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Der Bär
Ich erinnere mich, wie mein Vater eines Abends betrunken nach Hause kam, duschte und sich auf das Sofa fläzte. Er hatte den Bademantel mit den gelben Säumen übergeworfen, der Gürtel lag lose auf seinen Hüften. Da saß er mit einem Glas Cognac in der Hand und schaute fern. Der Mann mit den kräftigen Armen und den dunklen Augen. Er roch nach Kölnisch Wasser. Und unterhalb seines Bauches, im Gewirr von Haar, Mantel und Haut, erspähte ich sein riesiges Glied.
Vater arbeitete als Grundbuchbereinigungsbeamter und ich musste sieben oder acht Jahre alt werden, um seinen Beruf überhaupt aussprechen zu können. Später erklärte er mir, die Besitzverhältnisse von Grundstücken müssten neu geregelt werden. Da gebe es Gülten und Schuldbriefe, das sei so kompliziert, dass letztlich er entscheide, welche dieser Urkunden rechtskräftig seien und welche nicht. Man könne kaum glauben, wie viel Schnaps er von den Bauern geschenkt bekomme. Alle hätten Angst, sie müssten Ackerland an den Nachbarn abtreten, weil ein dreihundert Jahre altes Schriftstück und Benno Fischer das so wollten.
Er war der Star am Buochser Theater. Meistens gab er einen Gauner, was meine Mutter zur Bemerkung veranlasste, Vaters Aufgabe sei kinderleicht, er müsse gar nicht spielen. Einmal im Jahr, an der Älperchilbi, stand er auf einem mit Tannenzweigen geschmückten Schilter und trug Knittelverse zum Dorfgeschehen vor. Der grüne Reissack der Nidwaldner Tracht lag vor seinen Füssen. Das ganze Dorf jauchzte. Und es stimmte, was er zu mir gesagt hatte: Bei seinen Sprüchen lachten sie am lautesten. Am Ende durfte ich zu ihm auf den Wagen steigen, er winkte in die Menge und ich, mich fest an seine Hand klammernd, winkte ebenfalls.
Seine wahre Leidenschaft aber war die Jagd. Bei uns daheim hingen Schädel an den Wänden. Gämsen, Rehe, ein Steinbock. Auf der Kommode im Flur blickten sich ein Eichelhäher und ein Hermelin in die Augen.
„Was ist dein Lieblingstier?“, fragte mein Vater.
„Der Tiger.“
„Sehr gut.“
„Aber noch besser wäre ein Tiger mit Hörnern und Flügeln. Der wäre noch stärker.“ Vater lachte. Es sei wichtig, stark zu sein, sagte er. Wer die guten Rollen am Theater kriege und wer als Statist auf der Bühne stehe. Wer sein Land vergrößern könne und wer es dem Nachbarn abtreten müsse. Alles werde im Kampf entschieden. Bei der Jagd zeige sich das am deutlichsten. Er habe den Ferlacher Drilling und das Reh müsse schauen, dass es in Deckung bleibe. So einfach sei das. Ich nickte, aber ich war besorgt. Stark zu sein war nicht einfach, wenn man klein war und keine Muskeln hatte. Gab es eine Rauferei auf dem Pausenhof, sah ich immer nur zu.
Einige Zeit später brachte Vater einen Wolpertinger nach Hause. Ein Präparator hatte Hörner auf den Kopf eines jungen Fuchs geklebt und die Pfoten durch Vogelklauen ersetzt. An den Flanken die schwarzen Flügel eines Raben. Man konnte die Nähte sehen, das eine Horn stand schief und drohte vom Kopf zu fallen. Ich war begeistert und Vater nannte mich von da an „Wolpertinger“. Ich hatte schon immer „Bär“ zu ihm gesagt.
Auch die ersten Frauen, die ich sah, gehörten meinem Vater. Er kaufte sich Magazine. Schlüsselloch. Praline. Gelegentlich ein Playboy. Eigentlich sei ihm der zu sehr Hochglanz, sagte er zu meiner Mutter. Die Hefte ließ er auf dem Stubentisch liegen. War ich alleine, merkte ich mir die besten Seiten. Alle paar Monate schnürte Mutter die Hefte zusammen und brachte sie in den Keller, wo sie bis zur nächsten Altpapierabfuhr liegen blieben. Bevor es so weit war, rüstete ich mich mit Teppichmesser und Paketschnur aus und machte mich daran, die Bündel auszuschlachten. Ich schnitt die Frauen aus den Heften und bündelte diese wieder, so dass von außen nichts zu sehen war.
Ich hatte mir ein Fotoalbum gekauft, das ich zwischen den großformatigen Tierbüchern versteckte, die sich unter meinem Bett stapelten. Ich ging systematisch vor, schnitt die Bilder zurecht und testete mögliche Kombinationen. Auf den Seiten des Albums sollten keine Stellen frei bleiben, andererseits durfte nichts Wesentliches weggeschnitten werden. War ich mir bei einer Seite sicher, versah ich die Rückseite der Bilder mit vier Fotoecken und klebte sie so sorgfältig auf, wie mir das im Rahmen meiner Erregung möglich war. Nie gestaltete ich mehr als eine Doppelseite pro Tag, die Zeit bis zum nächsten Gang in den Keller sollte ausgefüllt bleiben. Am Ende hatte ich drei Alben, zwei rote und ein blaues. Jede Nacht sah ich mir die Bilder an.
