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Der Bär

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18.06.2015
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Der Bär

Ich erinnere mich, wie mein Vater eines Abends betrunken nach Hause kam, duschte und sich auf das Sofa fläzte. Er hatte den Bademantel mit den gelben Säumen übergeworfen, der Gürtel lag lose auf seinen Hüften. Da saß er mit einem Glas Cognac in der Hand und schaute fern. Der Mann mit den kräftigen Armen und den dunklen Augen. Er roch nach Kölnisch Wasser. Und unterhalb seines Bauches, im Gewirr von Haar, Mantel und Haut, erspähte ich sein riesiges Glied.

Vater arbeitete als Grundbuchbereinigungsbeamter und ich musste sieben oder acht Jahre alt werden, um seinen Beruf überhaupt aussprechen zu können. Später erklärte er mir, die Besitzverhältnisse von Grundstücken müssten neu geregelt werden. Da gebe es Gülten und Schuldbriefe, das sei so kompliziert, dass letztlich er entscheide, welche dieser Urkunden rechtskräftig seien und welche nicht. Man könne kaum glauben, wie viel Schnaps er von den Bauern geschenkt bekomme. Alle hätten Angst, sie müssten Ackerland an den Nachbarn abtreten, weil ein dreihundert Jahre altes Schriftstück und Benno Fischer das so wollten.

Er war der Star am Buochser Theater. Meistens gab er einen Gauner, was meine Mutter zur Bemerkung veranlasste, Vaters Aufgabe sei kinderleicht, er müsse gar nicht spielen. Einmal im Jahr, an der Älperchilbi, stand er auf einem mit Tannenzweigen geschmückten Schilter und trug Knittelverse zum Dorfgeschehen vor. Der grüne Reissack der Nidwaldner Tracht lag vor seinen Füssen. Das ganze Dorf jauchzte. Und es stimmte, was er zu mir gesagt hatte: Bei seinen Sprüchen lachten sie am lautesten. Am Ende durfte ich zu ihm auf den Wagen steigen, er winkte in die Menge und ich, mich fest an seine Hand klammernd, winkte ebenfalls.

Seine wahre Leidenschaft aber war die Jagd. Bei uns daheim hingen Schädel an den Wänden. Gämsen, Rehe, ein Steinbock. Auf der Kommode im Flur blickten sich ein Eichelhäher und ein Hermelin in die Augen.
„Was ist dein Lieblingstier?“, fragte mein Vater.
„Der Tiger.“
„Sehr gut.“
„Aber noch besser wäre ein Tiger mit Hörnern und Flügeln. Der wäre noch stärker.“ Vater lachte. Es sei wichtig, stark zu sein, sagte er. Wer die guten Rollen am Theater kriege und wer als Statist auf der Bühne stehe. Wer sein Land vergrößern könne und wer es dem Nachbarn abtreten müsse. Alles werde im Kampf entschieden. Bei der Jagd zeige sich das am deutlichsten. Er habe den Ferlacher Drilling und das Reh müsse schauen, dass es in Deckung bleibe. So einfach sei das. Ich nickte, aber ich war besorgt. Stark zu sein war nicht einfach, wenn man klein war und keine Muskeln hatte. Gab es eine Rauferei auf dem Pausenhof, sah ich immer nur zu.
Einige Zeit später brachte Vater einen Wolpertinger nach Hause. Ein Präparator hatte Hörner auf den Kopf eines jungen Fuchs geklebt und die Pfoten durch Vogelklauen ersetzt. An den Flanken die schwarzen Flügel eines Raben. Man konnte die Nähte sehen, das eine Horn stand schief und drohte vom Kopf zu fallen. Ich war begeistert und Vater nannte mich von da an „Wolpertinger“. Ich hatte schon immer „Bär“ zu ihm gesagt.

Auch die ersten Frauen, die ich sah, gehörten meinem Vater. Er kaufte sich Magazine. Schlüsselloch. Praline. Gelegentlich ein Playboy. Eigentlich sei ihm der zu sehr Hochglanz, sagte er zu meiner Mutter. Die Hefte ließ er auf dem Stubentisch liegen. War ich alleine, merkte ich mir die besten Seiten. Alle paar Monate schnürte Mutter die Hefte zusammen und brachte sie in den Keller, wo sie bis zur nächsten Altpapierabfuhr liegen blieben. Bevor es so weit war, rüstete ich mich mit Teppichmesser und Paketschnur aus und machte mich daran, die Bündel auszuschlachten. Ich schnitt die Frauen aus den Heften und bündelte diese wieder, so dass von außen nichts zu sehen war.
Ich hatte mir ein Fotoalbum gekauft, das ich zwischen den großformatigen Tierbüchern versteckte, die sich unter meinem Bett stapelten. Ich ging systematisch vor, schnitt die Bilder zurecht und testete mögliche Kombinationen. Auf den Seiten des Albums sollten keine Stellen frei bleiben, andererseits durfte nichts Wesentliches weggeschnitten werden. War ich mir bei einer Seite sicher, versah ich die Rückseite der Bilder mit vier Fotoecken und klebte sie so sorgfältig auf, wie mir das im Rahmen meiner Erregung möglich war. Nie gestaltete ich mehr als eine Doppelseite pro Tag, die Zeit bis zum nächsten Gang in den Keller sollte ausgefüllt bleiben. Am Ende hatte ich drei Alben, zwei rote und ein blaues. Jede Nacht sah ich mir die Bilder an.

***​

Es war im späten September, kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag. Vater kochte Köpfe. Er häutete und entfleischte sie, ließ sie im Seifenwasser sieden, und bleichte sie danach mit Wasserstoffperoxid. Wir standen auf dem Balkon, auf dem Tisch lag der Schädel eines Rehs. Vater summte leise. Er hebelte die Augen des Tieres aus den Höhlen und durchtrennte die Sehnerven. Um ein Haupt zu schälen, sagte er, brauche man bloß ein sehr scharfes Messer anzusetzen und geschmeidig der Kontur des Knochens zu folgen. Wenn man ruhig atme und dabei nicht allzu viel nachdenke, dann gleite die Klinge gleichsam durch das Fleisch und werde niemals stumpf. Doch ich sah, dass er das Metall gegen den Knochen drückte, es schabte und rieb und knirschte. Vater schwitzte.
„Wo ist Mutter?“, fragte ich.
„Im Krankenhaus.“
„Schon wieder?“
„Musste sie heute Morgen nach Stans fahren. Sagt, sie kriege keine Luft. Oder das Herz. Wüsste sie, dass es eine Milz gibt, würde die ihr auch wehtun.“
Ich lachte, drehte mich zum Geländer und blickte nach oben. Es hatte zu regnen begonnen.
„Wir essen bei den Großeltern“, sagte Vater.

Mutter fühlte sich fast immer krank. Zwei Schubladen des Küchenschranks waren für ihre Medikamente bestimmt. Manchmal stand sie auf einmal in meinem Zimmer und sagte, sie könne nicht atmen. Sie griff sich an den Hals und schien in Panik zu sein. Dann legte sie sich auf den Boden und bevor ich etwas tun konnte, war der Spuk vorbei. Sie atmete tief ein und sagte, es sei alles in Ordnung und ich solle mir keine Sorgen machen. Aber das tat ich sowieso nicht. Vater hatte mir gesagt, das sei psychisch, sie wolle bloß Aufmerksamkeit.
Natürlich wusste ich, dass sie es nicht einfach hatte mit ihm. Einmal beobachtete ich heimlich, wie mein Vater ihr Haushaltsgeld gab. Mutter kniete auf dem Küchenboden, die Hände auf dem Rücken.
„Zählen“, sagte mein Vater.
„Dreihundert.“ Mutter hustete und Vater warf einen Hunderter unter den Küchentisch. Mutter robbte hin, drehte ihren Kopf und presste die Wange auf das Papier, so dass sie mit der Zunge die eine Ecke in ihren Mund schieben konnte. Dann biss sie zu und kroch mit der Beute unter dem Tisch hervor.
„Achthundert Franken. Jeden Monat. Und du schaffst es nicht, anständiges Essen aufzutischen“, sagte mein Vater. Den nächsten Schein warf er in die Spüle und ich ging leise zurück in mein Zimmer.

Wir standen also auf dem Balkon und Vater sagte, ich solle meine Hausaufgaben erledigen und übrigens könne es sein, dass wir nun öfter bei meinen Großeltern essen würden.
„Warum?“, fragte ich.
„Weil deine Mutter nicht mehr zurück nach Hause will.“ Ich sah ihn fragend an und er erklärte mir, meine Mutter könne es nicht ertragen, dass für uns Männer eine Frau nicht reiche. Ob ich verstehen könne, dass einem Bären ein Fisch am Tag nicht genüge?
„Ja“, sagte ich.
„Siehst du, deine Mutter kann es nicht verstehen und deshalb will sie nichts mehr mit uns zu tun haben.“
Danach ging Vater in die Küche, um Wasser für den Schädel aufzusetzen.

Das war der Tag, an dem meine Mutter uns verließ, und ich sah sie danach nur noch selten. Es war von Anfang an klar, dass ich bei meinem Vater wohnen blieb. Sie habe ein Myom im Bauch gehabt, so groß wie ein Salatkopf, sagte mir Mutter später, aber ich wusste nicht, ob das stimmte. Sie sagte auch, sie hätte sterben müssen, wenn sie bei meinem Vater geblieben wäre.
„Bei uns“, sagte ich. Aber das tat ich bloß, um sie zu ärgern, denn ich vermisste sie nicht.

