem Eingang gefunden hatte. Im Licht der Flamme waren die steinernen Wände des Ganges recht erquickend anzusehen, verschiedenste Gesteinsarten mischten sich da zu einem lustigen Felskuchen, an dem ab und an ein Tröpfchen Wasser herablief. Es dauerte nicht lange, da gelange der Jüngling in einen großen Hohlraum, dessen Inhalt ihn gleichzeitig heftig schockte und begeisterte. Decke und Wände waren übersät von funkelnden Steinchen, allesamt muteten sie an, als hätten sie einen ordentlichen Wert. Alles war genau so, wie es Matthäus in seinem Traum erlebt hatte, selbst das Marmorbecken im Zentrum der Höhle war da, in dem die seltsame goldene Flüssigkeit hypnotisierend ihre Bahnen zog.
Es verzehrte ihn danach, aus dem hübschen Becken zu trinken, ihm war, als müsse ihm das tanzende Gold in dessen Inneren gottgleiche Kräfte verleihen, ihn von jedem Schmerz, jeder Angst und jedem Leid des irdischen Lebens befreien. Mit entschlossenen Schritten trat er darauf zu und wie er bereits im Begriff war, den Kopf herabzusenken, entdeckte er eine Inschrift, die da in das weiß des sauberen Gesteins geschlagen war. Er kniff die Augen zusammen und las, was dort geschrieben stand.
Edelstein dort an der Wand,
Edel funkelnder Saphir,
Kostbar feiner Diamant.
Erst geschluckt, geht’s nicht zurück,
Wärmend dir das gier’ge Herz,
Eröffnet’s dir das höchste Glück,
Befreiet dich vom irdisch Schmerz.
Doch bedenke, Mensch,
Gott verurteilt das Bequeme,
Er erfüllt dir jeden Wunsch,
Wenn er in den Himmel käme.“
Manchmal genügt ein Funke, um einen Waldbrand auszulösen. Mit einem Male überkam ihn die Habgier, rasch bückte er sich und hob den kostbaren Stein auf. Und wie er sich so umblickte, da leuchteten ihn die Edelsteine von den Wänden nur noch kräftiger, noch schöner, noch mehr den inneren Brand entfachend an. „Irgendwann“, dachte er so bei sich, „wird wohl auch uns das Geld ausgehen. Warum arm sein, wenn all dies hier mich einem König gleich machen kann?“
Und so begann er, Stein um Stein von den Wänden zu lösen, schwerer und schwerer wurden die Taschen, in die er die entzückenden Mineralien steckte, kahler und kahler wurde das graue Gestein der Höhle. Endlich war es vollbracht. Völlig nackt lag nun der Hohlraum, die Taschen und das Bündel waren kurz davor zu zerbersten. So beladen wollte er nun doch gehen, zurück in sein Dorf, in dem er jetzt allein der reichste Mann sein würde. Dann fiel ihm auf, dass da ja noch das flüssige Gold in dem Becken umhertanzte. Warum nicht reich sein und sorgenfrei? In Windeseile war der Beckeninhalt vertilgt und der Bursche durch den Stollen hinfortgegangen.
Mit unermesslichem Reichtum bepackt machte er sich auf den Heimweg. Er ließ die Massive hinter sich, durchschritt die reich bepflanzte Flur der Ebene, durchquerte den dichten Wald und sah nur wenige Monde später den Rauch der Schornsteine seines Geburtsorts aufsteigen. Hastig eilte er darauf zu und fand sich noch vor der Dämmerung auf dessen Straßen wieder. Sofort rannte er ins Elternhaus, wo ihm freudig geöffnet wurde.
Doch wie schnell war die Wiedersehensfreude dahin, als man den wahnsinnigen Ausdruck in den Augen des jungen Matthäus sah. Gülden schienen seine Pupillen zu leuchten und ein tolles Grinsen kräuselte seine Lippen. Voller Zuversicht entleerte er seine Taschen auf den Boden des Hauses. Das Krachen der Kieselsteine war nahezu im ganzen Dorf vernehmbar, viele Bewohner eilten herbei, um zu sehen, wie der Gierige bald den einen, bald den anderen wertlosen Brocken emporhob und von seiner majestätischen Schönheit schwelgte. Mit einem wahnsinnigen Lachen verkündete er, dass er nun sicherlich der reichste Manne weit und breit sein musste, mancher Umstehende schmunzelte darüber, die meisten jedoch waren von höchster Sorge erfüllt.
Nachdem er jeden seiner Schätze einzeln beäugt hatte, begann Matthäus, sie geschwind wieder in die Taschen zu stopfen, der Gedanke, jemand könne ihn dieser berauben, hatte sich in seinem Kopfe breitgemacht. Da versank er plötzlich in ein tiefes Nachdenken. „Was“, dachte er, „was wäre, wenn ich einen übersehen habe? Was, wenn da noch mehr feine Edelsteinchen die kalten Steinwände zieren?“
Sogleich hatte ihn neue Gier befallen, er sprang empor, begann lauthals zu lachen und alles Ziehen und Zerren an dem Tollen hatte keinen Nutzen mehr, niemand vermochte ihn davon abzuhalten, durch die bereits recht dunklen Straßen davonzulaufen. Dörfler, die dicht am Walde wohnten, berichteten später, wie sie den Burschen, immer noch lachend, in dem Wald hatten verschwinden sehen. Von diesem Tage an ward der unglückliche Matthäus nicht mehr gesehen.