Es war im späten September, kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag. Vater kochte Köpfe. Er häutete und entfleischte sie, ließ sie im Seifenwasser sieden, und bleichte sie danach mit Wasserstoffperoxid. Wir standen auf dem Balkon, auf dem Tisch lag der Schädel eines Rehs. Vater summte leise. Er hebelte die Augen des Tieres aus den Höhlen und durchtrennte die Sehnerven. Um ein Haupt zu schälen, sagte er, brauche man bloß ein sehr scharfes Messer anzusetzen und geschmeidig der Kontur des Knochens zu folgen. Wenn man ruhig atme und dabei nicht allzu viel nachdenke, dann gleite die Klinge gleichsam durch das Fleisch und werde niemals stumpf. Doch ich sah, dass er das Metall gegen den Knochen drückte, es schabte und rieb und knirschte. Vater schwitzte.
„Wo ist Mutter?“, fragte ich.
„Im Krankenhaus.“
„Schon wieder?“
„Musste sie heute Morgen nach Stans fahren. Sagt, sie kriege keine Luft. Oder das Herz. Wüsste sie, dass es eine Milz gibt, würde die ihr auch wehtun.“
Ich lachte, drehte mich zum Geländer und blickte nach oben. Es hatte zu regnen begonnen.
„Wir essen bei den Großeltern“, sagte Vater.
Mutter fühlte sich fast immer krank. Zwei Schubladen des Küchenschranks waren für ihre Medikamente bestimmt. Manchmal stand sie auf einmal in meinem Zimmer und sagte, sie könne nicht atmen. Sie griff sich an den Hals und schien in Panik zu sein. Dann legte sie sich auf den Boden und bevor ich etwas tun konnte, war der Spuk vorbei. Sie atmete tief ein und sagte, es sei alles in Ordnung und ich solle mir keine Sorgen machen. Aber das tat ich sowieso nicht. Vater hatte mir gesagt, das sei psychisch, sie wolle bloß Aufmerksamkeit.
Natürlich wusste ich, dass sie es nicht einfach hatte mit ihm. Einmal beobachtete ich heimlich, wie mein Vater ihr Haushaltsgeld gab. Mutter kniete auf dem Küchenboden, die Hände auf dem Rücken.
„Zählen“, sagte mein Vater.
„Dreihundert.“ Mutter hustete und Vater warf einen Hunderter unter den Küchentisch. Mutter robbte hin, drehte ihren Kopf und presste die Wange auf das Papier, so dass sie mit der Zunge die eine Ecke in ihren Mund schieben konnte. Dann biss sie zu und kroch mit der Beute unter dem Tisch hervor.
„Achthundert Franken. Jeden Monat. Und du schaffst es nicht, anständiges Essen aufzutischen“, sagte mein Vater. Den nächsten Schein warf er in die Spüle und ich ging leise zurück in mein Zimmer.
Wir standen also auf dem Balkon und Vater sagte, ich solle meine Hausaufgaben erledigen und übrigens könne es sein, dass wir nun öfter bei meinen Großeltern essen würden.
„Warum?“, fragte ich.
„Weil deine Mutter nicht mehr zurück nach Hause will.“ Ich sah ihn fragend an und er erklärte mir, meine Mutter könne es nicht ertragen, dass für uns Männer eine Frau nicht reiche. Ob ich verstehen könne, dass einem Bären ein Fisch am Tag nicht genüge?
„Ja“, sagte ich.
„Siehst du, deine Mutter kann es nicht verstehen und deshalb will sie nichts mehr mit uns zu tun haben.“
Danach ging Vater in die Küche, um Wasser für den Schädel aufzusetzen.
Das war der Tag, an dem meine Mutter uns verließ, und ich sah sie danach nur noch selten. Es war von Anfang an klar, dass ich bei meinem Vater wohnen blieb. Sie habe ein Myom im Bauch gehabt, so groß wie ein Salatkopf, sagte mir Mutter später, aber ich wusste nicht, ob das stimmte. Sie sagte auch, sie hätte sterben müssen, wenn sie bei meinem Vater geblieben wäre.
„Bei uns“, sagte ich. Aber das tat ich bloß, um sie zu ärgern, denn ich vermisste sie nicht.
Andere Frauen kamen und blieben höchstens eine Nacht. Ich verbrachte viel Zeit bei meinen Großeltern. Zwei Jahre vergingen. Dann erwachte ich.