***​

Andere Frauen kamen und blieben höchstens eine Nacht. Ich verbrachte viel Zeit bei meinen Großeltern. Zwei Jahre vergingen. Dann erwachte ich.
Es war Frühling und ich besuchte die Premiere des Buochser Theaters. Vater spielte die Hauptrolle. An die Handlung kann ich mich nicht mehr erinnern, aber schon früh wurde von einem Mädchen gesprochen, das todgeweiht sei. Und auf einmal lag sie da, vorne auf der Bühne. Ihre Lippen waren schmal und blass, ihre Augen getaucht in Schmerz. Ich wollte aufspringen und rufen, man müsse dem Mädchen helfen. Ich war auf der Stelle in sie verliebt. Noch war mir nicht bewusst, wie sehr es mich erwischt hatte. Erst in der Nacht, als ich in meinem Bett lag, mir ihr Gesicht vorzustellen versuchte und mir einen runterholen wollte, merkte ich, dass da mehr war. Mein Ding blieb schlaff, ein Zeichen des Respekts und ein untrügliches Symptom aufrichtiger Liebe. Ich ging in die nächste Vorstellung, um Vera noch einmal spielen zu sehen. Mir war, als würde der Vorhang zu Beginn des zweiten Akts nur meinetwegen geöffnet, der schwere Samt gab den Blick frei und sie lag genauso da, wie ich es mir erhofft hatte. Doch dann geschah etwas, was mir bei der ersten Aufführung nicht aufgefallen war. Mein Vater beugte sich über sie und fasste sie an, legte seine Hand auf ihre Brust. Ich zuckte zusammen. Nach einer Weile beruhigte ich mich wieder und es gelang mir, mich ganz in ihren Anblick zu versenken.
Später feierte die Truppe in der Krone. Vater hielt eine seiner Reden über Schauspielkunst, während Vera auf einem Stuhl im hinteren Teil des Saals saß. Zweimal drehte sie ihren Kopf und lächelte mir zu. Hätte ich damals gewusst, dass sie fast zwei Jahre älter war als ich, mein Mut hätte mich verlassen. Auch so zögerte ich lange. Doch dann griff ich mit einem gut durchdachten Kompliment an.

Den Sommer über trafen wir uns fast jeden Tag. Wir lagen auf der Wiese, neben der die Engelberger-Aa in den Vierwaldstättersee mündet, träufelten uns Sonnenöl mit Kokosduft auf die Haut und hörten Musik, einander nahe und verbunden durch das kurze Kopfhörerkabel ihres Discmans. Danach gingen wir schwimmen, warfen uns fröstelnd die Badetücher über die Schultern und bedauerten den Untergang der Sonne. Ich sagte Vera, dass ich sie liebe. Sie lächelte und fragte, ob ich sicher sei.
An einem dieser Tage saßen wir auf der Quaimauer, schauten den Booten zu, die mit schlaffen Segeln und surrenden Motoren den Hafen ansteuerten, und Vera sagte, sie wolle Schauspielerin werden.
„Ah ja?“, fragte ich.
„Dein Vater meint, ich hätte Talent.“
„Wann hat er das gesagt?“
„Damals, während der Proben.“
Wir tranken Bier und küssten uns. Auf einmal griff sie zwischen meine Beine. Aber da waren noch andere Leute. Ich drehte mein Becken weg und sie sagte, das sei schade und sie habe sich wohl zu viel davon versprochen, mit einem Sechzehnjährigen abzuhängen.

Das nächste Mal, als ich sie sah, blickte ich auf ihren nackten Hintern. Als sie mich bemerkte, drehte sie ihren Oberkörper und lächelte mich an. Mein Vater hob sie an, zog seinen Schwanz aus ihr und schwieg. Es war vereinbart, dass ich bei meinen Großeltern übernachten sollte, aber ich hatte mich umentschieden. Vielleicht hatte ich auch etwas geahnt, ich kann es nicht mehr sagen, ich erinnere mich nur noch an wenige Dinge. Rote Flecken auf Veras Gesicht, Schweißperlen auf ihrer Stirn. Wie mein Vater nach seinem Bademantel greift.
Natürlich dachte ich an das Jagdgewehr. Es stand im Schrank, gleich im Wohnzimmer. Und später griff ich in meinem Geist immer wieder danach. Schob die Schrotpatrone in den Drilling. Schoss ihm zwischen die Augen. Aber an diesem Abend stand ich bloß da, sagte nichts und tat nichts. Schließlich drehte ich mich um und ging zu meinen Großeltern.

***​

Dort, wo ich jetzt bin, spricht man viel darüber, wer man ist und woher man kommt. Psychogelaber, würde Vater sagen. Man stellt mir Fragen, die ich nicht beantworten kann. Weshalb ich bei meinem Vater geblieben sei, obwohl ich wusste, wie er meine Mutter behandelte? Was ich empfinde, wenn ich an meine Mutter denke? Was, wenn ich mir Vera vorstelle? Der Mensch sei ein Mysterium, sage ich dann, und ich mir selbst das größte. Neulich sollten wir das Tier zeichnen, das uns am meisten entspricht. Ich malte den Wolpertinger. Unbeholfen zusammengekleistert aus Teilen, die in keiner Beziehung zueinander stehen. Ein Monstrum. Als Rumpf zeichnete ich den kräftigen Leib eines Bären.

 
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Das Auge ist schwer (kommt ja ach gerade erst gleichzeitig aus Mekka und ..., naja, Du weißt schon, woher, Wikings Strafkolonie - nicht Australien - bändigt die Naldos und Naldis) aber aus Freundlichkeit zu verschweigen, dass schon im ersten Satz Gefahr, selbst wenn's nur ein Würmchen sei, lauert, wäre dann zu viel verlangt. Ist keine Wertung, geschieht halt im Wettbewerb, dem man sich mehr oder weniger freiwillig hingibt:

In unserem Familienalbum gibt es zwei Fotos, kleine Scherze meines Vaters, die mehr über meine Kindheit aussagen[...] als alle anderen zusammen.
.

Um's auf ein ganz reales Maß zurückzuführen, beachte man, welche zeitliche Differenz zwischen dem hier angegebenen Zeitpunkt und dem zuletzt durch mich bewirkten Hinweis aus Mekka vergangen ist. Mögen Nachteulen behutsamer sein als ein grober Klotz wie't Dante

Gute Nacht,

dat Friedchen sacht!

 

Und auch ich hau mich ins Bett, nachdem ich das Würmchen entfernt und mich bei dir, lieber Friedrichard, bedankt habe.

Gruss
Peeperkorn

 
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Hej Peeperkorn,

das sind sehr tragische Gestalten, die du geschaffen hast. Deiner Schreibweise und der Verortung ist es zu verdanken, dass die Geschichte trotz aller Gewalt und Obszönität sachlich wirkt.
Das ist dann eine sehr spezielle Atmosphäre und ich empfinde nicht wirklich mit, halte Abstand, was mich überhaupt nicht stört oder langweilt, mich zuschauen lässt. Und die ganze Zeit über bewerte ich nicht und lese interessiert und bedächtig.
Alle Bilder fügen sich ineinander, sind kongruent und logisch, beinahe nötig. Ironie finde ich ebensowenig wie Unsicherheit. Umso schwerer wiegt die Dramatik. Gruselig. Und gänzlich fehlt die Liebe, obwohl du sie zitierst.
Die Szene in der Küche verlangt mir schon Ziemliches ab und wieder nur deines unterkühlten, sachlichen Stils wegen ertrage ich sie 'unbeschadet'. Im Gegensatz zu deinem Protagonisten.

Es ist immer wieder erstaunlich, was man als Eltern so anrichtet und verantwortet, aus dem sich dann solche Geschichten schreiben lassen.

Eine äußert unaufgeregte Tragödie.

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo Peeperkorn,

seit ein paar Tagen gehe ich mit dem Gedanken schwanger, eine Geschichte mit einem problematischen Vater-Sohn-Verhältnis zu schreiben. Jetzt lese ich dein neues Werk und denke: Vergiss es! Ja, schon klar, es kann mehr als eine Geschichte über Väter und Söhne geben, aber dennoch hast du wieder mal die Messlatte ganz schön hoch gelegt. Und meine Storyidee ist deiner auch noch in gewisser Weise ähnlich. Seufz ...

Ich weiß gar nicht, ob ich den Anfang mit dem Fotoalbum gebraucht hätte - das bereitet den Leser schon so vor, zeigt ihm schon mal auf, was hinterher das Wichtige ist. Das hat der Rest der Geschichte natürlich überhaupt nicht nötig. Gleich im folgenden Absatz, wo sich der Vater mit offenem Bademantel und entblößtem Gemächt aufs Sofa haut, kriegt man eigentlich eine gute Ahnung davon, was hier für den Jungen prägend ist. Ich glaube, die Szene würde ich als Anfang nehmen und das Fotoalbum weglassen.

Tja, und von da an nimmt das Drama seinen Lauf. Der Vater lässt sich vom Sohn vergöttern und terrorisiert die Mutter. Das ist super gemacht, wie sich das steigert. Wenn er die Schmuddelheftchen rumliegen lässt, denke ich noch, "so'n Arsch", seine Affären sind dann nur folgerichtig, aber die Szene mit dem Haushaltsgeld ist dann richtig heftig. Da wünscht man sich eigentlich, dass die Mutter irgendwann sein eigenes Jagdgewehr gegen ihn richtet, aber das wäre ja zu einfach und wohl leider auch realitätsfern.

Man würde erwarten, dass es den Jungen traumatisiert (oder zumindest irgendwie wachrüttelt), diese Szene zwischen Vater und Mutter zu sehen, aber er steckt das offenbar achselzuckend weg. Sogar die schwere Krankheit der Mutter (das Myom) lässt ihn anscheinend kalt. Ich muss sagen, das ist mir nicht hundertprozentig nachvollziehbar geworden. Normalerweise haben doch Jungen eine besondere Bindung an die Mutter, und wenn die fehlt, braucht das Gründe. Du lieferst ja auch welche - der Vater bringt dem Sohn ja eine Menge über den Stellenwert von Frauen bei, die Mutter ist schwach, lässt sich unterdrücken und "rettet" sich in die Krankheit, bis sie schließlich geht - aber irgendein richtiger Knackpunkt fehlt mir da trotzdem. Statt dessen ist es für den Jungen dann ein Trauma, dass der Vater auch mit seiner Freundin eine Affäre hat. (Da war er wohl sehr blind, denn der Leser hat es natürlich kommen sehen. Aber okay, Liebe macht ja bekanntlich auch blind.) Und das ist für sich genommen auch völlig plausibel, es ist nur der Gegensatz zu der Sache mit der Mutter, die für mich als Leser viel schwerer wiegt, aber der Sohn bewertet das genau umgekehrt. Hm.