Es war Frühling und ich besuchte die Premiere des Buochser Theaters. Vater spielte die Hauptrolle. An die Handlung kann ich mich nicht mehr erinnern, aber schon früh wurde von einem Mädchen gesprochen, das todgeweiht sei. Und auf einmal lag sie da, vorne auf der Bühne. Ihre Lippen waren schmal und blass, ihre Augen getaucht in Schmerz. Ich wollte aufspringen und rufen, man müsse dem Mädchen helfen. Ich war auf der Stelle in sie verliebt. Noch war mir nicht bewusst, wie sehr es mich erwischt hatte. Erst in der Nacht, als ich in meinem Bett lag, mir ihr Gesicht vorzustellen versuchte und mir einen runterholen wollte, merkte ich, dass da mehr war. Mein Ding blieb schlaff, ein Zeichen des Respekts und ein untrügliches Symptom aufrichtiger Liebe. Ich ging in die nächste Vorstellung, um Vera noch einmal spielen zu sehen. Mir war, als würde der Vorhang zu Beginn des zweiten Akts nur meinetwegen geöffnet, der schwere Samt gab den Blick frei und sie lag genauso da, wie ich es mir erhofft hatte. Doch dann geschah etwas, was mir bei der ersten Aufführung nicht aufgefallen war. Mein Vater beugte sich über sie und fasste sie an, legte seine Hand auf ihre Brust. Ich zuckte zusammen. Nach einer Weile beruhigte ich mich wieder und es gelang mir, mich ganz in ihren Anblick zu versenken.
Später feierte die Truppe in der Krone. Vater hielt eine seiner Reden über Schauspielkunst, während Vera auf einem Stuhl im hinteren Teil des Saals saß. Zweimal drehte sie ihren Kopf und lächelte mir zu. Hätte ich damals gewusst, dass sie fast zwei Jahre älter war als ich, mein Mut hätte mich verlassen. Auch so zögerte ich lange. Doch dann griff ich mit einem gut durchdachten Kompliment an.
Den Sommer über trafen wir uns fast jeden Tag. Wir lagen auf der Wiese, neben der die Engelberger-Aa in den Vierwaldstättersee mündet, träufelten uns Sonnenöl mit Kokosduft auf die Haut und hörten Musik, einander nahe und verbunden durch das kurze Kopfhörerkabel ihres Discmans. Danach gingen wir schwimmen, warfen uns fröstelnd die Badetücher über die Schultern und bedauerten den Untergang der Sonne. Ich sagte Vera, dass ich sie liebe. Sie lächelte und fragte, ob ich sicher sei.
An einem dieser Tage saßen wir auf der Quaimauer, schauten den Booten zu, die mit schlaffen Segeln und surrenden Motoren den Hafen ansteuerten, und Vera sagte, sie wolle Schauspielerin werden.
„Ah ja?“, fragte ich.
„Dein Vater meint, ich hätte Talent.“
„Wann hat er das gesagt?“
„Damals, während der Proben.“
Wir tranken Bier und küssten uns. Auf einmal griff sie zwischen meine Beine. Aber da waren noch andere Leute. Ich drehte mein Becken weg und sie sagte, das sei schade und sie habe sich wohl zu viel davon versprochen, mit einem Sechzehnjährigen abzuhängen.
Das nächste Mal, als ich sie sah, blickte ich auf ihren nackten Hintern. Als sie mich bemerkte, drehte sie ihren Oberkörper und lächelte mich an. Mein Vater hob sie an, zog seinen Schwanz aus ihr und schwieg. Es war vereinbart, dass ich bei meinen Großeltern übernachten sollte, aber ich hatte mich umentschieden. Vielleicht hatte ich auch etwas geahnt, ich kann es nicht mehr sagen, ich erinnere mich nur noch an wenige Dinge. Rote Flecken auf Veras Gesicht, Schweißperlen auf ihrer Stirn. Wie mein Vater nach seinem Bademantel greift.
Natürlich dachte ich an das Jagdgewehr. Es stand im Schrank, gleich im Wohnzimmer. Und später griff ich in meinem Geist immer wieder danach. Schob die Schrotpatrone in den Drilling. Schoss ihm zwischen die Augen. Aber an diesem Abend stand ich bloß da, sagte nichts und tat nichts. Schließlich drehte ich mich um und ging zu meinen Großeltern.
Dort, wo ich jetzt bin, spricht man viel darüber, wer man ist und woher man kommt. Psychogelaber, würde Vater sagen. Man stellt mir Fragen, die ich nicht beantworten kann. Weshalb ich bei meinem Vater geblieben sei, obwohl ich wusste, wie er meine Mutter behandelte? Was ich empfinde, wenn ich an meine Mutter denke? Was, wenn ich mir Vera vorstelle? Der Mensch sei ein Mysterium, sage ich dann, und ich mir selbst das größte. Neulich sollten wir das Tier zeichnen, das uns am meisten entspricht. Ich malte den Wolpertinger. Unbeholfen zusammengekleistert aus Teilen, die in keiner Beziehung zueinander stehen. Ein Monstrum. Als Rumpf zeichnete ich den kräftigen Leib eines Bären.