Und die zweite Sache, die mich ein bisschen rätselnd zurücklässt, ist der Schluss. Offenbar ist der Sohn inzwischen in einer psychiatrischen Einrichtung? Anscheinend sogar in der Geschlossenen, wenn sie ihm den Gürtel abgenommen haben, muss er wohl suizidal sein. So eine extreme Wendung habe ich jetzt wiederum aus dem vorangegangenen Geschehen nicht ableiten können. Da hast du zwar eine Mordabsicht angedeutet, aber Selbstmord ist ja eine ganz andere Kategorie. Hätte nicht vielleicht eine "normale" Therapie gereicht, meinetwegen in einer Tagesklinik? Da hätte er ja auch sehr schön seinen Bären-Wolpertinger zeichnen können, das fand ich übrigens einen sehr schönen Schluss, gerade auch dieses schief Zusammengestückelte, Inkongruente als Metapher für die innere Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der Person.

Na ja, da habe ich jetzt doch ein paar kleine Hänger in der Plausibilität, jedenfalls nach meinem Leseeindruck. Aber das scheint mir reparabel, soweit du es überhaupt als reparaturbedürftig ansiehst. Auf alle Fälle machst du das mehr als wett durch diese Stimmung, die über der Geschichte liegt, dieses Düstere, Brutale, Animalische dieses Machtmenschen von Vater, dessen Sohn gar nicht anders kann, als ihn zu bewundern, weil Söhne das eben automatisch tun. Und als der Sohn erkennt, wie viel Böses da eigentlich drinsteckt in diesem Vater, was er aber auch selbst übernommen hat, das kann schon eine Menge kaputtmachen in einer Seele. Sehr stark, einfach Peeperkorn!

Ein paar kleine Textstellen noch:

Das eine zeigt einen dreijährigen Jungen, der mit offenem Mund im Playboy blättert.
Da sehe ich blöderweise so ein Bild aus Kevin allein zu Haus vor mir, wo Kevin genau so guckt, als er eben auch den Playboy in der Hand hat. Das haut mich ein bisschen raus.

(...) aber ich grinse in die Kamera und bin der König der Welt.
Gleich noch ein Filmbezug: Die Phrase "König der Welt" ist für mich seit Titanic so vorbelegt, da würde ich wirklich eine andere Formulierung wählen. "Held des Dschungels" oder was weiß ich, da fällt dir sicher mehr ein als mir.

Ich sah ihn fragend an und er erklärte mir, (...)

Das war der Tag, an dem meine Mutter uns verließKomma und ich sah sie danach nur noch selten.

Wie immer sehr gern gelesen!

Grüße vom Holg ...

 

Lieber Peeperkorn,

das ist wahrhaft keine Nachtlektüre. Ich musste erst ein paar Stunden warten, bevor ich darauf reagieren konnte. Es ist, wie Kanji ähnlich formuliert, deiner sprachlichen Disziplin zu verdanken, dass ich den Text zuende las und ja, auch ein zweites Mal gelesen habe. Du nennst die Dinge beim Namen, ohne auf Effekte zu schielen und den Leser in ein Rolle als Voyeur zu zwingen. An der Dramaturgie des Textes ist mMn nichts zu bemängeln. Ob Formulierungen noch verbessert werden könnten, kann ich derzeit nicht beurteilen, da werden sich Berufenere finden.

Dennoch, ich muss etwas zur Thematik sagen. Ich weiß, dass eine Geschichte von ihren Konflikten lebt. Und Fliege hat dir, glaube ich, den Rat gegeben, den Protagonisten tüchtig wehzutun. Deine Protas kommen alle beschädigt heraus, wenn sie denn Väter und Söhne sind. Geschädigte Väter beschädigen ihre Söhne, und Söhne werden wieder Väter. Eine düstere Tradition. Ich sehe hier geradezu eine Typisierung, angesichts der Weltnachrichten (Orlando) beklemmend real. Du und dotslash haben es ja für die Schweiz mehrfach gezeigt.

Aber mir kommt auch eine andere Schweizer Erzähltradition in den Sinn. Du weißt wahrscheinlich, wen ich meine. Ja, Gottfried Keller, und auch mit Einschränkungen, Jeremias Gotthelf. Es gibt sie auch dort, die Irrwege und Fehltritte, und doch findet mancher einen Ausweg, auch ohne Schönfärberei.

Ich fürchte, du findest mich jetzt endgültig sentimental. Ich nenne es für mich Altersmildheit. Die brauche ich, sonst wäre für mich das Leben nur schwer zu ertragen.
,

 

Hallo Kanji

Ich freue mich immer, von dir zu lesen, du beschreibst deine Leseeindrücke und das wirkt jeweils sehr überlegt.

Alle Bilder fügen sich ineinander, sind kongruent und logisch, beinahe nötig.

Gut. Das war schwierig, ich hatte da noch einige andere Szenen im Kopf und z.T. auch auf Papier. Und dann beginnt man anzuordnen und umzuordnen und verliert ein wenig das Gefühl dafür, welche Bilder es braucht.

Umso schwerer wiegt die Dramatik. Gruselig.

Ich habe ein wenig gestutzt, weil du vorher geschrieben hast, dass du nicht wirklich mitempfindest. Aber dann habe ich darüber nachgedacht und ich denke, das geht schon zusammen. Auf mich persönlich wirken unterkühlt beschriebene (Gewalt-)szenen halt immer intensiver, dich lässt es etwas Abstand nehmen. Und wenn ich dich richtig verstehe, war das für dich gut so.

Es ist immer wieder erstaunlich, was man als Eltern so anrichtet und verantwortet, aus dem sich dann solche Geschichten schreiben lassen.

Ja, da hat’s schon auch autobiographische Elemente drin. Vieles ist erfunden, klar, aber die Grundstimmung bei uns zu Hause, das Frauenbild meines Vaters …

Liebe Kanji, ich danke dir sehr für deinen Kommentar.


Lieber Holg

Seit ein paar Tagen gehe ich mit dem Gedanken schwanger, eine Geschichte mit einem problematischen Vater-Sohn-Verhältnis zu schreiben. Jetzt lese ich dein neues Werk und denke: Vergiss es! Ja, schon klar, es kann mehr als eine Geschichte über Väter und Söhne geben, aber dennoch hast du wieder mal die Messlatte ganz schön hoch gelegt. Und meine Storyidee ist deiner auch noch in gewisser Weise ähnlich.

Ach, blöd. Das tut mir leid. Ich kann jetzt natürlich schon schreiben, dass du einfach deinen Plan umsetzen, das Ding schreiben sollst. Aber ich verstehe gut, dass das sehr ärgerlich ist.

Ich weiß gar nicht, ob ich den Anfang mit dem Fotoalbum gebraucht hätte - das bereitet den Leser schon so vor, zeigt ihm schon mal auf, was hinterher das Wichtige ist. Das hat der Rest der Geschichte natürlich überhaupt nicht nötig. Gleich im folgenden Absatz, wo sich der Vater mit offenem Bademantel und entblößtem Gemächt aufs Sofa haut, kriegt man eigentlich eine gute Ahnung davon, was hier für den Jungen prägend ist. Ich glaube, die Szene würde ich als Anfang nehmen und das Fotoalbum weglassen.

Ein Darling, natürlich. Aber du hast mich überzeugt. Vor allem, dass der Text diese Kevin- und Titanic-Assoziationen auslöst, ist sehr doof. Titanic habe ich nicht gesehen und ich habe die Wendung „König der Welt“ eher so als allgemeine Wendung betrachtet. Und dieses Bild von Kevin ist mir auch nicht präsent. Erübrigt sich alles, ich habe das so gemacht, wie du vorgeschlagen hast.

Man würde erwarten, dass es den Jungen traumatisiert (oder zumindest irgendwie wachrüttelt), diese Szene zwischen Vater und Mutter zu sehen, aber er steckt das offenbar achselzuckend weg. Sogar die schwere Krankheit der Mutter (das Myom) lässt ihn anscheinend kalt. Ich muss sagen, das ist mir nicht hundertprozentig nachvollziehbar geworden.

Das ist der Kern der Geschichte und den möchte ich unbedingt so lassen. Ja, hier erzählt jemand, der nicht normal ist, dessen Verhalten für einen Aussenstehenden nicht nachvollziehbar ist. Der Erzähler weiss das, er spricht von sich selbst als einem Mysterium. Du schreibst, das Fehlen der Beziehung zur Mutter brauche Gründe. Der ganze Text liefert diese Gründe. Aber die Logik lautet nicht: "Dieses und jenes ist geschehen und dehalb habe ich keine Beziehung zu meiner Mutter aufbauen können", sondern: "Ich bin der Sohn meines Vaters, ich denke und fühle wie er, da gibt es keinen Platz für Liebe." Mir ist klar und ich weiss aus eigener Erfahrung, dass ein solcher Vater im Normallfall die Liebe zur Mutter nicht zerstört. Aber – für mich der entscheidende Punkt – der Erzähler ist der Sohn dieses Vaters. Es ist nicht völlig abwegig, dass er schon von seiner Disposition her ein gestörtes Verhältnis zu seiner Mutter hat. Für mich ist das der Knackpunkt, der dir fehlt: Der Sohn ist dem Vater ähnlich, ein emotionales Ungetüm.

Statt dessen ist es für den Jungen dann ein Trauma, dass der Vater auch mit seiner Freundin eine Affäre hat. (Da war er wohl sehr blind, denn der Leser hat es natürlich kommen sehen. Aber okay, Liebe macht ja bekanntlich auch blind.)

In meiner Lesart hat das nichts mit Liebe zu tun. Es geht um Macht. Darum, dass der Vater der Stärkere ist. Dass der Stärkere triumphieren soll, hat der Sohn verinnerlicht und jetzt erleidet er die erste richtige Niederlage seines Lebens. Falls er jemanden liebt, dann seinen Vater. Und dieser bringt ihm die aus seiner Sicht maximale Demütigung bei.


Und die zweite Sache, die mich ein bisschen rätselnd zurücklässt, ist der Schluss. Offenbar ist der Sohn inzwischen in einer psychiatrischen Einrichtung? Anscheinend sogar in der Geschlossenen, wenn sie ihm den Gürtel abgenommen haben, muss er wohl suizidal sein. So eine extreme Wendung habe ich jetzt wiederum aus dem vorangegangenen Geschehen nicht ableiten können.

Ja, den Satz mit dem Gürtel habe ich spät hinzugefügt. Ich bin wieder mal hin- und hergerissen. Ohne den Satz erscheint der Schluss dann vielleicht zu weich. „Ist ja nichts passiert“, sagt der nächste Leser. Aber ich habe ihn mal rausgenommen, weil deine Begründung eigentlich überzeugend ist: Die Suizidalität wird aus dem Text nicht hergeleitet.

Da hätte er ja auch sehr schön seinen Bären-Wolpertinger zeichnen können, das fand ich übrigens einen sehr schönen Schluss, gerade auch dieses schief Zusammengestückelte, Inkongruente als Metapher für die innere Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der Person.

Danke. Da war (und bin) ich mir noch nicht ganz sicher, ob das zu aufgesetzt ist, oder genügend organisch daherkommt.

Die Textstellen habe ich ausbessert, ich danke dir und deinen Adleraugen, um in der Welt der Tiere zu bleiben.

Wie immer hat mich dein Kommentar sehr gefreut!

Liebe Grüsse
Peeperkorn

 

Danke. Da war (und bin) ich mir noch nicht ganz sicher, ob das zu aufgesetzt ist, oder genügend organisch daherkommt
He, du, Peeperkorn, bevor du in deinem selbstkritischen Modus alles wegverbesserst
Unbeholfen zusammengekleistert aus Teilen, die in keiner Beziehung zueinander stehen. Ein Monstrum. Als Rumpf zeichnete ich den kräftigen Leib eines Bären.
Was Organischeres (Himmel, was für ein Wort) gibts gar nicht. Lass ma schön drinne.

Die Rausnahme des Gürtels find ich auch richtig, Das erschien mir im ersten Eindruck auch als übertrieben, unpassend. Aber ich denk noch mal drüber nach.

Ich meld mich später noch mal genauer, bin noch am Antworten und selbst schreiben und wandern, das braucht Zeit. Schöne Zeit.
Nur mit dem Namen Vera bin ich nicht so einverstanden. :D Veras sind nicht so blöd, sich mit dem rohen Vadder einzulassen.

 

Hallo Peeperkorn,

der Bär hat mich angelockt; du kannst dir vielleicht denken, warum. Tja, der Bär, dem ich begegnen wollte, ist nicht aufgetaucht, und dennoch bin ich schwer beeindruckt. Eine großartige Geschichte hast du da geschrieben!

Von dem Monster von Vater, über die arme Mutter und den traumatisierten Sohn bis hin zu Vera habe ich alle Charaktere vor Augen. Die Szenen, in denen die Ausmaße der Grausamkeit des Vaters deutlich werden, hast du fürchterlich gut beschrieben. Auch die Passage mit dem Jagdgewehr halte ich für sehr gelungen. Die kurzen Sätze bringen die Gefühlslage auf den Punkt. Das Ende ist großartig!

Sehr gerne gelesen von
JackOve

 

Hej Peeperkorn noch einmal, zum Versuch, zu erklären.

Für mich ist es ein Unterschied, ob ich empathisch bin mit dem Protagonisten, oder ob ich innerhalb der Geschichten mitempfinde.
In deinem Fall bleiben mir alle Protagonisten fremd, ich kann nicht mit einem einzigen mitfühlen, weil ich mich mit keinem identifizieren kann, aber die Szenen, die du beschreibst, empfinde ich in ihrer Dramatik und bin froh, dass sie mich nicht wirklich tangieren.
Es ist wesentlich leichter, sich mit jemandem zu identifizieren, weil man Ähnliches selbst schon empfinden hat, oder sich in außergewöhnlichen Situationen wiederzufinden und trotzdem Empfindungen wie Entsetzen, Verwirrung, Abscheu, Wut, Demütigung und Mitleid zu haben.

Das verdanke ich deiner nüchternen Herangehensweise, dem genauen Ton und Tempo. Interessant ist auch, dass man dem Jungen vorher nicht anmerkt, dass er leiden wird. Er lebt scheinbar gefestigt durch den "Übervater" und bricht dann plötzlich auseinander.

Ich bin beeindruckt.

Freundlicher Gruß, Kanji

 
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Lieber Peeperkorn,
ich habe deine Geschichte nicht gerne gelesen, sie greift mich irgendwie an. Diese Bilder, die du entstehen lässt, verwirren mich, stoßen mich teilweise ab. Vermutlich hätte ich den Text zur Seite gelegt, wenn nicht du ihn geschrieben hättest. Sprachlich finde ich ihn wieder einmal sehr ausgefeilt und gelungen. Da trifft fast jeder Satz.

Den Vater kann ich mir sehr gut vorstellen, so wie du ihn zeichnest, das ist schon sehr konsequent. Die Küchen-Szene mit der Mutter halte ich dabei für überzogen, für mein Empfinden ist sie zu sehr auf Effekt geschrieben. Mir hätte auch ohne diese Szene eingeleuchtet, warum die Mutter ihren Mann verlassen hat. Seine Selbstherrlichkeit und Brutalität zeichnest du sehr gut, da braucht es für mein Gefühl diese Unterwürfigkeits-Szene nicht. Sie beleuchtet aber den Sohn. Und mit dieser Gestalt tue ich mich schwerer:
Fast stumpf und unbeteiligt verfolgt er das Tun des Vaters, bewertet dessen Handeln nicht, registriert, was dieser tut, bewundert ihn, möchte sein wie ‚der Bär’. Der Vater nimmt diese Bewunderung, behandelt den Sohn als seinesgleichen und führt ihn ein in seine Männlichkeits-Welt.

… Ich sah ihn fragend an und er erklärte mir, meine Mutter könne es nicht ertragen, dass für uns Männer eine Frau nicht reiche.
Ohne Zögern bleibt er bei diesem Vater, scheint zur Mutter keinerlei emotionale Beziehung entwickelt zu haben, zeigt noch nicht einmal eine Regung, als er sieht, wie der Vater seine Mutter demütigt.

Natürlich wusste ich, dass sie es nicht einfach hatte mit ihm.
Auch in der Reflektion über das, was geschehen ist (so sehe ich deinen Text), verniedlicht der Ich-Erzähler die Ungeheuerlichkeit, die da passiert, lässt sie nicht an sich heran. Was muss das für ein Mensch sein?

Nur die Sache mit Vera reißt ihn aus seiner Lethargie.

Zwei Jahre vergingen. Dann erwachte ich.
Doch nicht die Einstellung zum Vater hat sich geändert, dieses Erwachen ist sexuell gemeint. Erst, als das Tun seines Vaters ihn selbst betrifft, wacht er auf, denkt darüber nach, den Vater zu töten, tut es dann wohl auch.

Man stellt mir Fragen, die ich nicht beantworten kann. Weshalb ich bei meinem Vater geblieben sei, obwohl ich wusste, wie er meine Mutter behandelte? Was ich empfinde, wenn ich an meine Mutter denke?
Diese Fragen beantwortet auch dein Text nicht. Dieser Mensch bleibt mir unverständlich. Ich kann verstehen, dass ein Junge den eigenen Vater unkritisch betrachtet und ihn sogar bewundert, aber ich kann nicht verstehen, dass ein junger Mensch die tiefe Demütigung der eigenen Mutter mit ansieht und nicht darauf reagiert.
Dein Text suggeriert, dass dieser starke Vater den Jungen derart dominiert, dass eine emotionale Bindung zur Mutter nicht entstehen kann. Für mich schwer nachzuvollziehen. Zumindest in dieser Ausschließlichkeit.

Nicht verstanden habe ich auch deinen ersten Teilsatz:

Ich sah ihn nicht oft,
Ich verstehe seine Bedeutung nicht, denn im Folgenden beschreibst du ja eigentlich sehr viele Begegnungen der beiden.

Auch die Person der Mutter ergibt für mich kein eindeutiges Bild. Vermutlich auch deshalb, weil ich über sie nur durch den Vater oder den Sohn etwas erfahre. Was ich weiß, ist, dass sie zwar die Demütigung des Vaters mitmacht, aber letztendlich die beiden verlässt. Wie sie sich fühlt, erfahre ich nicht. Nicht einmal, ob der Verlust des Sohnes ihr etwas ausgemacht hat. Sie bleibt Statist.

Peeperkorn, diesen Via-Mala-Vater hast du sehr gut charakterisiert, die Psyche des Sohnes erschließt sich mir nicht wirklich. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, wie die Gehirnwäsche des Vaters jegliches Mitempfinden des Jungen verhindert.

Wieder einmal ist dir ein sprachlich sehr guter Text gelungen. Allerdings ein sehr düsterer, von dem ich mich erst einmal erholen muss.

Liebe Grüße
barnhelm

Ps: Ich sehe gerade, dass während des Schreibens meines Kommentars noch einige Beiträge (u.a. von dir) eingegangen sind. Vermutlich hat sich einiges, was ich schreibe, deshalb schon erledigt.

 
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Hallo noch mal, Peeperkorn,

Ich kann jetzt natürlich schon schreiben, dass du einfach deinen Plan umsetzen, das Ding schreiben sollst. Aber ich verstehe gut, dass das sehr ärgerlich ist.

Halb so wild, ich werde die Geschichte bestimmt irgendwann schreiben. Aber ich werde wohl tatsächlich eine andere Idee vorziehen, um dem direkten Vergleich aus dem Weg zu gehen - mehr für mich selbst als für die Leserschaft. Ist aber wirklich kein großes Drama.

Das ist der Kern der Geschichte und den möchte ich unbedingt so lassen. Ja, hier erzählt jemand, der nicht normal ist, dessen Verhalten für einen Aussenstehenden nicht nachvollziehbar ist. Der Erzähler weiss das, er spricht von sich selbst als einem Mysterium.
Interessanter Ansatz. Ich bin nicht sicher, ob das alle Leser zufriedenstellt, aber ich selbst kann damit gut leben.
Nachtrag: Bin ich Prophet, oder was? Gerade schreibt barnhelm so etwas ...

(Da war er wohl sehr blind, denn der Leser hat es natürlich kommen sehen. Aber okay, Liebe macht ja bekanntlich auch blind.)
In meiner Lesart hat das nichts mit Liebe zu tun. Es geht um Macht. Darum, dass der Vater der Stärkere ist.
Das ist mir schon klar. Ich bezog mich nur darauf, dass der Sohn offenbar überhaupt nicht geahnt hat, dass zwischen Vera und dem Vater etwas laufen könnte. Obwohl er doch selbst beschrieben hat, wie der Vater bei der Aufführung die Hand auf ihre Brust gelegt hat, und obwohl das Lob des Vaters für ihr "Talent" ja nun der älteste Spruch der Welt ist.
Und dieses Nicht-sehen-Können oder -Wollen des Sohnes begründet sich nach meinem Verständnis in seiner - na ja, wenn nicht Liebe, dann eben Verliebtheit. So ganz unfähig zu irgendeinem Gefühl kann er ja nicht sein, wenn ich mir folgende Passage anschaue:
Ich war auf der Stelle in sie verliebt. Noch war mir nicht bewusst, wie sehr es mich erwischt hatte. Erst in der Nacht, als ich in meinem Bett lag, mir ihr Gesicht vorzustellen versuchte und mir einen runterholen wollte, merkte ich, dass da mehr war. Mein Ding blieb schlaff, ein Zeichen des Respekts und ein untrügliches Symptom aufrichtiger Liebe.
Es mag wohl sein, dass der Sohn seine eigene Gefühlswelt überschätzt und sich Emotionen zuschreibt, zu denen er nicht wirklich in der Lage ist, aber irgendwas muss da ja sein, sonst wäre auch die ausbleibende Erektion nur ein sehr merkwürdiger Zufall.

Mit der Lesart "Macht" verstehe ich jetzt auch folgenden Satz:

Doch dann griff ich mit einem gut durchdachten Kompliment an.
Zuerst fand ich den ein bisschen schwach, da hätte ich mir gewünscht, das einfach als Dialog gezeigt zu bekommen. (Hatte ich in meinem ersten Komm vergessen zu erwähnen.) Jetzt erkenne ich, dass du damit andeuten willst, wie der Sohn schon beginnt, strategisch und - na ja, eben machtorientiert - an Frauen heranzugehen, wie er es von seinem Vater gelernt hat. Natürlich hätte ich das konkrete Kompliment trotzdem gerne gelesen, mal lernt ja immer gerne dazu ... :D

Grüße vom Holg ...

 
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Liebe wieselmaus

Ich fürchte, du findest mich jetzt endgültig sentimental.

Nein, überhaupt nicht. Ich kann sehr gut nachvollziehen, was du schreibst.

Dennoch, ich muss etwas zur Thematik sagen. Ich weiß, dass eine Geschichte von ihren Konflikten lebt. Und Fliege hat dir, glaube ich, den Rat gegeben, den Protagonisten tüchtig wehzutun.

Flieges Rat war nicht an mich gerichtet, aber ich versuche, jede nützliche Information aufzuschnappen. :) Es ist aber so, dass die Figuren und der Plot aus der allerersten Geschichte stammen, die ich geschrieben habe. Das war, bevor ich die Wortkrieger entdeckt habe, ich habe durch diesen Text, der am Ende rund 120 Seiten lang war, den Einstieg ins literarische Schreiben gesucht. Erst danach habe ich mit dem Schreiben von Kurzgeschichten begonnen und kurz darauf dieses Forum entdeckt. Du siehst also, die hier verhandelte Thematik steht nicht am Ende einer Entwicklung, sondern an deren Anfang.
Ich fand es reizvoll, diesen Text, der für mich sehr wichtig gewesen ist, noch mal aufzugreifen, zu komprimieren, und mit dem, was ich im letzten Jahr gelernt habe, neu anzugehen.
Welche Art von Geschichten ich erzählen möchte, ist mir noch nicht klar. Sie werden wohl häufig düster sein. Aber ich bin sicher, es wird in meinen künftigen Texten immer wieder Lichtblicke geben, auf alle Fälle.
Danke dir, dass du reingeschaut hast, danke für deinen Kommentar, der mich nachdenklich gemacht hat – und das ist immer gut.

Hallo Novak

Merci für die Intervention, um Schlimmes zu verhindern! Und lass dir Zeit. Wortkrieger nur, wenn es draussen stürmt und hagelt! Es ist aber auch unglaublich beeindruckend, wie ausführlich du die Kommentare zu deinen Texten jeweils beantwortest, soll auch mal gesagt sein.

Hallo Kanji

Für mich ist es ein Unterschied, ob ich empathisch bin mit dem Protagonisten, oder ob ich innerhalb der Geschichten mitempfinde.
In deinem Fall bleiben mir alle Protagonisten fremd, ich kann nicht mit einem einzigen mitfühlen, weil ich mich mit keinem identifizieren kann, aber die Szenen, die du beschreibst, empfinde ich in ihrer Dramatik und bin froh, dass sie mich nicht wirklich tangieren.

Ich danke dir für die Präzisierung und das damit verbundene Lob. Ich selbst lese so, dass ich kaum je mit einem Protagonisten empfinde, ich muss die einfach einigermassen ernst nehmen können. (Aber ich werde langsam besser darin :)) Daher habe ich wenig Mühe mit unsympathischen Protagonisten, solange sie nicht nerven oder langweilen. Und daher kommt es auch vor, dass ich solche Protagonisten zu kreieren versuche.

Hallo JackOve

Ganz herzlichen Dank für deine Rückmeldung. Ja, ich habe gedacht, dass der Titel auf eine falsche Fährte führen kann. Aber der Text macht ja relativ schnell klar, worum es geht und ich denke, man muss nicht von einer Irreführung des Lesers sprechen. Ich wollte halt auch mit den (zu) kuschligen Assoziationen spielen, die man hat, wenn man an Bären denkt.
Dein Lob freut mich sehr, es ist immer schön zu hören, dass ein Text, auch wenn er unterschiedlich aufgenommen wird, auch wenn er einige Leser nicht erreicht, zumindest gut gemacht erscheint. Sehr schön, wenn's dann auch noch inhaltlich funktioniert. :)

Liebe Grüsse an alle
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

sehr nüchtern erzählt, diese grässliche Geschichte. Damit meine ich, dass das, was in ihr geschieht, grässlich ist. Was ich von deiner Geschichte halten soll, das weiß ich gerade noch nicht so ganz. Sprachlich einwandfrei, keine Frage, und eben sehr nüchtern, wie gesagt. Fast wirkt der Erzähler wie ein Unbeteiligter, den das alles nichts angeht, oder wie einer auf Opium, an dem all das Scheußliche, das sich vor seinen Augen abspielt vorbeigeht. Der Vater scheint den Jungen über weite Strecken unter Kontrolle zu haben, präsentiert ihm seine Auffassungen als Tatsachen, wie etwa dass Männer mehr als eine Frau brauchen (und vergleicht nebenbei noch Frauen mit Fischen als Beute für Bären). Der Junge scheint es zunächst aufzunehmen und gar zu verinnerlichen, lacht, als der Vater sich über die Leiden der Mutter lustig macht. Allerdings, verinnerlicht er es wirklich? Wenn der Junge seinen Vater zusammen mit Vera sieht, scheint der Vergleich zwischen Frauen und Fischen für ihn vergessen zu sein, Zorn überwiegt seinen Geist. Aber selbst das hast du noch so nüchtern beschrieben. Das ist die Stelle, an der der Junge sieht, was sein Vater für einer ist, da bricht etwas in ihm aus, aber selbst das ist so zurückhaltend, so subtil. Macht das die Sache effektiver? Ich glaube schon. Und das den ganzen Text über. Eigentlich will man ja den Jungen mal wachrütteln und dem Vater vielleicht eine verpassen, aber stattdessen muss man tatenlos zusehen, wie der Vater seinen Sohn fundamental verkorkst, ihn schon fast zugrunde richtet. Da zeichnet sich der Junge am Ende selbst wie eine Missgestalt, die es in der Natur nicht gibt. Ein Zeichen der Einsicht, des Erkennens, was der Vater aus ihm gemacht hat? Und damit ein Zeichen der Hoffnung, frei nach dem Motto "Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung"? Oder ist es Aufgabe, Resignation? Ich glaube eher letzteres. Da schwingt keine Hoffnung mit am Ende, der Erzähler bleibt so nüchtern wie zuvor.

Was soll ich also von all dem halten? Ich denke, es ist ein guter Text, der durch seinen nüchternen, sachlichen Erzählstil herausfordert, zuweilen geradezu provoziert (ich denke an die Stelle, wo der Junge mit ansieht, wie der Vater die Mutter vor sich knien lässt, und der Junge es einfach hinnimmt, scheinbar nichts fühlt im Angesicht dieser grotesken Situation). Der Text lässt mich über die Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen nachdenken und über die Macht die Väter haben bzw. haben können. Bei all dem denke ich aber auch über die Rolle der Mutter nach. Was tut sie in diesem tragischen Spiel? Die Antwort scheint zu lauten: nichts bzw. nichts außer wehklagen. Sie scheint nicht stark genug, um sich gegen den Vater zu wehren, versinnbildlicht durch ihre vielen körperlichen Leiden, eingebildet oder nicht. Tatsächlich scheint sie sogar so schwach, dass sie es nicht einmal schafft, entfernt auch nur irgendeine ansatzweise bedeutende Rolle im Leben ihres Sohnes zu übernehmen. Dieser spricht die ganze Zeit nämlich nur über seinen Vater, die Mutter scheint unwichtig. Sie nimmt nur die Rolle eines (weiteren) Opfers des Vaters ein, was der Junge aber nicht erkennt. In der Hinsicht bleibt sie etwas blass, so könnte ich kritisieren. Weshalb lässt sie sich von dem Vater so dominieren, so misshandeln? Und wieso kämpft sie nicht um ihren Sohn? Diese Aspekte würden mich interessieren, aber ob ihre Integration in den Text deine Geschichte noch besser machen würde, weiß ich nicht. Immerhin geht es ja in erster Linie um Vater und Sohn. Und ich gebe zu, gerade die Abwesenheit der Mutter in den Gedanken des Erzählers gibt dieser Vater-Sohn-Geschichte (wenn wir sie mal so euphemistisch bezeichnen wollen) etwas. Da ist dann eben nur der Vater im Leben des Sohnes, und nachdem dieser erkannt hat, was sein Vater für einer ist, gibt es auch keinen Trost für ihn, keinen Schutz bei der Mutter. Es bleibt nur dieses entstellte Selbstbild, zu dem der Vater ihn gemacht hat bzw. zu dem er sich selbst hat machen lassen, an dem aber eben auch die Mutter nicht ganz schuldlos ist, denn sie hat nur zugeschaut.

Also ja, doch, es ist ein guter Text bzw. sogar ein sehr guter. Ich könnte das so nicht. Es ist jedoch kein angenehmer Text. In Erinnerung bleibt vor allem die zur Schau gestellte Nüchternheit, die die Resignation des Erzählers offenbart. Respekt, Peeperkorn!

Viele Grüße
Mix

 
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Der Mensch sei ein Mysterium ... und ich mir selbst das größte.

Manno man, das ist harte Kost und mir kommt überm Lesen der alte Wunsch auf, Eltern zu verbieten,

Meister P.

Da setzen ein Bär und ein Rehlein einen Wolpertinger in die Welt und Reh wie Fabeltier unterwerfen sich dem Bärseker, das Reh gibt sich auf, flüchtet sich in Krankheit, und das Wundertier wählt die Identifikation mit dem Aggressor und wie nebenbei wird der alte Oedipus auf den Kopf gestellt, wenn Laios dem Schwellfuß (so der deutsche Name des Ödipus) dessen erste Liebe (Mutterliebe können wir wohl ausschließen, bliebe eh, was sie mit der Geburt war: erzwungen durch Abhängigkeit, die der Vater dann noch gegenüber dem angetrauten Weib mit der Auszahlung des Haushaltsgeldes geradezu formalisiert).

Die Erzählung hat mythische Dimensionen, wenn man so will, was bis in die Form der Erzählung hineinreicht – denn wer wüsste auf Anhieb zu sagen, in welchem Mythos das Innerste wie etwa Gedanken der Figur/en dargelegt werden? Träumen dürfen die Helden (so träumt Sigfrid/Sigurd wohl von seiner Walküre auf Island, also weit weg) und zum Falkentraum der Krimhild muss die Mutter sich Gedanken machen, die sie natürlich als wörtl. Rede ans Fräulein Tochter richtet. Und diese Geschichte kann auch nur „cool“, wie man heut so sagt, erzählt werden, was einem Kühlschrank wie mir nicht ungelegen kommt. Identifikation macht abhängig, Distanz ist notwendig, denn was erkennt man schon mitten im Geschehn und der Masse? (Übrigens auch eine Maxime Gottfried Kellers.)

Der Bär (ahd. bero, mhd. ber*) ist von seiner germanistischen Wurzel her der „Braune“, Herr und Kraftprotz der Wälder. Selbst der Herkunftsduden (Bd. 7, Stichwort Bär) weist auf die Furcht hin, die der Name des Bären verbreitet. Danach wurde aus Furcht, das Tier zu reizen, sein wahrer Name – Arktis! - nicht genannt und selbst die erste Erwähnung in der Geschichte zeigt keinen sympathischen Meister Petz (urspr. Bätz, die Verniedlichung des Bären), sondern das Tier, dessen wahren Namen man hinter der Farbe verbirgt …

Zwo Flüsken

… wie[...]viel Schnaps ...
Bevor es so[...]weit war, rüstete ich mich ...
(nur die Konjunktion wird zusammengeschrieben)

Und zum Schluss noch ein Gedanke, wenn es (durchaus korrekt) im ersten Satz heißt

Ich erinnere mich, wie mein Vater eines Abends betrunken nach Hause kam, duschte und sich auf das Sofa fläzte.

Es geht um's „sich fläzen“, das im verwendeten Akkusativ „sich halb setzen/legen“ bedeutet, um über ein halb sitzen/liegen, kurz ein sich lümmeln in den Dativ zu wechseln. Warum nicht diese kleine Verwandlung wagen gegen das langweilige, 08/15 sitzen im dritten Satz
Da saß er mit …
und eine Art hauseigenen Ritus spiegelbildlich (Ende des Satzes : Satzanfang) schaffen
… und sich auf das Sofa fläzte. … Da fläzte er sich auf dem Sofa mit …
Es wäre eben keine "unschöne" Doppelung - oder wollte jemand behaupten, 3. und 4. Fall, Jacke wie Hose?

Interessiert gelesen – ich weiß nicht, ob Du's weißt und eine Wiederholung kann ja nicht schaden, ob sie nützt ist unwichtig, schließlich ist Kunst eine Art Luxus, die sich übers harte, notwendige Handwerk erhebt – von einem, der nur seine Autobiografie schreibt, die aber bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und sich am Grünen Heinrich orientiert …

Tschüss sachtet

Dante Friedchen

* Bern hat daher wohl seinen Namen. Interessant: Es ist die Genitivbildung des bern (Bären). So regiert der Bär auch den südl. Nachbarn ...

Nachtrag, 16.06.16

Und so mute ich mal Maß um des Vaters Namen: Bern + hard (ahd. = stark!) oder Kurzformen wie Bernd und Benno ...

 

Lieber Peeperkorn

eine Missbrauchsgeschichte oder besser eine Geschichte über die Deformierung eines Jungen, okay, gut, schwieriges Thema. Ich hab ja selbst so ein Ding gemacht und weiß, wie schmerzhaft das Schreiben über solch einen Gegenstand ist. Mit dem Lesen ist es genauso.
Was mir trotz den Ich-Perspektive auffällt, ist, wie weit du von deinem Protagonisten entfernt bist, ich dringe nicht richtig vor zu ihm, zu seiner Verwirrung und besonders am Ende nicht zu seiner Wut...
Gut geschrieben allemal, ja, aber es fehlt was... es rührt mich nicht so, wie es sein müsste, macht mich selbst nicht wütend oder betroffen.
Draufhalten, das wär's vielleicht...

Ich schau mal in den Text:

Und unterhalb seines Bauches, im Gewirr von Haar, Mantel und Haut, erspähte ich sein riesiges Glied.
du startest gleich mit einem sinnlich erfahrbaren Ekelbild. Nur: Glied gefällt mir nicht als Wort, ich würde da Ding oder Schwanz nehmen...

weil ein dreihundert Jahre altes Schriftstück und Theo Fischer das so wollten.
sehr gut: du führst den Namen ein und zeigst seine Macht

Elfmal Gämse, sechsmal Reh, einmal Steinbock.
warum gibst du dafür Zahlen an? ist nutzlos oder?

„Aber noch besser wäre ein Tiger mit Hörnern und Flügeln. Der wäre noch stärker.“ Vater lachte. Es sei wichtig, stark zu sein, sagte er.
warum am Schluss indirekte Rede?

Er habe den Ferlacher Drilling und das Reh müsse schauen, dass es in Deckung bleibe.
Was? Schweizer soll mal einer verstehen

Ich hatte schon immer „Bär“ zu ihm gesagt.
warum nimmst du hier Plusquamperfekt? du könntest auch schreiben: Ich nannte ihn Bär, seit ich denken kann.

Auch die ersten Frauen, die ich sah, gehörten meinem Vater. Er kaufte sich Magazine. Schlüsselloch. Praline.
gehörten ist gut: kann der nicht online einen Porno schauen: ziemlich oldschool: 70er Jahre :)

Jede Nacht sah ich mir die Bilder an.
wenn du das schon so genau beschreibst, fehlt trotz show dont tell, mindestens die Andeutung, was er dabei macht, klingt sehr prüde...

„Musste sie heute Morgen nach Stans fahren. Sagt, sie kriege keine Luft. Oder das Herz. Wüsste sie, dass es eine Milz gibt, würde die ihr auch wehtun.“
Ich lachte, drehte mich zum Geländer und blickte nach oben.
mm, das klingt merkwürdig, mir wird aus dem bisherigen Verlauf nicht klar, warum er lacht, wenn die Mutter ins Krankenhaus kommt...

Einmal beobachtete ich heimlich, wie mein Vater ihr Haushaltsgeld gab. Mutter kniete auf dem Küchenboden, die Hände auf dem Rücken. Sie trug ein Brautkleid, es war grau.
weiß nicht, was ich davon halten soll, effekthascherisch?

Sie hatte mich gefüttert und aufgezogen, aber meine Mutter hatte sich mir nicht eingeschrieben, sie war nur seine Frau gewesen.
auch hier, das ist sehr aus der Ferne erzählt, das spüre ich nicht richtig, da wäre es womöglich besser, du machtest eine Szene, wie er mit seiner Mutter umgeht...

Mein Ding blieb schlaff, ein Zeichen des Respekts und ein untrügliches Symptom aufrichtiger Liebe.
aha: reine Liebe

Doch dann griff ich mit einem gut durchdachten Kompliment an.
das ist echt zu redundant, warum sagst du nicht, welches Kompliment das war...

Natürlich dachte ich an das Jagdgewehr. Es stand im Schrank, gleich im Wohnzimmer. Und später griff ich in meinem Geist immer wieder danach. Schob die Schrotpatrone in den Drilling.
ja, das ist die Alternative, die ich in "Ausgetrocknet" beschrieben habe...

was in dieser Situation die angemessene Reaktion sein könnte.
angemessen klingt mir zu erwachsen...

Unbeholfen zusammengekleistert aus Teilen, die in keiner Beziehung zueinander stehen. Ein Monstrum. Als Rumpf zeichnete ich den kräftigen Leib eines Bären.
hier rundest du die Geschichte ab, nur warum will er ein Bär sein, dem Vater ähneln?

Viele Grüße und einen schönen Tag
Isegrims

 

Liebe barnhelm

Ich habe deine Geschichte nicht gerne gelesen, sie greift mich irgendwie an. Diese Bilder, die du entstehen lässt, verwirren mich, stoßen mich teilweise ab. Vermutlich hätte ich den Text zur Seite gelegt, wenn nicht du ihn geschrieben hättest.

Ich habe mir gedacht, dass du den Text nicht mögen wirst. Und ich hätte es gut verstanden, wenn du ihn einfach zur Seite gelegt hättest. Danke fürs Weiterlesen.

Ich kenne die Erfahrung. Cormac McCarthys „Ein Kind Gottes“, das beschreibt, wie einer zum Kannibalen wird, war für mich kaum zu ertragen. Kaum Innenperspektive, sehr nüchtern beschrieben (wenn auch nicht als Ich-Erzählung), der Protagonist meilenweit davon entfernt, ein Mensch zu sein, so wie ein Mensch sein sollte. Aber – auch wenn das jetzt etwas überspitzt formuliert ist – der Titel des Buches hat mich dazu angehalten, weiterzulesen. Ja, auch er ist ein Kind Gottes, säkular gelesen, ein Mensch.

Du weisst, dass ich mich noch orientieren muss, dass ich experimentiere, und ich denke, ich habe – innerhalb des Genre, dem ich wohl treu bleiben werde – doch ein bestimmtes Spektrum an Texten – es gibt ja z.B. auch noch den Sprung. Hier wollte ich das andere Ende etwas ausloten, vor allem, was die Erzählperspektive betrifft.

Die meisten Texte bauen auf einen sympathischen Erzähler, zumindest einer mit sympathischen Zügen, einer, mit dem man mitleiden kann, wenn es z.B. um Gewalt geht. Das ist hier anders.
Ich finde, du hast den Text so gelesen, wie er intendiert war. (Das zeigt sich bei Details wie dem „Erwachen“, das einen möglichen Widerstand gegen den Vater andeutet, letztlich aber, wie du schreibst, anders gedeutet werden muss.) Das eigentlich Brutale ist nicht der Vater, ist nicht das, was geschieht, sondern die Art und Weise, wie der Erzähler davon spricht. Ein gestörter Erzähler. Ich glaube, das macht den Text schwierig zu lesen.

Weshalb sollte man einen solchen Erzähler wählen? Ich bin mir auch nicht sicher. Aber für mich ist er eben auch ein Mensch, hat eine Berechtigung, seine Geschichte zu erzählen, auch wenn wir ihm lieber nicht zuhören wollen. Das klingt jetzt alles vielleicht etwas geschwurbelt und prätentiös, aber ich wollte erläutern, was mir durch den Kopf gegangen ist, als ich den Text geschrieben habe. Und ich habe – ehrlich gesagt – nicht damit gerechnet, dass er so stark wirken kann.

Dazu gehört auch die Irritation, die dieser Text verursachen soll. Es gibt Menschen, deren Verhalten ich nicht nachvollziehen kann. Ich merke einfach, dass die anders ticken, dass sie andere Bedürfnisse, andere Sichtweisen haben. Das ist bei diesem Erzähler auch so. Ich kann aber gut verstehen, wenn man sagt, dass das nicht funktioniert, dass der Abstand zwischen Leser und Erzähler zu gross ist. Der Mensch bleibt dir unverständlich, schreibst du.

Auch die Figur der Mutter (und, wie ich finde, auch Vera) sind davon betroffen. Aus einer anderen Erzählperspektive hätte ich versucht, die beiden Frauen aktiver zu zeichnen, plastischer, wirklicher. Aber in der Sichtweise des Erzählers hat das keinen Platz. Frauen sind Fische. Auch hier kann ich sehr gut verstehen, wenn man das als Leser nicht mitmacht.

Liebe barnhelm, deine Ausführungen haben mich dazu veranlasst, noch einmal über all das nachzudenken, das war ein sehr wichtiger Kommentar, den ich nicht einfach mit dem bekannten: „Man kann nicht jedem gefallen“ abtun wollte. Ich bedanke mich.

Ach ja:

Ich verstehe seine Bedeutung nicht, denn im Folgenden beschreibst du ja eigentlich sehr viele Begegnungen der beiden.

Guter Punkt. Ich habe das geändert.

Liebe barnhelm, ich kann mich nicht genug dafür bedanken, was man schon fast ein Mentorat nennen könnte (gilt auch für andere hier im Forum). Ich hoffe, die nächsten Texte bringen mehr Licht.


Lieber The Incredible Holg

Schön, dass du noch mal reingeschaut hast.

Das ist mir schon klar. Ich bezog mich nur darauf, dass der Sohn offenbar überhaupt nicht geahnt hat, dass zwischen Vera und dem Vater etwas laufen könnte.

Ja, ich habe da zu sehr auf diesen Begriff „Liebe“ reagiert, dabei sind wir uns ja einig. Genau, ich wollte den Erzähler eben auch – das geht vielleicht etwas unter – als nicht ganz so schlauen Mini-Bären zeichnen. Mit ein Grund, weshalb er gegenüber seinem Vater nicht bestehen kann, wenn es ums Beutemachen geht.
Und ja, der Erzähler hat schon so was wie Gefühle, ich denke, da unterscheidet er sich von seinem Vater, der z.B. niemals eine solche Geschichte erzählen würde.

Jetzt erkenne ich, dass du damit andeuten willst, wie der Sohn schon beginnt, strategisch und - na ja, eben machtorientiert - an Frauen heranzugehen, wie er es von seinem Vater gelernt hat. Natürlich hätte ich das konkrete Kompliment trotzdem gerne gelesen, mal lernt ja immer gerne dazu ... :D

Ja, deshalb der Ausdruck „angreifen“. Und wegen dem Kompliment: Das wäre eine ideale Gelegenheit gewesen, den Text kaputt zu machen. :)

Merci fürs Nachhaken, lieber Holg

Lieber Gruss euch beiden
Peeperkorn

 

Hej Peeperkorn,

das Augenmerk auf die Wirkung des ich-Erzählers empfinde ich genaugenommen als das wichtigste Element. Die Praktiken und Auslöser sind willkürlich, aber was das Leben dieses Jungen über all die Jahre und Entwicklungsphasen mit dem Jungen gemacht hat, ist für mich das Interessanteste. Da wurden ihm all diese brutalen Zeichen, Anmerkungen und Bemerkungen, das devote Verhalten der Mutter täglich impliziert, wahrscheinlich in geringen Dosen, aber dafür eben täglich.
Kinder können sehr verschieden darauf reagieren, aber meines Erachtens eben auch genau so. Und gerade diese, uns/mir fremde Sicht macht diese Geschichte so besonders.
Und dass dadurch Abstand einsteht ist ja eigentlich ein gutes Zeichen für den Leser. ;)
Finde ich.

Je öfter ich sie lese, desto ergriffener bin ich.

Lieber Gruß, Kanji

 
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Hallo Mix

Danke dir für diesen ausführlichen und differenzierten Kommentar. Ich habe den mehrere Male durchgelesen. Deine Lesart deckt sich in weiten Teilen mit meinen Intentionen, das war schon sehr befriedigend zu sehen, und selbst wenn dein Urteil am Ende negativ ausgefallen wäre, hätte ich mich zumindest verstanden gefühlt.

Weshalb lässt sie sich von dem Vater so dominieren, so misshandeln? Und wieso kämpft sie nicht um ihren Sohn? Diese Aspekte würden mich interessieren, aber ob ihre Integration in den Text deine Geschichte noch besser machen würde, weiß ich nicht. Immerhin geht es ja in erster Linie um Vater und Sohn. Und ich gebe zu, gerade die Abwesenheit der Mutter in den Gedanken des Erzählers gibt dieser Vater-Sohn-Geschichte (wenn wir sie mal so euphemistisch bezeichnen wollen) etwas.

Das hat mich besonders gefreut, denn ich weiss um die Problematik. Bei einem Erzähler mit blinden Flecken bleiben bestimmte Aspekte unterbelichtet, wenn man konsequent erzählt. Hier betrifft das die Frauenfiguren, vor allem diejenige der Mutter. Aber ich wollte eben nicht schön brav, wie es sich gehört, diese Beziehung aufdröseln, noch eine Szene mit der Mutter schreiben etc., so dass am Ende alles schön rund wird und alle Figuren „angemessen“ beleuchtet sind. Das hätte den Erzähler unglaubwürdig gemacht, wenn er sagt, seine Mutter habe sich ihm nicht eingeschrieben. Aber mir war klar, dass das eine heikle Sache ist und bin froh, dass du daraus letztendlich keinen Kritikpunkt gemacht hast.

Der Vater scheint den Jungen über weite Strecken unter Kontrolle zu haben, präsentiert ihm seine Auffassungen als Tatsachen, wie etwa dass Männer mehr als eine Frau brauchen (und vergleicht nebenbei noch Frauen mit Fischen als Beute für Bären).

Und der Sohn lässt es mit sich geschehen.

Wenn der Junge seinen Vater zusammen mit Vera sieht, scheint der Vergleich zwischen Frauen und Fischen für ihn vergessen zu sein, Zorn überwiegt seinen Geist. Aber selbst das hast du noch so nüchtern beschrieben.

Da habe ich relativ viel offengelassen. Auf der anderen Seite sollte die Tatsache, dass der Zorn ausschliesslich dem Vater gilt, und Vera nicht mehr erwähnt wird, deutlich werden lassen, dass es hier nicht um Eifersucht im klassischen Sinn geht, es geht nicht um die vorgebliche Liebe zu Vera, sondern darum, von seinem Vater ausgestochen worden zu sein. Aber vielleicht kann ich da noch einen Nebensatz einfügen, der das noch etwas klarer macht.

Ich denke, es ist ein guter Text, der durch seinen nüchternen, sachlichen Erzählstil herausfordert, zuweilen geradezu provoziert

Ich will eigentlich gar nicht provozieren und bin privat ziemlich harmoniesüchtig. Aber ich finde es spannend, wenn es meine Texte aufgrund bestimmter Merkmale tun. Das hilft mir, meinen Weg finden, wenn es ums Schreiben geht.

Also ja, doch, es ist ein guter Text bzw. sogar ein sehr guter. Ich könnte das so nicht. Es ist jedoch kein angenehmer Text.

Das freut mich riesig, wirklich, vor allem, weil es das Fazit einer intensiven und toll zu lesenden Auseinandersetzung mit dem Text ist.

Ganz herzlichen Dank!


Lieber Friedel

Interessiert gelesen – ich weiß nicht, ob Du's weißt und eine Wiederholung kann ja nicht schaden, ob sie nützt ist unwichtig, schließlich ist Kunst eine Art Luxus, die sich übers harte, notwendige Handwerk erhebt – von einem, der nur seine Autobiografie schreibt, die aber bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und sich am Grünen Heinrich orientiert …

Gerade gestern Abend habe ich ein Interview der britischen Autorin Rachel Cusk gelesen, die meint, fiktionales Erzählen sei eine tote Kunst und die Autobiographie die einzig Form des Erzählens, die bleiben werde:

„Wenn man einmal genug gelitten hat, dann wirkt die Idee, einen John und eine Jane zu erfinden und sie irgendetwas zusammen tun zu lassen, total lachhaft.“

Ich weiss nicht, wie es um dich steht, ich habe in meinem Leben gewiss noch nicht „genug gelitten“, aber interessant finde ich das allemal. Und wenn ich an meine Geschichten denke. Da gibt es wenige, die keine autobiographischen Elemente beinhalten …

Aber zum Text:

Die Erzählung hat mythische Dimensionen, wenn man so will, was bis in die Form der Erzählung hineinreicht – denn wer wüsste auf Anhieb zu sagen, in welchem Mythos das Innerste wie etwa Gedanken der Figur/en dargelegt werden?
Da weiss ich gar nicht, was ich sagen soll – ausser vielleicht, dass ich den verdrehten Ödipus schon auch im Kopf hatte - wenn du den Text in eine solche Tradition stellst, aber …

Identifikation macht abhängig, Distanz ist notwendig, denn was erkennt man schon mitten im Geschehn und der Masse?

… darauf wolltest du hinaus und da verstehen wir uns. Sprache war und ist für mich ein Mittel der Distanznahme. Will ich Nähe und „Emotion pur“, dann höre ich Musik.

Und so mute ich mal Maß um des Vaters Namen: Bern + hard (ahd. = stark!) oder Kurzformen wie Bernd und Benno ...

Ich hatte ihn im zweiten Abschnitt „Theo“ genannt, aber „Benno“ ist viel besser. Danke. Danke auch für die beiden Flusen, das „soweit“ zumindest stammt noch aus einem älteren Textfragment, das ich kopiert habe – ich hoffe, das in Zukunft richtig zu machen.

Lieber Gruss euch beiden
Peeperkorn

 
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Lieber Peeperkorn,
ich wollte sehr gerne noch etwas genauer zu deiner Geschichte kommentieren. Das Problem, das du glaube ich mit dieser Geschichte hast, das kenne ich nur allzugut. Und das ist gar kein Problem der Geschichte oder ihrer Konstruktion, sondern das Problem geht man ein, wenn man einen unsympathischen, unangenehmen Erzähler erfindet, den die Leser nicht mögen, weil man sich nicht mit ihm identifizieren kann. Das lese ich nicht nur aus vielen Kommentaren heraus, die Gefühllosigkeit, mit der der Junge reagiert, speziell in der Demütigungsszene, die will natürlich keiner identifikationsmäßig auf sich nehmen. Jeder normale Mensch würde mit Entsetzen reagieren, mit Wut, was weiß ich. Ich denke, die Leser würden dir viel verzeihen, wenn er anfnags noch Gefühle der Irritation hätte, oder eine Art Erstaunen, aber das alles zeigt er nicht, sondern eigentlich reagiert er von vornherein so, dass er alles von außen sondiert und betrachtet. Wie reagieren die Leute auf den Vater? Stimmt es, was der Vater sagt, dass sie ihm schön tun? Der Junge ist ein Beobachter. Und als er dann, nachdem er sich verliebt hat, selbst ins Geschehen einbezogen wird, da endet seine Beobachterei, auch wenn er sogar dann noch zum Beobachten gewungen wird durch den "Liebes"akt zwischen dem Vater und der Freiundin. Entsprechend schmerzhaft wird es für ihn. Und vielleicht auch für den Vater. Da steht nicht explizit drin, aber man könnte es erschließen aus dem Satz "an diesem Abend stand ich ... bloß da. Klingt so, als hätte er an einem der anderen Abende die Vorstellung, nach dem gewerht zu greifen, zur Wirklichkeit gemacht.
Das Schwierige beim ersten Lesen für mich war, dass die Dinge, die der Junge am Anfang macht oder sieht, für mich gar nicht so schlimm waren, das Ausschneiden der Frauenbilder zum Beispiel, finde ich ziemlich normal. Oder dass er ein Tiger sein will oder an der Hand des bewunderten Vaters sein kann.
Allerdings fiel mir auch dort schon auf, dass er diese Magazine heimlich liest, und so, wie du es schilderst, kriegt man das Gefühl, da entsteht was Verklemmtes. Also klar, nicht falsch verstehen, alle Jugendlichen werden ihre ersten sexuellen Beobachtungen heimlich tun, aber so wie du das beschreibst, ist es doch noch anders. Er "schlachtet" die Magazine aus, dann, wie er das Zeugs verschnürt, das ähnelt einem System des Verschweigens und Verkleidens und der Heimlichkeit. So richtig klar geworden ist mir das aber erst beim zweiten lesen.
Dass du nicht schreibst, dass er sich dabei des Nachts einen runterholt, finde ich in dem Fall ganz gut, man kann es sich ohnehin denken, aber durch das Nichtsagen erhält dieses ganze System was Hermetisches. Gefragt habe ich mich auch, warum er das überhaupt so heimlich tut, die Mutter hat ja eh nicht viel zu sagen, der Vater hätte es doch eher cool gefunden und wäre auf seinen kleinen Bären stolz gewesen. Also wirkt das so auf mich, als hätte das Verborgene einen eigenen Reiz für den Jungen.
Ja, das Ganze kriegt dadurch obwohl es auf den ersten Blick recht normal wirkt, etwas Heimliches, Verschwiegenes, das in sich abgeschlossen ist. Auch wie er das riesige Glied des Vaters erspäht. Also nee, das hat alles was sehr Hintertriebenes, Beobachtendes. Aber wie gesagt, das erschließt sich eigentlich nicht gleich beim ersten Lesen, sondern eher später.

Klar, der bewunderte Vater ist kein sympathischer Mann, er ist stolz darauf, dass alle von ihm abhängig sind und ihm applaudieren. Er bringt dem Buben bei, man müsse zu den Stärksten gehören etc. Aber meine Güte, von der ekeligen Sorte gibt es ja viele und viele bewundern sie leider auch. Von daher wundert es mich auch nicht, dass der Bub ihm nacheifert. Aber, das ist mir eben so aufgefallen, der Bub ist von vorneherein eine ganz schön schräge Nummer und das ist einfach hart zu schlucken, weil die meisten Menschen ein anderes Menschenbild haben, da wird jemand schräg und ist es nicht gleich von Anfang an.
Echt widerlich wurde es mir erst zumute, als der Vater die Köpfe kocht und der Junge auf die Nachricht von der Krankenfahrt der Mutter lacht. Der Vater reagiert da echt widerlich. Er stellt die Mutter gleich zweifach ins Aus, er hält sie erstens für doof, weil sie keine Milz nicht kennt und zweitens für die Obersimulantin. Und diese widerwärtige Witzelei, die wird für den Jungen natürlich deutlich, was mich aber echt überrascht hat dann, ich konnt mir noch vorstellen, dass der Junge die Witzelei mitmacht, es dem starken Vater recht machen will, aber dann guckt er gleich nach dem Regen.
Er ist da übrigens sehr aufmerksam in dieser Kopfkochszene, denn er registriert ganz genau, dass der Vater zwar darüber redet, wie einfach das Entfernen des Fleisches geht, aber es knirscht dabei und der Vater schwitzt. Und sofort kommt die Frage nach der Mutter.
In der Küchenszene verlässt er einfach nur seinen Beobachterposten. Irgendwie ist der Kerl immer ein Beobachter. Eagl wo man ihn findet. Dass er den Vater im Theater sieht, die erste Liebe im Theater sieht, den Schluss der Liebe beobachtet er wieder als Zuschauer, als gepeinigter Voyeur.

Ich weiß nicht, ich rede mich noch um Kopf und Kragen. Vielleicht merkst du es, ich bin in der Geschichte recht unentschieden, ob du das überhaupt so wolltest, oder ob ich mir hier einen Wolf anlese. Unentscheiden bin ich übrigens nicht, weil der Junge mir unsympathisch ist, und der Vater ebenso, ich hätte nur einmal etwas spüren wollen, was ihn zu diesem Beobachter macht. Das ist nämlich schon so von vornherein. Als gäbe es in ihm keine Brechung. Die Brechung gibt es erst später, als der Vater sich über die Freundin hermacht. Großartig beschreiben übrigens die Szene, als er die beiden ertappt.
Nee, ich rede von einer Brechung vorher, irgendetwas, was spürbar macht, warum er sich zu diesem heimlich beobachtenden Liebhaber der Stärke entwickelt hat. Es geht mir also weniger um Sympathie, sondern um Glaubwürdigkeit dieses Charakters. Da fehlt mir gar nicht viel, nur warum gibt ihm dieses System von Stärke so viel, was gefällt ihm daran, was mag er daran, so heimlich zu sein und so mitleidlos.
Ach Mensch, ich weiß nicht, ob ich mich verständlich machen konnte, fragst du halt noch mal. Ich weiß ja noch nicht mal, ob du dieses Heimliche, Spähende, ob du das überhaupt so gewollt hast, wie es bei mir angekommen ist. Wie gesagt, so richtig aufgefallen ist es mir erst im Zusammenhang mit den Szenen mit der Mutter und dem Kopf kochen. Aber ich weiß, dass ich schon vorher ab und an gezuckt hab.
Das machst du übriegens klass, immer so kleine Dinger reinzusensen, wie zum Beispiel auch bei seinem ersten Annäherungsversuch an die Vera. Dass er da "angreift".

Ich finde die Geschichte übrigens toll, falls du das noch nicht gemerkt hast, einen sehr nachdenklich machend. Und vielleicht kannst du ja was mit meinen Anmerkungen anfangen.

Dieses Bild vom Wolpertinger, das fand und finde ich übrigens irre gut. Er hat die Basis vom Vater. Der Rest passt nicht, ist schief, monströs.

Viele Grüße von mir

 

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